Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 25.08.2010

LArbG Baden-Württemberg: funktionszulage, treu und glauben, vergütung, tarifvertrag, arbeitsgericht, abrede, bestandteil, verrechnung, fax, original

LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 25.8.2010, 13 Sa 37/10
Anrechnung tariflicher Entgelterhöhungen auf eine individualvertraglich vereinbarte außertarifliche Zulage - ETV-ERA
Leitsätze
Soweit es im konkreten Einzelfall individualvertraglich unzulässig ist, tarifliche Entgelterhöhungen auf außertarifliche Zulagen anzurechnen, wird
dies auch nicht durch die Regelung in § 4.3.3 ETV-ERA zulässig.
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 12.02.2010 (3 Ca 168/09) wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über vom Kläger geltend gemachte Ansprüche auf Zahlung einer Zulage, die von der Beklagten anlässlich der Einführung
des Entgeltrahmen-Tarifvertrages für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg vom 16.09.2003 (ERA-TV)
teilweise gekürzt wurde.
2
Der am 00.00.1949 geborene Kläger arbeitet seit 09.07.1979 bei der Beklagten, einem international tätigen Unternehmern, welches
insbesondere Elektroschalter herstellt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die Tarifverträge für Beschäftigte der Metall- und
Elektroindustrie in Nordwürttemberg / Nordbaden Anwendung.
3
Bis Ende Oktober 2004 arbeitete der Kläger als Maschineneinrichter in Wechselschicht. Er erhielt Vergütung nach Lohngruppe 9 des damals
geltenden Lohntarifvertrages und eine Wechselschichtzuschläge. Auf Initiative der Beklagten kam es zu Gesprächen mit dem Kläger, ob dieser
künftig nicht als Vorarbeiter tätig sein wolle. Ein Hauptthema dieser Gespräche war die Vergütung. Die Beklagte teilte dem Kläger mit, dass er
nach Einarbeitung in seine neue Tätigkeit in eine höhere Lohngruppe eingruppiert werden könne, er dann aber als Vorarbeiter nur noch in
Normalschicht arbeiten werde, wodurch die Wechselschichtzuschläge entfielen. Der Kläger wies anlässlich dieser Gespräche darauf hin, dass er
nicht bereit sei, auf seine zum damaligen Zeitpunkt bereits tarifvertraglich altersgesicherten Schichtzuschläge zu verzichten, da sonst die neue
Tätigkeit für ihn finanziell völlig uninteressant sei.
4
Die Beklagte ließ daraufhin die bisherigen durchschnittlichen Schichtzuschläge des Klägers errechnen, die bei EUR 320,00 pro Monat lagen und
teilte ihm mit, dass sie bereit sei, zum Ausgleich dieser Schichtzuschläge monatlich EUR 320,00 zusätzlich zu vergüten. Die Parteien erwogen
verschiedene Varianten einer Vertragsänderung (vgl. Akten 1. Instanz Bl. 44, 59; I/44, 59). Der Kläger nahm Rücksprache mit dem bei der
Beklagten bestehenden Betriebsrat, der dem Kläger mitteilte, dass die Zulage auch altersgesichert sein müsse, da sie sonst nicht auf Dauer
sicher sei.
5
Die Parteien verständigten sich schließlich auf eine Änderung des bisherigen Arbeitsvertrages des Klägers. In der diesbezüglichen Anhörung
des Betriebsrates hierzu vom 20.10.2004 (vgl. I/36) heißt es:
6
"Antrag auf Änderung der Arbeitszeit
Bisherige Arbeitszeit: Mo.-Fr. 6.00-14.00/14.00-22.00 Stunden/Tag: 8,00
Neue Arbeitszeit: Mo.-Fr. 6.30-14.30 Stunden/Tag: 8,00
Für die Zeit vom: ab November 2004
Grund der Änderung:
Für die Tätigkeit von Herrn L. wurde eine neue Arbeitsplatzbeschreibung erstellt, die bereits im Gespräch mit Herrn L. erläutert wurde. Danach wird Herr L. so
arbeiten, dass der optimale Schichtbetrieb in der Fertigung Metall sicher gestellt ist. Zeichnen sich Problemfelder ab, so ist Herr L. nach Zustimmung der
Abteilungsleitung bereit freiwillig seine neue Arbeitszeit im Bereich von +/-3 Stunden variabel zu gestalten (keine Gleitzeitregelung!).
