Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 05.04.2004

LArbG Baden-Württemberg: halle, abmahnung, grundsatz der unmittelbarkeit, arbeitsgericht, treu und glauben, arbeitsüberlastung, schutzwürdiges interesse, personalakte, betriebsleiter, unfall

LArbG Baden-Württemberg Urteil vom 5.4.2004, 15 Sa 126/03
Verlangen nach Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart, Kammern Ludwigsburg, vom 28. Oktober 2003 - Az.: 20 Ca 2502/02 -wird
auf Kosten des Berufungsführers als unbegründet zurückgewiesen.
2. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Entfernung einer Abmahnung aus der Personalakte, die ihm gegenüber erklärt worden ist, weil er am 30. August 2002
gegen 8.30 Uhr entgegen einer bestehenden Anweisung einen LKW aus der Halle gewiesen hat, ohne sich dabei an vorgegebene Verhaltens-
und Vorgehensweisen zu halten.
2
Der Kläger ist mit Wirkung Ende 1995 als gewerblicher Arbeitnehmer in die Dienste der Rechtsvorgängerin der jetzigen Beklagten, welche
Metallteile sog. „Coils“ bearbeitet, getreten. Sein Bruttomonatsentgelt beläuft sich auf 2.400,00 EUR. Die Beklagte beschäftigt ca. 100
Arbeitnehmer. Ein Betriebsrat ist gebildet worden. Im sogenannten Coil-Lager wird in Früh- und Spätschicht mit regelmäßig jeweils zwei
Arbeitnehmern gearbeitet. Die Aufgaben der in diesem Lager beschäftigten Arbeitnehmer besteht darin, die dort befindlichen Maschinen zu
bestücken und anzuschalten, Lastkraftwagen abzufertigen, die in die Lagerhalle hineinfahren, und diese zu entladen sowie die Fracht zu
registrieren. Die Lastkraftwagen fahren vorwärts in die Halle und müssen diese nach der Entladung rückwärtsfahrend verlassen.
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Anfang des Jahres 2002 ereignete sich bei der Muttergesellschaft der Rechtsvorgängerin in F. ein tödlicher Unfall, als ein Lastkraftwagen beim
Herausfahren einen Mitarbeiter erdrückte. Mit einem Schreiben vom 02. April 2002 hat die Beklagte, um ähnliche Unfälle bei ihr zu vermeiden,
den Kläger und andere Mitarbeiter auf die Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften beim Rückwärtsfahren und Einweisen von Lastkraftwagen
hingewiesen. Am 16. Mai 2002 erfolgte eine Unterweisung der Mitarbeiter dahin, dass die Lastkraftwagenfahrer das Fahrzeug nicht selbständig
rückwärts aus der Halle fahren dürfen, sondern von einem Mitarbeiter aus der Halle herausgewiesen werden müssen. Dabei sollte der
ausweisende Mitarbeiter außerhalb der Halle hinter dem Heck des Lastkraftwagens stehen und sich so stellen, dass er vom Lastkraftwagenfahrer
im Rückspiegel gesehen werden konnte. Die Lastkraftwagenfahrer wurden durch Hinweisschilder, sowohl in deutscher wie auch in französischer
Sprache darauf hingewiesen, sie sollten sich beim Rückwärtsfahren einweisen lassen.
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Am 23. August 2002 führte der Kläger sowie ein Arbeitskollege mit dem Betriebsleiter ein Gespräch, in welchem der Kläger sich auf eine
Arbeitsüberlastung berief. Gesprächsanlass war, dass eine große Zahl gleichzeitig abzufertigender Lastkraftwagen und die gleichzeitige
Bedienung der Maschinen erforderlich war. In der Woche ab dem 26. August 2002 leistete der Kläger Frühschicht. Am 30. August war er der
einzige Arbeitnehmer im Coil-Lager. Nachdem er zwischen 7.30 Uhr und ca. 8.30 Uhr die Maschinen in Lauf gesetzt und einige Lkws abgefertigt
hatte, erschien der von dem später als Zeugen vernommenen Fahrer M. gesteuerte Lastkraftwagen in der Halle. Der Kläger entlud das Fahrzeug.
