Urteil des KG Berlin vom 19.02.2010

KG Berlin: erlass, vollmacht, strafbefehlsverfahren, einspruch, vertretung, schweigen, sammlung, quelle, entschuldigung, berechtigung

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Gericht:
KG Berlin 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(1) 1 Ss 233/10
(17/10)
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 411 Abs 2 StPO
Leitsatz
Im Strafbefehlsverfahren reicht zur Vertretung des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin
die Anwesenheit des bevollmächtigten Verteidigers aus. Aus dessen bloßem Schweigen und
dem Absehen von einer Antragstellung darf nicht geschlossen werden, er sei
vertretungsunwillig. Hierfür bedarf es vielmehr eindeutiger Indizien.
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 19.
Februar 2010 aufgehoben.
3. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der
Revision – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten hat gegen den Angeklagten am 19. Oktober 2009 einen
Strafbefehl wegen Insolvenzverschleppung und Bankrotts erlassen. Auf seinen
rechtzeitig hiergegen eingelegten Einspruch sind ein Hauptverhandlungstermin für den
19. Februar 2010 anberaumt und der Angeklagte sowie sein Verteidiger Rechtsanwalt R.
hierzu geladen worden. Zu dem genannten Termin ist lediglich der Verteidiger
erschienen; der Angeklagte ist der Sitzung ohne genügende Entschuldigung
ferngeblieben. Das Amtsgericht hat daraufhin den Einspruch gegen den Strafbefehl
gemäß § 412 Satz 1 StPO kostenpflichtig verworfen. Die hiergegen eingelegte zulässige,
insbesondere fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten hat (vorläufigen) Erfolg
und führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das
Amtsgericht Tiergarten.
Der Erlass eines Verwerfungsurteils gemäß § 412 Satz 1 StPO setzt voraus, dass der
Angeklagte weder erschienen noch durch einen Verteidiger vertreten und das
Ausbleiben auch nicht genügend entschuldigt ist. Aus den Urteilsgründen ergibt sich,
dass der Angeklagte „auch nicht durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen
Verteidiger vertreten worden“ sei. Nach Lage der Akten war der Angeklagte indes den
Anforderungen der genannten Norm entsprechend vertreten. Eine schriftliche Vollmacht,
die ausdrücklich unter anderem seine Berechtigung zur Vertretung des Angeklagten
auch in dessen Abwesenheit umfasst, hatte der Verteidiger bereits mit Schriftsatz vom
3. November 2009 zu den Akten gereicht.
Die in ihrem Antrag auf Verwerfung der Revision vorgetragene Rechtsauffassung der
Generalstaatsanwaltschaft, darüber hinaus müsse der Verteidiger seinen Willen, den
Angeklagten zu vertreten, auch durch eine entsprechende Erklärung dokumentieren, die
das Gericht erst nach Beginn der Hauptverhandlung entgegennehmen könne, geht über
den von § 411 Abs. 2 Satz 1 vorgegebenen Rahmen hinaus. Im Strafbefehlsverfahren
hindert grundsätzlich bereits die Anwesenheit eines vertretungsberechtigten und
vertretungsbereiten Verteidigers den Erlass eines Verwerfungsurteils, es sei denn, dieser
hat Erklärungen abgegeben, die den Schluss zulassen, er sei außerstande oder nicht
gewillt, den Angeklagten in der Hauptverhandlung zu vertreten (vgl. KG, Beschluss vom
9. Januar 2002 – 5 Ws 3/02 -, zitiert nach juris). Der Verteidiger muss – ebenso wie der
Angeklagte selbst – nicht an der Verhandlung mitwirken und Erklärungen zur Sache
abgeben; er kann sich grundsätzlich darauf beschränken, anwesend zu sein und damit
zu erkennen zu geben, dass er bereit sei, von den Rechten des Angeklagten in der
Hauptverhandlung Gebrauch zu machen. Daher lässt sich aus dem bloßen Schweigen
eines Verteidigers und dem Absehen von einer Antragstellung nicht schließen, er sei
nicht vertretungswillig. Dies bedarf vielmehr eindeutiger Indizien (vgl. OLG Celle NStZ-RR
2009, 352; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen StRR 2008, 148; Fischer in KK
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2009, 352; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen StRR 2008, 148; Fischer in KK
StPO 6. Aufl., § 411 Rdnr. 14). Solche Umstände liegen hier aber gerade nicht vor. Aus
der Sitzungsniederschrift sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Verteidiger
Erklärungen abgegeben hat, die den Schluss zulassen, dass er außerstande oder nicht
gewillt sei, sich für seinen Mandanten zu äußern. Aus den Versuchen des Verteidigers,
den Angeklagten telefonisch zu erreichen, ist vielmehr zu entnehmen, dass der
Verteidiger für den Angeklagten tätig werden wollte (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall
OLG Celle aaO).
Diese Rechtsauffassung steht auch nicht im Widerspruch zu der von der
Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidung des Kammergerichts vom 18. April
1985 (abgedruckt in JR 1985, 343). In dem dort entschiedenen Fall war der Verteidiger
des nicht hinreichend entschuldigten Angeklagten lediglich in der Hauptverhandlung
erschienen, um einen Aussetzungsantrag zu stellen, und hatte seine fehlende
Bereitschaft, diesen zu vertreten, hierdurch gerade ausdrücklich dokumentiert.
Der Senat hebt daher das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache gemäß § 354
Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurück.
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