Urteil des KG Berlin vom 29.03.2017
KG Berlin: unfall, fahrzeug, mithaftung, kollision, blaulicht, höchstgeschwindigkeit, gefährdung, betriebsgefahr, link, sammlung
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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 206/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 8 StVO, § 9 Abs 5 StVO, § 10
StVO, § 35 Abs 1 StVO, § 35 Abs
8 StVO
Verkehrsunfallhaftung: Kollision eines mit überhöhter
Geschwindigkeit überholenden Polizeifahrzeugs mit einem
wendenden Fahrzeug
Leitsatz
Kommt es im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Wenden zu
einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug, spricht der Beweis des ersten
Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Wendenden.
Wegen der besonderen Sorgfaltspflichten des Wendenden haftet dieser im Falle der Kollision
mit einem ordnungsgemäß überholenden Kfz grundsätzlich allein, wobei die Betriebsgefahr
des Kfz des Überholers zurücktritt.
Aus dem Umstand, dass ein Pkw zunächst nach rechts blinkt, an den rechten Straßenrand
fährt und dort anhält, muss der Fahrer eines mit Blaulicht und überhöhter Geschwindigkeit
herannahenden Einsatzfahrzeuges nicht schließen, dieser Pkw würde sogleich wenden, und
der Einsatzfahrer ist nicht zur sofortigen Vollbremsung verpflichtet
Allein die überhöhte Geschwindigkeit eines Einsatzfahrzeugs führt nach § 35 Abs. 1, 8 StVO
nicht zur Mithaftung.
Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 ZPO
zurückzuweisen.
2. Es wird Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen gegeben.
Gründe
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg.
Der Senat folgt den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch
die Berufungsbegründung nicht entkräftet worden sind.
Ergänzend wird auf Folgendes hingewiesen:
Nach § 513 Absatz 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die
angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die
nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung
rechtfertigen. Beides ist nicht der Fall.
1. Zutreffend hat das Landgericht (UA 4-5) nach Beweisaufnahme die Klage im
Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, der Anscheinsbeweis spräche dafür, dass
die Klägerin die ihr nach § 9 Abs. 5 beim Wenden obliegenden Sorgfaltspflichten verletzt
habe, da sich der Unfall im Zusammenhang mit dem Wendevorgang der Klägerin
ereignet habe; demgegenüber scheide eine Mithaftung des Beklagten aus, weil die
Klägerin durch die von ihr benannte Zeugin ... nicht habe beweisen können, dass sie vor
und während des Wendevorgangs den linken Blinker gesetzt habe.
Gründe für eine Mithaftung des Beklagten seien auch nach dem Ergebnis des
Gutachtens des vom Landgericht beauftragten Sachverständigen ... vom 20. Februar
2007 nicht feststellbar (UA 5); danach wäre der Unfall zwar vermieden worden, wenn der
Fahrer des mit Blaulicht und einer Geschwindigkeit von etwa 83 km/h herannahenden
Polizeifahrzeuges zunächst nicht nur eine Betriebsbremsung, sondern eine
Vollbremsung vorgenommen hätte; hierzu hätte aber nur dann Anlass bestanden, wenn
das klägerische Fahrzeug nach links geblinkt hätte; gerade dies habe die Klägerin aber
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das klägerische Fahrzeug nach links geblinkt hätte; gerade dies habe die Klägerin aber
nicht zu beweisen vermocht.
Auch aus dem Umstand, dass das Polizeifahrzeug die zulässige Höchstgeschwindigkeit
ganz erheblich überschritten habe, folge keine Mithaftung, da das Einsatzfahrzeug hierzu
berechtigt gewesen sei; nach § 10 StVO habe die Klägerin das im fließenden Verkehr
befindliche Polizeifahrzeug vorbeifahren lassen müssen.
2. Die dagegen mit der Berufungsbegründung vorgetragenen Argumente sind nicht
geeignet, die beantragte Abänderung des angefochtenen Urteils zu bewirken und der
Klägerin Schadensersatz nach der im Berufungsverfahren nur noch geltend gemachten
Quote von 50 % zuzusprechen.
Wegen der besonderen Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5 StVO (beim Wenden ist eine
Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen; höchste Sorgfaltsstufe) spricht
gegen den Wendenden der Beweis des ersten Anscheins, eine in unmittelbarem
zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Wendevorgang eingetretene Kollision
mit einem anderen Fahrzeug verschuldet zu haben (KG, Urteil vom 1. Oktober 2001 – 12
U 2139/00 NZV 2002, 230 = KGR 2002, 98 = VM 2002, 61 L; KG, Beschluss vom 21.
September 2006 – 12 U 41/06 – VRS 112, 90 = KGR 2007, 305 L = NZV 2007, 306 =
NJW-Spezial 2007, 306).
Dies akzeptiert die Klägerin zwar, meint aber ihr sei die ihr durch die Rechtsprechung
eingeräumte Möglichkeit der Widerlegung des Anscheinsbeweises gelungen mit der
Folge einer hälftigen Mithaftung des Beklagten.