Beim Rückwärtsfahren aus der Halle nach Abschluss des Entladungsvorgangs fuhr der LKW auf einen Gabelstapler auf, der außerhalb der Halle
an der Toreinfahrt geparkt war; dadurch entstand ein Sachschaden am Gabelstapler. Der Kläger befand sich zum Zeitpunkt der Rückwärtsfahrt
des Lkws in der Halle in der Höhe des Fahrerhauses. Der LKW des Zeugen M. war zu dem Zeitpunkt der einzige LKW in der Halle. Ein weiterer
wartete außerhalb der Halle.
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Mit Schreiben vom 20. September 2002 erteilte die Beklagte eine Abmahnung, indem sie rügte, der Kläger habe den Lastkraftwagen nicht
ordnungsgemäß aus der Halle ausgewiesen. Ein gegen den Kläger eingeleitetes Ordnungswidrigkeitenverfahren, wobei die Beklagte zugesagt
hatte, ein etwaiges Bußgeld zu übernehmen, ist eingestellt worden.
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Das Arbeitsgericht hat durch den ersuchten Richter beim Arbeitsgericht S. Beweis erhoben und selbst einen weiteren von der Beklagten und
zwei vom Kläger benannte Zeugen vernommen. Inzwischen müssen die Lastkraftwagenfahrer schriftlich durch Unterschrift bestätigen, dass sie
nicht eigenmächtig rückwärts fahren.
7
Der Kläger hat geltend gemacht, er habe den Lastkraftwagenfahrer nicht aus der Halle gewiesen. In der Klagschrift hat ausgeführt, er habe auch
deshalb in der Halle vor dem Lkw-Führerhaus gestanden, weil er die Maschinen bedient hatte. Später hat er – wie auch im zweiten Rechtszug –
behauptet, er sei gerade mit der Bearbeitung der Daten und Etiketten der abgeladenen Ware beschäftigt gewesen, als der LKW-Fahrer plötzlich
von sich aus rückwärts gefahren sei. Erst durch den Krach des Unfalls sei er hierauf aufmerksam geworden. Er sei in der fraglichen Woche
arbeitsmäßig überlastet gewesen, so dass er über seine Leistungsgrenze gegangen sei. Er habe bereits am 23. August 2002 dem Betriebsleiter
erklärt, dass die Arbeiten, nämlich das Bedienen der Maschinen und das gleichzeitige Abfertigen der Lastkraftwagen, nicht zu schaffen seien. Am
30. August habe er wegen des Urlaubs eines Kollegen allein die Aufgaben erledigen müssen; er, wie auch ein Kollege, hätten versucht, den
Betriebsleiter telefonisch zu erreichen, um auf die Überlastung im Coil-Lager hinzuweisen. Der Betriebsleiter sei trotz dreimaliger Versuche nicht
zu erreichen gewesen. Die erteilte Abmahnung sei jedenfalls aufgrund der Arbeitsüberlastung unverhältnismäßig. Weiter hat der Kläger geltend
gemacht, der vernommene Zeuge M. habe den Unfallhergang gleich nach dem Unfall nicht so geschildert, wie er nunmehr vor dem
Arbeitsgericht S. ausgesagt habe.
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Der Kläger hat beantragt,
9
die Beklagte wird verurteilt, die Abmahnung vom 20.09.2002 aus der Personalakte zu entfernen.
10 Die Beklagte hat geltend gemacht, der Kläger habe den LKW aus der Halle hinausgewiesen. Dies habe er auch gegenüber dem Betriebsleiter so
ausgesagt. Der Kläger habe sich in der Halle parallel zum Fahrerhaus aufgehalten und damit die Sicherheitsvorschriften verletzt. Der LKW-
Fahrer sei nicht selbständig rückwärts gefahren sondern erst auf entsprechende Einweisung durch den Kläger. An diesem Tag habe konkret
keine Arbeitsüberlastung bestanden, auch sei keine Anzeige eines personellen Engpasses durch den Kläger erfolgt. Dieser habe nicht versucht,
den Betriebsleiter zu erreichen oder in sonstiger Weise seine Arbeitsüberlastung anzuzeigen. Die Maschinen arbeiteten selbständig. Der Kläger
müsse nur zum Auf- und Abrüsten der Maschinen tätig werden.