Durch diese Maßnahme bleibt die Entlohnung unverändert, zum Ausgleich für sonst entstehende Nachteile erhält Herr L. allerdings eine Funktionszulage in
Höhe seiner gemittelten Schichtzuschläge entsprechend den §§ 6.3.1.1 ff in Höhe von 320,-- EUR."
7
Die so genannte Funktionszulage wurde dem Kläger ab November 2004 bis September 2008 monatlich in der gleichbleibenden Höhe von EUR
320,00 brutto gezahlt. Ab 01.07.2005 wurde der Kläger von der Lohngruppe 9 in die Lohngruppe 10 hochgestuft.
8
Zum 01.10.2008 wurde bei der Beklagten der ERA-TV eingeführt, wozu es einen Einführungstarifvertrag für die Beschäftigten in der Metall- und
Elektroindustrie in Baden-Württemberg vom 16.09.2003 (ETV-ERA) gibt. Der Kläger, der nach wie vor als Vorarbeiter in Normalschicht arbeitet,
ist ein so genannter "Unterschreiter" im Sinne von § 4.3 ETV-ERA. Mit Schreiben vom 29.08.2008 (vgl. I/8) teilte die Beklagte dem Kläger die
neue Zusammensetzung seines Gehalts ab 01.10.2008 wie folgt mit:
9
Bisherige Einstufung LG/GG 10 EUR
Einstufung nach ERA EG 8 EUR
Lohn-/Gehalt 2.447,25
Leistungszulage 30,00 % 734,18
Verdienstsicherung
Grundentgelt 2.559,50
Leistungsentgelt 28,12% 730,98
Tarifentgelt 3.181,43
Außertarifliche Zulagen 320,00
Ausgleichszulage
Ausgleichsbetrag
Tarifentgelt 3.330,48
Außertarifliche Zulagen 170,95
Summe Entgelt vor ERA 3.501,43
Summe Entgelt ab ERA 3.501,43
10 Ab dem Monat Oktober 2008 zahlte die Beklagte an den Kläger nur noch eine "ERA-freiw. Zulage" (vgl. Abrechnungen I/9 ff.) in Höhe von
monatlich EUR 170,95 brutto.
11 Mit seiner am 22.06.2009 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 24.06.2009 zugestellten Klage, sowie einer am 10.09.2009
eingegangenen und am 17.09.2009 zugestellten Klageerweiterung macht der Kläger - nach erfolgloser außergerichtlicher Zahlungsaufforderung
mit Schreiben vom 12.12.2008 (vgl. I/6) - gegenüber der Beklagten für die Monate Oktober 2008 bis August 2009 eine monatliche Lohndifferenz
von EUR 149,05 brutto wegen einer nach seiner Ansicht unzulässigen Kürzung der außertariflichen Zulage geltend.
12 Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen, die von der Beklagten vorgenommene Kürzung der Funktionszulage sei mit den tariflichen
Regelungen nicht vereinbar. Die Funktionszulage von monatlich EUR 320,00 sei kein "tariflicher Bestandteil", so dass eine Verrechnung nach §
4.3.1 ETV-ERA nicht möglich sei. Der Kläger habe aufgrund seiner neuen Tätigkeit als Vorarbeiter in Normalschicht gerade keinen tariflichen
Anspruch auf Schichtzuschläge mehr gehabt. Die individuelle Vereinbarung der Parteien über eine Funktionszulage habe dem Kläger aber
diesen Zahlungsanspruch erhalten sollen. Auch eine Verrechnung nach § 4.3.3 ETV-ERA scheide aus, da es sich um eine bereits
altersgesicherte Zulage handele, die nicht mehr einzeln gekürzt werden könne. Sie unterliege der Verdienstsicherung, was die Parteien bei der
Vereinbarung der Funktionszulage auch ausdrücklich so geregelt hätten. Die Beklagte habe dem Kläger im Jahr 2004 sogar ausdrücklich erklärt,
dass diese Zahlung von monatlich EUR 320,00 solange er die geänderte Tätigkeit ausübe immer so bestehen bleibe, sie nicht an
Tariflohnerhöhungen teilnehme, sie aber auch nicht angerechnet werden könne.