Denn aus den feststehenden Tatsachen könne gefolgert werden, dass sich der Fahrer
des Beklagtenfahrzeugs auf das Fahrverhalten der Klägerin hätte einrichten können;
denn es stehe fest, dass dieser sich offensichtlich auf dieses Fahrzeug eingerichtet
habe, indem er den linken Blinker 65,8 m vor der Kollision gesetzt und einen
Bremsvorgang - mit geringer Bremswirkung - eingeleitet habe. Hätte er jedoch statt
dessen voll gebremst, wäre der Unfall vermieden worden, was jedoch aufgrund einer
Fehleinschätzung nicht erfolgt sei; auch bei Inanspruchnahme von Sonderrechten
oblägen dem Fahrer besondere Beobachtungspflichten.
a) Die Auffassung der Klägerin, der Unfall sei durch eine Fehleinschätzung der
Situation durch den Fahrer des Polizeifahrzeuges mitverursacht worden, wird vom Senat
nicht geteilt.
Bereits das Landgericht hat auf S. 5 des angefochtenen Urteils das Ergebnis des
Gutachtens des Sachverständigen ... behandelt, dass der Unfall vermieden worden wäre,
wenn der Polizist im Zeitpunkt seiner Reaktion auf das Klägerfahrzeug nicht nur eine
„Betriebsbremsung“ und dann nach 1,2 s eine Vollbremsung eingeleitet hätte (vgl.
Gutachten Wanderer, S. 17).
Das Landgericht hat dazu zutreffend ausgeführt, dass der Polizeibeamte zu einer
Vollbremsung im Zeitpunkt seiner ersten Reaktion auf das Fahrzeug der Klägerin nur
dann Veranlassung gehabt hätte, wenn das klägerische Fahrzeug vor dem
Wendevorgang geblinkt hätte, was die Klägerin nicht bewiesen hat.
Dieses Argument, das von der Klägerin nicht angegriffen wird, wird vom Senat
geteilt.
Denn allein der Umstand, dass ein Pkw zunächst nach rechts blinkt, an den rechten
Straßenrand fährt und dort anhält (vgl. Klageschrift, S. 2; Klageerwiderung, S. 2), muss
den Fahrer eines mit Blaulicht und überhöhter Geschwindigkeit herannahenden
Einsatzfahrzeuges nicht zu einer sofortigen Vollbremsung veranlassen. Im Gegenteil
kann er zunächst daraus schließen, dass dieses Fahrzeug ihn vorbeifahren lassen würde.
Es kann also nicht festgestellt werden, dass der Polizeibeamte „in Verkennung der
Situation“ und aufgrund einer „Fehleinschätzung“ (S. 2 der Berufungsbegründung)
falsch reagiert hätte, wenn er - wie der Beklagte vorgetragen hat - zunächst auf das
rechts blinkende und zum rechten Fahrbahnrand ziehende Klägerfahrzeug mit
Linksblinken und leichtem Abbremsen reagiert und erst nach Erkennen des Anfahrens
der Klägerin vom rechten Fahrbahnrand zum Zwecke des Wendens eine Vollbremsung
einleitet.
b) Auch die überhöhte Geschwindigkeit des Polizeifahrzeuges führt nicht zur
Mithaftung des Beklagten; denn nach § 35 Abs. 1, 8 StVO war das Polizeifahrzeug von
den Vorschriften der StVO befreit, durfte also zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben auch
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den Vorschriften der StVO befreit, durfte also zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben auch
die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschreiten, allerdings nur unter gebührender
Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (vgl. Senat, Urteil vom 20.
März 2003 - 12 U 199/01 - KGR 2003, 202 = NZV 2003, 481 = VersR 2005, 1549; Urteil
vom 25. April 2005 - 12 U 123/04 - VRS 108, 417 = VM 2005, 53 Nr. 45 = KGR 2005, 664
= NZV 2005, 636 = VersR 2006, 1089 L).
Auch in diesem Rahmen sind unfallursächliche Sorgfaltspflichtverletzungen des
Polizeifahrers nicht feststellbar; das Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit
war nicht rechtswidrig und die Reaktion auf das unstreitige Fahrverhalten der Klägerin
nicht sorgfaltswidrig (vgl. vorstehend sub a)).
c) Nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens war das am Polizeifahrzeug
eingeschaltete Blaulicht aufgrund des geraden Straßenverlaufs für die Klägerin
erkennbar (vgl. Gutachten, S. 18) - zumal im Unfallzeitpunkt (Unfall vom 8. Dezember
2005, 18.50 Uhr) Dunkelheit herrschte - und die Klägerin hätte den Unfall vermeiden
können, wenn sie das Polizeifahrzeug hätte vorbeifahren lassen; hierzu war sie nach §§ 9
Abs. 5, 10 StVO (sowohl beim Wenden als auch beim Anfahren vom Fahrbahnrand ist die
Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen - höchste Sorgfaltsstufe)
verpflichtet.
Daher ist es auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht im Rahmen der
Abwägung nach § 17 StVG die Betriebsgefahr des Polizeiwagens hat zurücktreten
lassen.
3. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des Senats
zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist
nicht erforderlich.
Es wird daher angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.
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