11 Das Arbeitsgericht hatte die Klage durch das am 28. Oktober 2003 verkündete Urteil abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen
ausgeführt: Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme stehe fest, dass der Kläger am 30. April 2003 gegen ca. 8.30 Uhr den vom Zeugen M.
geführten LKW aus dem Coil-Lager mit Handzeichen oder verbal ausgewiesen habe. Der Kläger habe entgegen der Anweisung in der Höhe des
Fahrerhauses des Lkws innerhalb der Halle gestanden. Die Bekundungen des Zeugen M. seien glaubhaft. Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit
des Zeugen bestünden nicht. Die Schilderung des Klägers zum Unfallgeschehen seien deutlich detailarmer und in entscheidenden Punkten
unplausibel. Die des weiteren vernommenen Zeugen R., W. und W. seien nicht unmittelbar beim Tatgeschehen anwesend gewesen. Die
Vertragspflichtverletzung sei schuldhaft erfolgt, Entschuldigungsgründe seien nicht ersichtlich.
12 Gegen diese am 04. Dezember 2003 zugestellte Entscheidung wendet sich der Kläger mit seiner am 19. Dezember 2003 eingereichten
Berufung. Er hat sein Rechtsmittel, nachdem die Begründungsfrist auf den fristgerechten Antrag hin verlängert worden war, mit dem 01. März
2004 als Fax und am 03. März 2004 im Original eingegangenen Schriftsatz ausgeführt. Der Kläger beanstandet die Beweiswürdigung des
Arbeitsgerichts, da dieses, ohne eigenen Eindruck von den Zeugen zu haben, dessen Aussage für glaubhafter als die des Klägers gehalten
habe. Er meint, das Arbeitsgericht habe den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verletzt. Auch liege das Interesse des Zeugen
M. auf der Hand. Diesem sei es mehr als unangenehm gewesen, mit einem Fremdschaden konfrontiert zu werden. Der Zeuge M. habe sich auch
nicht daran erinnern können, ob er überhaupt durch ein Zeichen oder Worte aufgefordert worden sei, mit dem LKW rückwärts fahrend die Halle
zu verlassen. Der Zeuge M. habe ausgeführt, er verlasse sich niemals auf den Einweiser. Widersprüchlich sei auch die Aussage, der Einweiser
habe ihm eindeutig ein Zeichen zum Ausfahren gegeben. Bei der Aussage des Zeugen M. sei die Gefahr von Missverständnissen im
kommunikativen Bereich nicht auszuschließen. Den Kern des Geschehen, nämlich die konkrete Art und Weise der Einweisung, habe der Zeuge
nicht schildern können. Demgegenüber seien Bedenken gegen seine eigene Glaubwürdigkeit nicht begründet. Er, der Kläger, habe klipp und
klar ausgeführt, dass er nicht mit dem Handy telefoniert habe. Der des weiteren vernommene Zeuge W. sei von Anfang an anwesend gewesen,
bevor der Betriebsleiter zum Unfallort gekommen sei. Der Zeuge W. habe nicht bestätigen können, er, der Kläger, habe zugegeben, durch eine
fehlerhafte Einweisung den Unfall verschuldet zu haben. Auch der weitere Zeuge W. habe nicht wahrgenommen, er, der Kläger, habe den Fahrer
herausgewunken. Der Zeuge R. habe sich selbst am Unfall mitschuldig fühlen müssen und somit ein eigenes Interesse am Ausgang des
Prozesses gehabt. Auch habe das Arbeitsgericht nicht hinreichend berücksichtigt, es habe zuvor Vorhaltungen des Klägers und des Zeugen W.
im Hinblick auf eine Arbeitsüberlastung gegeben. Auch habe das Arbeitsgericht unberücksichtigt gelassen, dass das Bußgeldverfahren
eingestellt worden sei. Er meint, eine Abmahnung sei nach Treu und Glauben nicht gerechtfertigt, wenn ein Verstoß durch ein Mitverschulden
und zumindest ein Mitverursachen des Arbeitgeber mit indiziert worden sei. Die Abmahnung verstoße unabhängig davon, dass sich der Unfall
nach seiner eigenen Schilderung anders als nach der des Beklagten abgespielt habe, gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
13 Der Kläger beantragt,
14
1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart, Kammern Ludwigsburg, vom 28.10.2003 – 20Ca 2502/02 – wird abgeändert und die Beklagte wird
verpflichtet, die Abmahnung vom 20.09.2002 aus der Personalakte zu entfernen.