13 Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt:
14
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 1.192,40 brt. nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit
Klagezustellung zu bezahlen.
15
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 447,15 brt. nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus
EUR 149,05 seit dem 01.07.2009, aus weiteren EUR 149,05 seit dem 01.08.2009 und aus weiteren EUR 149,05 seit dem 01.09.2009 zu
bezahlen.
16 Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,
17
die Klage abzuweisen.
18 Die Beklagte hat erstinstanzlich vorgetragen, entgegen der Auffassung des Klägers sei die ihm gewährte außertarifliche Funktionszulage in Höhe
von EUR 320,00 mit dem negativen Ausgleichsbetrag als Unterschreiter gemäß § 4.3.3 Satz 1 ETV-ERA zu verrechnen. Die Verrechnung sei
gemäß § 4.3.3. Satz 2 ETV-ERA unabhängig davon vorzunehmen, dass die Funktionszulage im November 2004 gegebenenfalls als Bestandteil
der Alterssicherung definiert worden sei. Abgesehen davon greife die tarifliche Alterssicherung nicht ein, da es sich bei der Funktionszulage nicht
um einen tariflichen Anspruch handele. Die ERA-Bewertung der dem Kläger übertragenen Arbeitsaufgabe erfasse auch die in der
Funktionszulage steckende Wertung, so dass sie im Übrigen auch nach § 4.3.1 ETV-ERA zu verrechnen sei, wenn es sich nicht um eine
außertarifliche Zulage handeln würde. Der Übergang des Klägers von Wechsel- in Normalschicht habe nichts mit einer altersbedingten
Leistungsminderung des Klägers zu tun, so dass auch nach Sinn und Zweck der tariflichen Alterssicherung eine Anrechnung der
Funktionszulage im Rahmen der Umstellung auf den ERA-TV in Betracht komme. Die Umstellung auf den ERA-TV sei keine Tariflohnerhöhung,
sondern eine Neubewertung der Tätigkeit. Es sei nicht erkennbar, dass die Parteien die Anrechnung der freiwilligen Zulage für einen solchen
Fall der Umstellung des tariflichen Bewertungssystems hätten ausschließen wollen.
19 Das Arbeitsgericht hat mit einem am 12.02.2010 verkündeten Urteil nach den Klageanträgen erkannt. Bereits aus dem unstreitigen Vorbringen
der Parteien folge, dass die so genannte Funktionszulage dem Kläger nur deshalb gewährt worden sei, weil er anderenfalls nicht bereit gewesen
sei, die Tätigkeit als Vorarbeiter zu übernehmen. Es handele sich um eine frei ausgehandelte individuelle Zulage, wegen des Wegfalls der
bisherigen Schichtzuschläge und nicht um eine Funktionszulage im eigentlichen Sinne, die im Zuge der Höhergruppierung des Klägers im Juli
2005 hätte gekürzt werden müssen. Die Beklagte habe diese Zulage auch nie auf Tariflohnerhöhungen angerechnet und setze sich mit ihrem
jetzigen Vorgehen in Widerspruch zu ihrem bisherigen Verhalten. Die Auslegung der Vereinbarung vom 20.10.2004 ergebe, dass der Kläger die
frei ausgehandelte Zulage stets zusätzlich zu seinem Tarifentgelt erhalten solle, so dass es auf die Überleitungsvorschriften des ETV-ERA und
Sinn und Zweck der Altersverdienstsicherung nicht ankomme.
