Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 10.11.2004

LArbG Baden-Württemberg: wohlerworbene rechte, rückwirkung, tarifvertrag, arbeitsgericht, vertrauensschutz, stundung, auszahlung, betriebsrat, erfüllung, entstehung

LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 10.11.2004, 13 Sa 82/03
Tarifvertrag - rückwirkende Verschlechterung - Vertrauensschutz
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts
Mannheim, Kammern Heidelberg vom 20.08.2003 – 10 Ca 110/03
– wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Klägerin fordert von der Beklagten 1.295,23 EUR brutto als restlichen Tariflohn für Januar 2003.
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Durch das der Beklagten am 31.10.2003 zugestellte Urteil vom 20.08.2003, auf das zur näheren Sachverhaltsdarstellung Bezug genommen wird,
hat das Arbeitsgericht die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 1.295,23 EUR brutto nebst Zinsen zu bezahlen.
3
Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, der Anspruch der Klägerin auf Zahlung des in Höhe des Weihnachtsgeldes zurückbehaltenen
Tariflohns für Januar 2003 sei nicht durch den Sanierungstarifvertrag vom 13.02.2003 erloschen. Zum einen erfasse der rückwirkend zum
01.02.2003 in Kraft getretene Sanierungstarifvertrag bereits zeitlich das Januarentgelt nicht. Zum anderen wäre eine Rückwirkung des
Tarifvertrags auf das Januarentgelt unwirksam, weil eine solche Rückwirkung gegen den Vertrauensgrundsatz verstoßen würde. Die Klägerin
habe nicht damit rechnen müssen, daß trotz bereits erbrachter Arbeitsleistung nachträglich ihr Lohn für Januar teilweise in Wegfall komme.
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Die Parteien haben im Berufungsverfahren unstreitig gestellt, daß es Anfang Februar 2003 zu einer spontanen Versammlung im Betrieb der
Beklagten gekommen ist, bei der die Betriebsführung die Belegschaft vor die Alternative gestellt hat, daß der Betrieb wohl geschlossen werden
müsse, wenn nicht auf das Weihnachtsgeld nachträglich verzichtet werde. Bei einer dort durchgeführten Abstimmung hat sich die Mehrzahl der
Mitarbeiter für einen Verzicht ausgesprochen. Im Anschluß an diese Versammlung kam es dann zu den Verhandlungen über den
Sanierungstarifvertrag, der am 13.02.2003 unterzeichnet wurde.
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Die Beklagte macht zur Begründung ihrer am 13.11.2003 eingegangenen und nach entsprechender Verlängerung der
Berufungsbegründungsfrist am 02.02.2004 begründeten Berufung geltend, die Regelung des Sanierungstarifvertrags, wonach die Restzahlung
der wegen der vollen Auszahlung des Weihnachtsgeldes 2002 gekürzten Löhne ersatzlos entfalle, habe auch das zurückgehaltene
Januarentgelt erfaßt. Die Geltungsdauer des Tarifvertrags vom 01.02.2003 bis 31.12.2003 habe sich nur auf den Ausschluß betriebsbedingter
Kündigungen und die in Ziffer 3 des Tarifvertrags festgelegte Kürzung der laufenden Löhne und Gehälter bezogen.
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Der Tarifvertrag habe auch nicht gegen den Vertrauensgrundsatz verstoßen. Wirtschaftlich sei mit dem Sanierungstarifvertrag lediglich in eine
künftige, noch nicht fällige Position eingegriffen worden. Aufgrund der mit dem Betriebsrat getroffenen Vereinbarung vom 18.12.2002 zum
Weihnachtsgeld 2002 hätte die Beklagte den von der Januarvergütung einbehaltenen Betrag mit dem Februargehalt ausbezahlen und das
Februarentgelt entsprechend kürzen können, wobei dieser Kürzungsbetrag dann aufgrund des Sanierungstarifvertrags ersatzlos entfallen wäre.