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2. Die Beklagte trägt die Kosten beider Rechtszüge.
16 Die nunmehrige Beklagte, die sich gegen die Hineinziehung in das Verfahrens im zweiten Rechtszug nicht wendet, verweist darauf, vorliegend
sei eine Beweisaufnahme durch den ersuchten Richter, wie vom Gesetz vorgesehen, durchgeführt worden. Es komme nicht entscheidend darauf
an, ob durch ein Handzeichen oder durch ein Wort das Signal zum Herausfahren gegeben worden sei. Sie macht geltend, allein der Kläger habe
ein ureigenes Interesse am Ausgang des Rechtsstreites. Er lasse auch die Bekundung des Zeugen R. unberücksichtigt, wonach er selbst erklärt
habe, er habe den LKW von Vorne aus der Halle hinausgewunken. Auf die vom Kläger geltend gemachte Arbeitsüberlastung komme es schon
deswegen nicht an, weil eine solche am 30. August 2002 konkret nicht vorgelegen habe.
Entscheidungsgründe
I.
17 1. Die Berufung des Klägers gegen das sein Entfernungsverlangen zurückweisende Urteil ist statthaft (§§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 lit. b ArbGG). Das
Arbeitsgericht hat den Wert des Streitgegenstandes in Höhe eines Bruttomonatseinkommens festgesetzt. Das Rechtsmittel ist form- und
fristgerecht eingelegt und rechtzeitig und ordnungsgemäß ausgeführt worden, so dass es §§ 64 Abs. 6, 66 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO zulässig ist.
18 2. Bedenken dagegen, dass die nunmehrige Beklagte/Berufungsbeklagte das Verfahren übernommen hat, bestehen nicht. Tritt während des
anhängigen gerichtlichen Verfahrens eine Rechtsnachfolge ein, hat dies grundsätzlich keinen Einfluss auf den Prozess (§ 265 Abs. 2 Satz 1
ZPO). Ist der Rechtsnachfolger zur Übernahme des Rechtsstreits bereit, bedarf es dazu der Zustimmung der gegnerischen Partei (§ 265 Abs. 2
Satz 2 ZPO). Vorliegend hat der Kläger, nachdem sowohl der Prozessbevollmächtigte der ursprünglichen Beklagten als auch der
Prozessbevollmächtigte der Rechtsnachfolgerin die Rechtsnachfolge mitgeteilt hatten, das „Passivrubrum berichtigt“. Darin liegt die nach dem
Gesetz erforderliche Zustimmung des Klägers, dass die Rechtsnachfolgerin den Prozess als Hauptpartei an Stelle der Rechtsvorgängerin zu
übernehmen bereit war.
II.
19 Die Berufung des Klägers kann in der Sache keinen Erfolg haben. Das Arbeitsgericht hat das auf die Entfernung der Abmahnung vom 20.
September 2002 aus der Personalakte gerichtete Begehren zutreffend zurückgewiesen. Sowohl die prozessualen als auch die materiell-
rechtlichen Angriffe des Klägers dagegen können nicht durchgreifen.
20 1. Im Ausgangspunkt des Arbeitsgerichts zutreffend von der – allerdings unrichtig zitierten – ständigen Rechtsprechung des BAG (vgl. Urt. v. 27.
November 1985 – 5 AZR 101/84, BAG 50, 202 = AP Nr. 93 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht; Urt. v. 13. April 1988 – 5 AZR 537/86, AP Nr. 100 zu §
611 BGB Fürsorgepflicht; Urt. v. 15. Juli 1992 – 7 AZR 466/91, BAGE 71, 14 = AP Nr. 9 zu § 611 BGB Abmahnung; Urt. v. 5. August 1992 – 5 AZR
531/91, AP Nr. 8 zu § 611 BGB Abmahnung) ausgegangen, nach welcher der Arbeitnehmer verlangen kann, dass der Arbeitgeber eine
missbilligende Äußerung aus der Personalakte entfernt, wenn die Abmahnung formell nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist (vgl. BAG,
Urt. v. 16. November 1989 – 6 AZR 64/88, BAGE 63, 240 = AP Nr. 2 zu § 13 BAT), sie unrichtige Tatsachenbehauptungen enthält (vgl. BAG, Urt. v.