20 Das Urteil des Arbeitsgerichts wurde der Beklagten am 22.02.2010 zugestellt. Hiergegen wendet sie sich mit ihrer Berufung, die am 17.03.2010
(Fax) / 18.03.2010 (Original) beim Landesarbeitsgericht eingegangen ist und innerhalb verlängerter Frist mit einem am 25.05.2010 (Fax,
Dienstag nach Pfingsten) / 26.05.2010 (Original) begründet wurde.
21 Die Beklagte trägt vor, das Arbeitsgericht habe verkannt, dass die von der Beklagten vorgenommene Anrechnung der außertariflichen Zulage
aus Anlass der Umstellung auf den ERA-TV auf Grundlage von § 4.3.3 ETV-ERA wirksam habe vorgenommen werden können. Nach dem Willen
der Tarifvertragsparteien solle es diese Bestimmung ermöglichen, bisher von einem Arbeitgeber gewährte nicht-tarifliche Bestandteile mit einem
negativen Differenzbetrag zu verrechnen und damit die bisherige Entgeltstruktur durch eine neue tarifliche Entgeltstruktur abzulösen. Die
Neubewertung der Tätigkeiten durch den ERA-TV wirke sich im vorliegenden Fall wie eine Erhöhung des Tarifentgelts aus. Für diesen Umstand
sei die Anrechnung außertariflicher Bestandteile anerkannt, auch ohne ausdrücklichen Anrechnungsvorbehalt. Auch das Unterlassen von
Anrechnungen in der Vergangenheit wirke sich nicht zu Gunsten des Klägers aus. Eine Anrechnung sei auch nicht aufgrund einer Vereinbarung
der Parteien ausgeschlossen. Solches sei auch nicht dem Schreiben vom 20.10.2004 (vgl. I/36) und dem dort offenbar gemeinten Hinweis auf
die Altersverdienstsicherungsregelungen zu entnehmen.
22 Die Beklagte beantragt:
23
Das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 12.02.2010 - 3 Ca 168/09 wird abgeändert und die Klage abgewiesen.
24 Der Kläger beantragt,
25
die Berufung zurückzuweisen.
26 Der Kläger verteidigt das mit der Berufung angegriffene Urteil. Die Auslegung der Vereinbarung vom 20.10.2004 durch das Arbeitsgericht sei
nicht zu beanstanden. Es handele sich um eine individuelle Zulage, die nicht auf Tariflohnerhöhungen angerechnet werden könne. Die
Anrechnungsregelung des § 4.3.3 ETV-ERA sei durch die Tarifvertragsparteien bewusst wegen der rechtlichen Problematik von
Anrechnungssachverhalten als bloße "Sollvorschrift" vereinbart worden. Ein Tarifvertrag könne nicht verbindlich festlegen, dass vereinbarte
übertarifliche Lohnbestandteile auf tarifliche Lohnerhöhungen anzurechnen seien. Eine Anrechnung scheide auch deshalb aus, da insoweit ein
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bestehe und dieser von der Beklagten nicht beteiligt worden sei.
27 Im Übrigen wird hinsichtlich des Vortrags der Parteien auf die zwischen ihnen in beiden Rechtszügen gewechselten Schriftsätze und Anlagen
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
28 Die Berufung der Beklagten ist zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 600,00 übersteigt, § 64 Abs. 2 Buchstabe b ArbGG. Die
Berufung ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG in Verbindung mit §§ 519,
520 ZPO.
II.
29 Die Berufung der Beklagten ist aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht dem Kläger für die Monate Oktober 2008 bis August 2009
eine weitere monatliche Vergütung von jeweils EUR 149,05 brutto zuzüglich Zinsen zugesprochen, da die Beklagte nicht berechtigt war, die mit
dem Kläger seit Oktober 2004 vereinbarte Funktionszulage von monatlich 320,00 brutto zu kürzen, sie insbesondere auf tarifliche Ansprüche
teilweise anzurechnen.