Bei einem solchen Verfahren hätte keine Rückwirkung vorgelegen. Der Umstand, daß von dem bürokratischen Procedere der Übertragung in
den März abgesehen worden sei, könne einen Vertrauensschutz nicht auslösen. Die Klägerin habe damit rechnen müssen, daß in Höhe des
Weihnachtsgeldes eine Kürzung der Lohn- und Gehaltsansprüche in den jeweiligen Folgemonaten realisiert werde. Dies sei im Betrieb
allgemein bekanntgegeben worden.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Arbeitsgerichts Mannheim – Kammern Heidelberg – vom 20.08.2003 (Az. 10 Ca 110/03) wie folgt
abzuändern:
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Die Klage wird abgewiesen.
10 Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
12 Die Klägerin trägt vor, die von der Beklagten dargelegte Übertragung des im Dezember 2002 erstmals vorgenommenen Kürzungsbetrages in die
jeweiligen Folgemonate stehe nicht im Einklang mit der im Betrieb ausgehängten Vereinbarung der Beklagten mit dem Betriebsrat vom
18.12.2002 und sei der Klägerin und ihren Kollegen auch nicht bekannt gewesen.
Entscheidungsgründe
I.
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Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 Buchstabe b ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist somit
gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. §§ 519, 520 ZPO zulässig.
II.
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Die Berufung der Beklagten ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht die Beklagte zur Zahlung des restlichen Januarentgelts
in Höhe von 1.295,23 EUR verurteilt.
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1. Dahingestellt bleiben kann, ob dem Sanierungstarifvertrag eine Rückwirkung über den 01.02.2003 hinaus zukommen sollte. Zwar heißt
es in dem Tarifvertrag, dieser trete rückwirkend zum 01.02.2003 in Kraft. Die Formulierung von Ziffer 3 c des Sanierungstarifvertrags
spricht allerdings dafür, daß alle Lohn- und Gehaltsansprüche, die wegen der Auszahlung des Weihnachtsgeldes zum Zeitpunkt des
Inkrafttretens des Sanierungstarifvertrages noch nicht erfüllt worden waren, erfaßt werden sollten.
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2. Auch wenn der Sanierungstarifvertrag zeitlich den noch offenen Tariflohnanspruch für Januar 2003 erfaßte, vermochte er ihn jedenfalls
nicht zum Erlöschen zu bringen. Die Klägerin durfte darauf vertrauen, daß nicht rückwirkend und verschlechternd in den noch nicht
erfüllten Lohnanspruch für Januar 2003 eingegriffen wird.
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a) Grundsätzlich können tarifliche Ansprüche durch Tarifvertrag rückwirkend und verschlechternd verändert werden. Tarifvertragliche
Regelungen tragen auch während der Laufzeit des Tarifvertrags den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit
durch Tarifvertrag in sich. Dies gilt selbst für bereits entstandene und fällig gewordene, noch nicht abgewickelte Ansprüche
(sogenannte wohlerworbene Rechte). Dabei ist die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung nur
durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt. Insoweit gelten die gleichen Regeln wie nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Rückwirkung von Gesetzen (BAG, Urteil vom 23.11.1994, 4 AZR 879/93 =
AP Nr. 12 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG Urteil vom 22.10.2003, 10 AZR 152/03 = NZA 2004, 444). Dabei macht es keinen
Unterschied, ob der Tarifvertrag für das Arbeitsverhältnis kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Parteien des Arbeitsverhältnisses
gilt oder ob dessen Anwendung in seiner jeweils geltenden Fassung von ihnen arbeitsvertraglich vereinbart ist. Das Vertrauen in die
Fortgeltung einer Tarifnorm ist dann nicht mehr schutzwürdig, wenn und sobald die Normunterworfenen mit einer Änderung rechnen
müssen. Maßgebend sind insoweit die Umstände des jeweiligen Einzelfalls. Dabei hat der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht zur
Voraussetzung, daß der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den zugrundeliegenden Umständen hat. Entscheidend
und ausreichend ist vielmehr die Kenntnis des betroffenen Kreises von Arbeitnehmern (BAG, Urteil vom 22.10.2003 am
angegebenen Ort).
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b) Bis zur vollständigen Entstehung des Anspruchs auf tarifliche Entlohnung der im Januar 2003 geleisteten Arbeit am 31.01.2003
mußten die Beschäftigen der Beklagten nicht mit einer nachträglichen Streichung des zurückbehaltenen Tariflohns für Januar
rechnen.