27. November 1985, a.a.O.), der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt ist (vgl. BAG, Urt. v. 13. November 1991 – 5 AZR 74/91, AP Nr. 7 zu §
611 Abmahnung; Urt. v. 10. November 1993 – 7 AZR 682/92, AP Nr. 4 zu § 78 BetrVG 1972; Urt. v. 31. August 1994 – 7 AZR 893/93, AP Nr. 98 zu
§ 37 BetrVG 1972) oder kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers am Verbleib der Abmahnung in der Personalakte mehr besteht (vgl.
BAG, Urt. v. 13. April 1988, a.a.O.; Urt. v. 14. Dezember 1994 – 5 AZR 137/94, BAGE 79, 37 = AP Nr. 15 zu § 611 BGB Abmahnung). Für die
Frage, ob eine Abmahnung zu Recht erfolgt ist, kommt es allerdings allein darauf an, ob der erhobene Vorwurf objektiv gerechtfertigt ist; nicht
entscheidend ist jedoch, ob das beanstandete Verhalten dem Arbeitnehmer auch subjektiv vorgeworfen werden kann (vgl. BAG, Urt. v. 7.
November 1979 – 5 AZR 962/77, AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße; Urt. v. 30. März 1982 – 1 AZR 265/80, BAGE 38, 207 = AP Nr. 74
zu Art. Nr. 9 GG Arbeitskampf; Urt. v. 19. Juli 1983 – 1 AZR 307/81, AP Nr. 5 zu § 87 BetrVG 1972 Betriebsbuße; Urt. v. 7. September 1988 – 5
AZR 625/87, AP Nr. 2 zu § 611 BGB Abmahnung; Urt. v. 10. Januar 1992 – 7 AZR 194/91, AP Nr. 84 zu § 37 BetrVG 1972; Urt. v. 21. April 1993 –
5 AZR 413/92, EzA § 543 ZPO Nr. 8; a.A. LAG Köln, Urt. v. 2. November 1988 – 2 Sa 850/88, DB 1989, 1294), weil mit der Abmahnung die
erbrachte Arbeitsleistung oder ein bestimmtes Verhalten des Arbeitnehmers als nicht vertragsgerecht gerügt werden soll und der Arbeitgeber
damit verdeutlicht, er wolle solches künftig nicht mehr hinnehmen. Der Arbeitnehmer erhält damit die Gelegenheit, sich in Zukunft vertragsgemäß
zu verhalten.
21 2. Entgegen der Auffassung des Klägers verstößt die erfolgte Abmahnung nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dies wäre der
Fall, wenn die Abmahnung dem Kläger unverhältnismäßig große Nachteile zufügen würde und andere, weniger schwerwiegende Maßnahmen
möglich gewesen wären, die den Interessen der Beteiligten ebenso gut Rechnung getragen hätten, oder zumindest zumutbar gewesen wären
(vgl. BAG, Urt. v. 13. November 1992 – 5 AZR 74/91, BAGE 69, 34 = AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung; Urt. v. 15. Juli 1992, a.a.O.; Urt. v. 31.
August 1994, a.a.O.). Vorliegend ist die zur Personalakte gekommene schriftliche Abmahnung ohne Zweifel im Vergleich zu dem beanstandeten
Verhalten und dem damit im Hinblick auf das Ereignis bei der Muttergesellschaft verfolgten Zieles nicht unverhältnismäßig. Nach dem tödlichen
Unfall bei der Muttergesellschaft hat die Rechtsvorgängerin ihre Mitarbeiter zum einen schriftlich auf die Einhaltung der
Unfallverhütungsvorschriften hingewiesen und am 16. Mai 2002 dahingehend unterwiesen, dass die Lastkraftwagenfahrer ihr Fahrzeug nicht
selbständig aus der Halle fahren dürften, sondern von einem Mitarbeiter auf eine bestimmte Art und Weise aus der Halle gewiesen werden
müssten. Im Hinblick darauf, dass es am 30. August 2002 beim Rückwärtsfahren immerhin zu einem Sachschaden gekommen ist, weil der Fahrer
nicht durch einen außerhalb der Halle hinter dem Heck des Lastkraftwagen stehenden Mitarbeiter der Rechtsvorgängerin eingewiesen worden
ist, ist es wegen des Gefahrenpotentials nicht unverhältnismäßig, wenn die Nichtbeachtung der Sicherheitsvorkehrung abgemahnt worden ist.