30 1. Die Anrechnung tariflicher Entgelterhöhungen auf außertarifliche Zulagen ist nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
(vgl. hierzu BAG 8. Dezember 1982 - 4 AZR 481/80 - AP TVG § 4 Nr. 15; BAG 22. September 1992 - 1 AZR 405/90 - BAGE 71, 180 ff.; BAG 23.
März 1993 - 1 AZR 520/92 - BAGE 72, 367 ff.; BAG 7. Februar 1995 - 3 AZR 402/94 - AP TVG § 4 Verdienstsicherung Nr. 6; BAG 7. Februar 1996 -
1 AZR 657/95 - BAGE 82, 47 ff.), der sich die erkennende Kammer anschließt, in folgender Weise möglich:
31 a) Der Arbeitgeber kann übertarifliche Zulagen im Falle einer Tariflohnerhöhung grundsätzlich auf den Tariflohn anrechnen, es sei denn, dass
dem Arbeitnehmer aufgrund einer vertraglichen Abrede die Zulage als selbständiger Lohnbestandteil neben dem jeweiligen Tariflohn zustehen
soll (vgl. BAG 28. Oktober 1964 - 4 AZR 266/63 - AP Nr. 8 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG 11. August 1965 - 4 AZR
187/64 - AP Nr. 9 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG 19. Juli 1978 - 5 AZR 180/77 - AP Nr. 10 zu § 4 TVG
Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG 22. August 1979 - 5 AZR 769/77- AP Nr. 11 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und
Tariflohnerhöhung; BAG vom 4. Juni 1980 - 4 AZR 530/78 - AP Nr. 13 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG 15, 110 = AP
Nr. 7 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG Urteil vom 10. März 1982 - 4 AZR 540/79). Hierbei kann sich eine
stillschweigende Vereinbarung der Zulage zum jeweiligen Tariflohn auch aus einer betrieblichen Übung, den besonderen Umständen bei den
Vertragsverhandlungen oder dem Zweck der Zulage ergeben, z. B. bei einer Leistungszulage (vgl. BAGE 18, 22 = AP Nr. 1 zu § 4 TVG Tariflohn
und Leistungsprämie). Diese Grundsätze gelten selbst dann, wenn die übertarifliche Zulage über einen längeren Zeitraum ("jahrelang")
vorbehaltlos zum Tariflohn gezahlt und bisher niemals mit Tariflohnerhöhungen verrechnet wurde (BAG 4. Juni 1980 - 4 AZR 530/78- AP Nr. 13
zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung). Ein solches tatsächliches Verhalten des Arbeitgebers genügt nicht für die Annahme
einer betrieblichen Übung, nach der übertarifliche Lohnzulagen auch künftig zum jeweiligen Tariflohn zusätzlich gezahlt werden sollen. Die
jahrelange vorbehaltlose Zahlung einer übertariflichen Zulage zum jeweiligen Tariflohn lässt auch unter Berücksichtigung der Grundsätze von
Treu und Glauben noch nicht auf einen rechtsgeschäftlichen Willen des Arbeitgebers schließen, damit für alle Zukunft den gegenwärtigen
übertariflichen Lohnbestandteil unverändert zum jeweiligen Tariflohn weiterzahlen zu wollen. Um einen entsprechenden Vertrauenstatbestand
auszuschließen, bedarf es bei der Gewährung einer übertariflichen Zulage auch keines Vorbehalts bezüglich der Weitergewährung bei einer
Tariflohnerhöhung.
32 b) Eine Anrechnung ist aber ausgeschlossen, wenn dem Arbeitnehmer aufgrund einer vertraglichen Abrede die Zulage als selbständiger
Lohnbestandteil neben dem jeweiligen Tariflohn zustehen soll (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. 13. November 1963 - 4 AZR 25/63 -
BAGE 15, 110, 114 f. = AP Nr. 7 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG 28. Oktober 1964 - 4 AZR 266/63 - AP Nr. 8 zu § 4
TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG 19. Juli 1978 - 5 AZR 180/77 - AP Nr. 10 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und
Tariflohnerhöhung; BAG 8. Dezember 1982 - 4 AZR 481/80 - AP Nr. 15 zu § 4 TVG Übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung; BAG 22.