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aa) Unterstellt werden kann, daß die Beschäftigen der Beklagten Kenntnis von deren wirtschaftlichen Schwierigkeiten hatten.
Bereits der Aushang vom 18.12.2002 verwies auf Liquiditätsprobleme der Beklagten. Die bloße Kenntnis von wirtschaftlichen
Schwierigkeiten des Arbeitgebers vermag aber das Vertrauen der Arbeitnehmer in das Fortbestehen tariflicher Ansprüche nicht
entscheidend zu erschüttern. Wirtschaftlichen Schwierigkeiten kann auf unterschiedliche Art und Weise begegnet werden,
ohne daß gerade rückwirkende Änderungen von Tarifnormen mit Eingriffen in wohlerworbene Rechte befürchtet werden
müßten (BAG, Urteil vom 22.10.2003 am angegebenen Ort). Erst infolge der Mitarbeiterversammlung Anfang Februar 2003 und
der sich anschließenden Tarifverhandlungen mußten die Arbeitnehmer der Beklagten damit rechnen, daß es zur
Einschränkung tariflicher Ansprüche kommen könne.
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bb) Auch der Aushang der Vereinbarung vom 18.12.2002 führte nicht zu einem Wegfall des Vertrauensschutzes.
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Die Vereinbarung regelt lediglich eine teilweise verzinste Stundung des Lohnes für Dezember 2002 in Höhe des
Weihnachtsgeldes bis zum Auszahlungstermin des Lohnes für März 2003. Die Vereinbarung stellt nicht in Frage, daß die
tariflichen Ansprüche der Arbeitnehmer erfüllt werden. Vielmehr wird mit ihr das Vertrauen in die uneingeschränkte Erfüllung
der erdienten Ansprüche gerade gestärkt.
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cc) Schließlich wurde das Vertrauen des Arbeitnehmers auch nicht durch das von der Beklagten praktizierte Verfahren, zur
Insolvenzsicherung im Januar das noch ausstehende restliche Dezemberentgelt auszubezahlen und den entsprechenden
Nennbetrag vom Januarentgelt einzubehalten, erschüttert.
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Nicht zu entscheiden ist, ob das Vertrauen der Arbeitnehmer eingeschränkt gewesen wäre, wenn die Beklagte berechtigt
gewesen wäre, diese Verfahrenspraxis fortzuführen und anstelle des ausstehenden Januarentgelts einen entsprechenden Teil
des Februarentgelts einzubehalten. Entgegen der Auffassung der Beklagten war eine solche Verfahrensweise weder aufgrund
der Vereinbarung vom 18.12.2002 noch aus einem anderen Rechtsgrund zulässig gewesen. Wie dargelegt sah die
Vereinbarung vom 18.12.2002 gerade nicht die von der Beklagten anschließend praktizierte Verfahrensweise vor, sondern
beinhaltete alleine eine teilweise Stundung des Dezembergehaltes. Auch der Umstand, daß die Erfüllung der jeweils ältesten
Lohnforderung insolvenzrechtlich im Interesse der Arbeitnehmer lag, sanktioniert die Praxis der Beklagten nicht.
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Eine unzulässige Rückwirkung des Sanierungstarifvertrags hätte im übrigen auch vorgelegen, wenn, wie in der Vereinbarung
vom 18.12.2002 eigentlich vorgesehen, zwar das volle Januarentgelt, nicht aber das restliche Dezemberentgelt ausbezahlt
worden wäre. Für die Frage der Rückwirkung eines Tarifvertrags und damit den Vertrauensschutz ist nicht, wie die Beklagte
meint, der Zeitpunkt der Fälligkeit eines Anspruchs entscheidend. Maßgeblich ist vielmehr auch bei hinausgeschobener
Fälligkeit der Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs (BAG, Urteil vom 22.10.2003 am angegebenen Ort II 2. b) der Gründe).
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3. Der Zinsausspruch im erstinstanzlichen Urteil rechtfertigt sich aus §§ 288, 291 BGB i. V. m. § 614 BGB.
III.
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Als unterlegene Partei hat die Beklagte die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, § 64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. § 97 Abs. 1 ZPO.
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(Gneiting)
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(Kämpfer)
29
(Klotz)