22 Anhaltspunkte dafür, dass das Abmahnungsschreiben durch seine Form die Ehre des Klägers verletzt hat, und insoweit gegen das
Übermaßverbot verstoßen worden ist, sind nicht ersichtlich.
23 3. Das Entfernungsverlangen des Klägers ist auch nicht deswegen gerechtfertigt, weil das dem Kläger in der Abmahnung vorgeworfene
Fehlverhalten zum Zeitpunkt der Abfassung der Berufungsbegründung, wie der Kläger geltend macht, rund eineinhalb Jahre zurückliegt. Eine
Abmahnung verliert wegen ihres reinen Zeitablaufs noch nicht ihre Wirkung (vgl. BAG, Urt. v. 18. November 1986 – 7 AZR 674/84, AP Nr. 17 zu §
1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung; Urt. v. 10. Oktober 2002 – 2 AZR 418/01, EzA § 626 BGB 2002 Unkündbarkeit Nr. 1). Über den
reinen, ohnehin relativ geringen zeitlichen Abstand hat der Kläger keinerlei Umstände aufgezeigt, aus denen die Abmahnung vom 20.
September 2002 ihre Wirkung verloren haben könnte. Ausweislich des Wortlauts der Abmahnung war damit bezweckt, vom Kläger die zukünftige
Einhaltung der Regeln zu verlangen, die dem Schutz der Beschäftigten und der Sachgegenstände dienen sollen, und ihn auf Konsequenzen im
Falle eines erneuten Pflichtverstoßes hinzuweisen. Da eine vergleichbare Situation wie die vom 30. August 2002 jederzeit wieder auftreten kann,
hat die vom Kläger bekämpfte Abmahnung ihre Funktion unabhängig von der Dauer der zwischenzeitlich verstrichenen Zeit nicht verloren.
24 4. Fehl geht die Auffassung des Klägers, der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme sei verletzt worden und die vom Arbeitsgericht
vorgenommene Beweiswürdigung sei unzutreffend.
25 a) Nach den Prozessordnungen kann der Vorsitzende vor der streitigen Verhandlung einen Beweisbeschluss erlassen, soweit er eine
Beweisaufnahme durch den ersuchten Richter anordnet (§ 55 Abs. 4 Nr. 1 ArbGG) und/oder die Aufnahme des Zeugenbeweises durch ein
anderes Gericht anordnen, wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren
Eindruck vom Verlauf der Beweisaufnahme sachgerecht zu würdigen vermag, und wenn dem Zeugen das Erscheinen vor dem Prozessgericht
wegen großer Entfernung unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage nicht zugemutet werden kann (§ 375 Abs. 1 Nr. 3 ZPO). So ist
das Arbeitsgericht vorliegend verfahren. Durch Beschluss des Vorsitzenden vom 5. August 2003 ist die Beweisaufnahme durch den ersuchten
Richter des Arbeitsgerichts S. angeordnet worden. Anhaltspunkte dafür, dass die Prognose fehlerhaft war, ein unmittelbarer Eindruck vom Verlauf
der Beweisaufnahme sei entbehrlich, sind nicht ersichtlich. Wie sich aus dem Beweisbeschluss ergibt, ging es um die von der Beklagten zu
beweisende Behauptung, der Kläger habe den als Zeugen zu vernehmenden Fahrer am 30. August 2003 von der Halle aus auf den Hof
eingewiesen, wobei der Kläger vor dem LKW-Führerhaus gestanden sei. Dieser Behauptung war der Kläger mit einer gegenteiligen
Sachdarstellung entgegengetreten. Dem in L. wohnhaften Zeugen war das Erscheinen vor dem Prozessgericht wegen der großen Entfernung
auch unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage nicht zuzumuten. Überdies hat an der Einvernahme des Zeugen durch den
ersuchten Richter für den Kläger ein Unterbevollmächtigter teilgenommen, der mehrere Fragen an den Zeugen gerichtet hat. Der Kläger hat im
Anschluss daran zum Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung genommen, wobei er zwar eine andere Darstellung des tatsächlichen Ablaufs
vorgetragen, aber irgendwelche Umstände, die gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen sprechen könnten, nicht vorgetragen hat.