September 1992 - 1 AZR 405/90 - AP Nr. 55 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu I 1 der Gründe; BAG 7. Februar 1995 - 3 AZR 402/94 - AP
TVG § 4 Verdienstsicherung Nr. 6) und sich der Arbeitgeber eine Anrechnung oder einen Widerruf nicht ausdrücklich vorbehält (vgl. BAG 23.
März 1993 - 1 AZR 520/92 - BAGE 72, 367 ff.). Allein in der tatsächlichen Zahlung einer solchen Zulage kann noch keine derartige vertragliche
Abrede erblickt werden. Sie kann sich allerdings durch Vertragsauslegung ergeben, vor allem wenn die Zulage für einen vom Tariflohn nicht
erfassten Zweck, z. B. als Erschwernis-, Leistungs-, Funktions-, Familienzulage oder aus einem anderen eigenständigen Grunde gewährt wird.
33 2. Nach diesem Maßstab handelt es sich bei der zwischen den Parteien im Jahr 2004 vereinbarten "Funktionszulage" in Höhe von monatlich
EUR 320,00 brutto um eine außertarifliche Zulage, die "tariffest" beziehungsweise "tarifbeständig" ist und von der Beklagten nicht im Rahmen von
Tariferhöhungen durch Anrechnung gekürzt werden kann.
34 a) Die dem Kläger von der Beklagten gewährte "Funktionszulage" ist eine außertarifliche Zulage. Ein Anspruch des Klägers hierauf ergibt sich
nicht aus tarifvertraglichen Regelungen. Insbesondere führt der Umstand, dass der Kläger von der Beklagten seit dem Jahr 2004 als Vorarbeiter
beschäftigt wird, nicht zu einem Anspruch auf diese Zulage, die im Tarifvertrag nicht vorgesehen ist. Vielmehr handelt es sich bei dieser Zulage
um einen zwischen den Parteien frei ausgehandelten, tarifvertraglich nicht geregelten Vergütungsbestandteil, der von der Beklagten an den
Kläger gezahlt wird, damit er die Vorarbeiterstellung in Normalschicht übernahm, obwohl ihm dadurch tarifvertragliche Ansprüche auf
Schichtzulage entgingen. Die Höhe der zwischen den Parteien vereinbarten außertariflichen Zulage knüpft zwar an die dem vormals in
Wechselschicht arbeitenden Kläger damals tariflich zustehenden Schichtzuschläge an, macht die "Funktionszulage" selbst aber nicht zu einer
tarifvertraglichen Zulage. Vielmehr steht die Vereinbarung der Parteien gerade vor dem Hintergrund, dass es für eine solche Zahlung an einer
tarifvertraglichen Grundlage fehlt. Inzwischen sehen auch beide Parteien die "Funktionszulage" als außertarifliche Zulage an, was die Beklagte
im Rahmen ihrer Gegenüberstellung der Vergütungsbestandteile bei der ERA-Einführung auch ausdrücklich so bezeichnet hat.
35 b) Klarstellend ist hervorzuheben, dass die von der Beklagten durchgeführte Anrechnung die Konstellation einer Anrechnung bei
Tariflohnerhöhung betrifft. Zwar handelt es sich nicht um den häufig vorkommenden Fall einer bloßen Erhöhung der Tabellenwerte der
Vergütung in einem Tarifvertrag, sondern um die Einführung eines neuen Tarifvertragswerks. Die insoweit vorgenommene Bewertung der
Tätigkeiten im Rahmen der Einstufung wirkt sich für den Kläger als "Unterschreiter" im Sinne von § 4.3 ETV-ERA aber als Tariflohnerhöhung aus.
Seine Tätigkeit hat sich gerade nicht geändert. Diese wird nur im Rahmen des neuen Tarifvertrages mit einem höheren tariflichen Entgelt
vergütet. Dies hat auch die Beklagte selbst anlässlich der Gegenüberstellung von alter und neuer Vergütung nach Einführung des ERA-TV zum
Ausdruck gebracht (vgl. I/8), wonach das Grundentgelt nach der ERA-Einführung für die selbe Tätigkeit höher ist, als der Lohn nach der dem
bisherigen Tarifvertragswerk. Im Rahmen ihres Berufungsbegründungsschriftsatzes hat sich die Beklagte diese Auffassung auch selbst zu Eigen
gemacht und gibt an, dass die ERA-Einführung in Fällen wie dem des Klägers wie eine Erhöhung seines Tarifentgelts wirke.
36 c) Die Beklagte ist individualvertraglich nicht zu einer Kürzung beziehungsweise Anrechnung der mit dem Kläger vereinbarten Zulage berechtigt,
da sie sich eine Anrechnung unstreitig gegenüber dem Kläger nicht vorbehalten hat und sie auch nicht nach allgemeinen Grundsätzen hierzu
befugt wäre. Die mit dem Kläger im Jahr 2004 vereinbarte "Funktionszulage" ist ein selbständiger Lohnbestandteil, der dem Kläger neben dem
jeweiligen Tariflohn zustehen soll. Sie ist neben der tariflichen Vergütung als ein eigenständiger Betrag ausgewiesen und dient einem vom
Tarifvertrag nicht erfassten Zweck, nämlich der Kompensation bestimmter Nachteile bei der Übernahme einer höherwertigen Tätigkeit. Die
Tätigkeit des Klägers als Vorarbeiter wurde bei der Höhergruppierung im Jahr 2005 berücksichtigt. Die dem Kläger daneben zusätzlich gewährte
Zulage hatte den Zweck, bei ihm Bereitschaft für diese Tätigkeit zu wecken, obwohl er nach den Vorstellungen der Beklagten als Vorarbeiter in
Normalschicht arbeiten sollte, wodurch ihm bisher bezogene tarifliche Schichtzuschläge entgingen. Die Zulage hat damit einen absolut
individuellen Zweck, der außerhalb der Tarifsystematik steht, nämlich einen Arbeitnehmer von der Übernahme einer Vorarbeiterstellung zu
überzeugen und ihm dabei entstehende Nachteile durch Wegfall bestimmter tariflicher Leistungen auszugleichen. Eine solche - im Übrigen
unstreitige - Zweckbestimmung stellt ein konkludentes Anrechnungsverbot dar (vgl. Thüsing in Henssler, Willemsen, Kalb, Arbeitsrecht
Kommentar, 4. Auflage 2010, § 611 BGB Rn. 541; Schaub in Arbeitsrechts-Handbuch, 13. Auflage 2009, § 204 Rn. 44). Dies wird durch die
Entstehungsgeschichte der Vereinbarung noch zusätzlich unterstrichen. In einem Entwurf der Beklagten für eine Regelung (vgl. I/59) hieß es
ursprünglich:
37
"Die Entlohnung bleibt unverändert, allerdings erhält Herr L. eine freiwillige Zulage in Höhe seiner gemittelten Schichtzuschläge. Diese
Zulage bleibt unverändert bestehen, solange Herr L. in dieser Funktion tätig ist."