26 b) Ebenso wenig greifen die Einwände gegen die Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts durch. Nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat das Gericht
unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier
Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei. Die Überzeugung von der Wahrheit
erfordert keine absolute und unumstößliche Gewissheit, da eine solche nicht zu erreichen ist (vgl. BGH, Urt. v. 14. Dezember 1993 – VI ZR
221/92, NJW-RR 1994, 567). Angesichts der Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten ist eine jeden Zweifel ausschließende
Gewissheit kaum zu erreichen, die auch nicht gefordert werden kann. Es kommt auf die persönliche Überzeugung der entscheidenden Richter
an, die sich in zweifelhaften Fällen ohnehin mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad der Gewissheit begnügen müssen (vgl. BAG,
Urt. v. 19. Februar 1997 – 5 AZR 747/93, BAGE 85, 140 = AP Nr. 3 zu Art. 18 EWG-Verordnung Nr. 574/72). Es wäre gerade fehlerhaft, einen
Beweis deswegen als nicht erbracht anzusehen, weil keine absolute, über jeden denkbaren Zweifel erhabene Gewissheit gewonnen werden
konnte.
27 aa) Das Arbeitsgericht hat die Sachdarstellung des Zeugen M. umfassend einer Überprüfung auf ihre Glaubhaftigkeit unterzogen und seine
Erwägungen dazu dargestellt. Fehl geht der Hinweis, der Zeuge M. habe sich nicht daran erinnern können, ob er überhaupt durch ein Zeichen
oder Worte aufgefordert worden sei, mit dem LKW rückwärts fahrend die Halle zu verlassen. Das vom Berufungsführer angeführte Adverb
„überhaupt“ wird der protokollierten Bekundung nicht gerecht, denn der Zeuge konnte sich nicht mehr erinnern, ob er alternativ durch Zeichen
oder durch Worte aufgefordert worden sei, die Halle zu verlassen. Er hat jedoch den Kläger als denjenigen bezeichnet, der ihm die Einweisung
erteilt hat, den er auch deswegen identifiziert hat, weil er zwischenzeitlich von ihm, als der Zeuge nochmals in der Firma war, auf den
Zwischenfall angesprochen worden ist. Unerheblich ist die Bekundung des Zeugen, er verlasse sich niemals auf den Einweiser, da es auf eine
Pflichtverletzung des Klägers ankommt, der sich nicht außerhalb der Halle zum Heck des Lastkraftwagens begeben hat. Der Hinweis des Klägers
auf ein mögliches Interesse des Zeugen ist verfehlt, da dafür keine greifbaren Anhaltspunkte bestehen.
28 bb) Der Kläger verkennt insbesondere die Bedeutung der Aussage des Betriebsleiters, wonach der Kläger unmittelbar nach dem Vorfall ihm
gesagt habe, er habe den LKW von vorne rausgewunken. Dies sei vom LKW-Fahrer bestätigt worden. Auch insoweit verliert sich der Kläger
diesbezüglich in Vermutungen im Hinblick auf das Interesse dieses Zeugen. Dafür fehlt es jedoch an jeglichen Anhaltspunkten.
29 Die beiden vom Kläger für seine Behauptungen benannten Zeugen W. und W., der Zeuge M. habe unmittelbar nach dem Unfallgeschehen
dieses nicht so, wie vor dem Arbeitsgericht S. bekundet, geschildert, haben solches jedoch nicht ausgeführt. Der Zeuge W. hat auf die Frage, ob
darüber gesprochen worden sei, ob der Kläger den LKW rausgewunken habe, geäußert: „Das habe ich nicht gesehen“. Auf die nochmalige
Frage hat er ausgeführt: „Das ist länger her. Jeder hat etwas anderes gesagt. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern“. Ebenso wenig hat der
Zeuge W., wie aus der Protokollniederschrift zu entnehmen ist, die gegenteilige Behauptung des Klägers bestätigt, sondern auf entsprechende
Fragen nur bekundet, das wisse er nicht mehr.