38 Nach Rücksprache mit dem Betriebsrat ist dann auf Wunsch des Klägers die Formulierung gefunden worden, die die Bezeichnung
"Funktionszulage" und einen groben Verweis auf tarifvertragliche Vorschriften zur Verdienstsicherung im Alter enthält, wenn es auch "§§ 6.3.1.1
ff" im entsprechenden Manteltarifvertrag nicht gibt (die Alterssicherung ist allerdings in § 6 MTV geregelt). Beide Parteien wollten demnach eine
Regelung treffen, wonach die dem Kläger gewährte Zulage in seiner Funktion als Vorarbeiter dauerhaft bestehen bleibt und dies auch für die
Zukunft - wenn auch möglicherweise mit unbeholfenen Mitteln - abgesichert werden sollte. Angesichts dessen ist eine Anrechnung der Zulage
mit Tariflohnerhöhungen ausgeschlossen, da dem Kläger diese Zulage gerade unabhängig von tarifvertraglichen Ansprüchen dauerhaft
zustehen sollte.
39 3. Die von der Beklagten vorgenommene Anrechnung wird auch nicht durch die Regelungen in § 4.3 ETV-ERA zulässig.
40 a) Die Beklagte kann sich nicht auf die Regelung in § 4.3.1 ETV-ERA berufen, wonach bei Unterschreitern in die Berechnung nach § 4.2 ETV-
ERA nicht einbezogene tarifliche Bestandteile mit der dort ermittelten Differenz verrechnet werden, wenn sie durch die ERA-Einführung entfallen.
Die zwischen den Parteien individualvertraglich vereinbarte "Funktionszulage" ist gerade kein "tariflicher Bestandteil" der Vergütung des Klägers,
wie oben bereits ausgeführt wurde.
41 b) Die Beklagte kann sich auch nicht auf die Regelung in § 4.3.3 ETV-ERA berufen, wonach mit einer verbleibenden Differenz bisher gewährte
übertarifliche Verdienste verrechnet werden sollen. Die zwischen den Parteien vereinbarte "Funktionszulage" ist zwar ein "übertariflicher
Verdienst". Die Möglichkeit seiner Anrechnung richtet sich aber allein nach den oben beschriebenen individualvertraglichen Grundlagen und
kann nicht durch Tarifvertrag für zulässig erklärt werden. Sonst würde es sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
(vgl. BAG 14. Februar 1968 - 4 AZR 275/67 - BAGE 20, 308; BAG 18. August 1971 - 4 AZR 342/70 - BAGE 23, 399 ff.; BAG 16. September 1987 -
4 AZR 265/87 - BAGE 56, 120 ff.), der sich die erkennende Kammer anschließt, um eine unzulässige so genannte Effektivlohnklausel handeln.
42 aa) Vereinbarte übertarifliche Lohnbestandteile können nicht mit Hilfe tariflicher Effektivklauseln abgebaut werden, indem ein Tarifvertrag
bestimmt, dass sie auf tarifliche Lohnerhöhungen anzurechnen sind. Denn soweit nach der arbeitsvertraglichen Abrede, wie sie hier festgestellt
worden ist, ein übertariflicher Lohnbestandteil auch im Falle einer Tariflohnerhöhung weiter zu zahlen ist, bleibt eine solche günstigere Regelung
bestehen. Ein Tarifvertrag kann sie nicht beseitigen, da er nur Mindestlöhne und keine Höchstlöhne festsetzen kann (§ 4 Abs. 3 TVG). Die Frage,
ob ein Arbeitnehmer Anspruch auf Fortzahlung eines übertariflichen Lohnbestandteils auch neben dem erhöhten Tariflohn hat, ist allein aus den
einzelvertraglichen Abmachungen zu beantworten.
43 bb) Diesen Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts haben auch die Tarifvertragsparteien im Rahmen von § 4.3.3 ETV-ERA
Rechnung getragen, wonach die Anrechnung übertariflicher Verdienste erfolgen "soll", also stattzufinden hat, soweit (rechtlich, insbesondere
individualvertraglich) möglich. Wie oben aber bereits dargelegt, ist im vorliegenden Fall individualrechtlich eine Anrechnung der mit dem Kläger
vereinbarten "Funktionszulage" auf erhöhte Vergütung nach dem ERA-TV nicht möglich.
III.
44 Die Beklagte hat die Kosten ihrer erfolglosen Berufung zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision nicht zugelassen,
weil die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG nicht erfüllt sind.