30 cc) Ohne Erfolg macht der Kläger auch geltend, vom Arbeitsgericht sei nicht hinreichend beachtet worden, es habe zuvor Vorhaltungen seitens
des Klägers und des Zeugen W. wegen einer Arbeitsüberlastung gegeben. Wie den Entscheidungsgründen des Arbeitsgerichts unter II. 3. zu
entnehmen ist, ist das Arbeitsgericht darauf eingegangen, indem es zutreffend auf die konkrete Situation abgestellt hat, die sich dadurch
auszeichnete, dass lediglich ein LKW in der Halle und ein zweiter außerhalb der Halle wartete. Es kommt nicht darauf an, dass zu anderen
Zeitpunkten möglicherweise objektiv eine Arbeitsüberlastung bestanden hat. Entscheidend ist allein die konkrete Situation.
31 dd) Der Tatsache, dass das gegen den Kläger eingeleitete Bußgeldverfahren zwischenzeitlich eingestellt worden ist, kommt vorliegend schon
deswegen keine Bedeutung zu, weil die Verschuldensfrage im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung ist. Für die Frage der
Rechtmäßigkeit einer Abmahnung kommt es nicht auf die subjektive Vorwerfbarkeit, sondern allein darauf an, ob der erhobene Vorwurf objektiv
gerechtfertigt ist.
32 ee) Schließlich kann sich der Kläger nicht darauf berufen, die Bedenken des Arbeitsgerichts gegen die Glaubwürdigkeit der klägerischen
Aussage sei nicht begründet. Zur Frage der Glaubwürdigkeit des Klägers hat sich das Arbeitsgericht überhaupt nicht geäußert, sondern darauf
abgestellt, die Schilderung des Klägers zum Unfallgeschehen sei detailärmer und im entscheidenden Punkt unplausibel. Entsprechend dem
Wesen auch des arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahrens hat die Beklagte die Tatsachen vorgetragen, die sie veranlasst und gegebenenfalls
berechtigt haben, den Kläger abzumahnen. Dazu war der Kläger gehalten, substantiiert Stellung zu nehmen. Wenn das Arbeitsgericht aufgrund
der durchgeführten Beweisaufnahmen die Bekundungen insbesondere des Zeugen M. den Ausführungen des Klägers gegenübergestellt und
abgewogen hat, ist es seiner Aufgabe vollauf gerecht geworden, indem es auch darauf seine Überzeugung gestützt hat. Zudem verkennt der
Kläger, dass sein Vorbringen gewechselt hat. Während er in der Klageschrift ausgeführt hat, er habe auch deshalb in der Halle vor dem LKW-
Führerhaus gestanden, weil er die Maschinen bedient habe, hat er in einem späteren Schriftsatz und in der Berufungsbegründungsschrift
ausgeführt, er sei mit der Datenaufnahme – nämlich der Aufnahme des Protokolls der abgegebenen Edelstahlrollen – beschäftigt gewesen.
Gründe dafür, warum sein Vorbringen in der Klagschrift von dem späteren Vorbringen im ersten Rechtszug und in der
Berufungsbegründungsschrift abweicht, hat der Kläger nicht angegeben.
III.
33 1. Da der Kläger somit mit seinem Rechtsmittel keinen Erfolg haben konnte, hat er die dadurch entstandenen Kosten gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG
i.V.m. § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
34 2. Ein Rechtsmittel ist gegen dieses Berufungsurteil nicht gegeben. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 72 Abs.
2 ArbGG) liegen nicht vor. Auf die Möglichkeit, die Nichtzulassung der Revision durch das Landesarbeitsgericht selbstständig durch den
Rechtsbehelf der Nichtzulassungsbeschwerde anzufechten (§ 72 a ArbGG), wird hingewiesen.