Urteil des KG Berlin vom 15.03.2017
KG Berlin: strafvollstreckung, kausalität, körperverletzung, drogensucht, straftat, bedingung, besitz, verwahrlosung, konsum, verantwortlichkeit
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Gericht:
KG Berlin 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Zs 1552/06 - 1 VAs
44/07, 1 Zs 1556/06 -
1 VAs 44/07, 1 Zs
1552/06, 1 Zs
1556/06, 1 VAs 44/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 35 Abs 1 S 1 BtMG
Betäubungsmittelabhängige Straftäter: Nachweis der Kausalität
der Drogensucht für die Begehung der Straftat und
Zurückstellung der Strafvollstreckung bei Vollstreckung einer
nicht kausalen Strafe im Rahmen der Vollstreckung mehrerer
Strafen
Leitsatz
Kausalität besteht nur bei Taten, die der Beschaffung von Drogen zur Befriedigung der Sucht
dienen sollen oder die der Täter ohne die Betäubungsmittelabhängigkeit nicht begangen
hätte. Die Drogensucht muß die Bedingung und nicht nur Begleiterscheinung der Straftat
gewesen sein.
Die Kausalität muß feststehen. Die bloße Vermutung reicht nicht aus. Die
Vollstreckungsbehörde ist nicht gehalten, dazu eine langwierige und schwierige
Beweisaufnahme durchzuführen.
Sind gegen den Verurteilten mehrere Strafen zu vollstrecken und liegen bei einer von ihnen
die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG nicht vor, so kann auch die Vollstreckung
der anderen Strafen nicht zurückgestellt werden, selbst wenn sie wegen Taten verhängt
worden sind, die der Verurteilte aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen
hatte.
Tenor
1. Der Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid der
Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 2. Juli 2007 wird verworfen.
2. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Geschäftswert wird auf 3.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
Das Landgericht Berlin (Schwurgericht) hat den Betroffenen am 20. Juni 2005 wegen
gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung einer Geldstrafe zu einer
Freiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwei Wochen verurteilt sowie seine
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet (1 Kap Js 2077/04 Ks). Nachdem
die Maßregel wegen fehlender Erfolgsaussichten durch Beschluß der
Strafvollstreckungskammer vom 16. August 2006 für erledigt erklärt worden war, wurde
der Betroffene zur Verbüßung der Freiheitsstrafe in die JVA Moabit überführt. Der
Zweidrittelzeitpunkt ist für den 28. Oktober 2007 notiert. Im Anschluß daran ist (im
Strafvollzug für Erwachsene) die weitere Vollstreckung einer Jugendstrafe von zwei Jahren
vorgesehen, die das Amtsgericht Tiergarten gegen ihn am 15. Oktober 2003 verhängt
hat (5 Op Js 137/03 Ls). Die Anträge des Betroffenen, die Strafvollstreckung in beiden
Verfahren nach § 35 BtMG zurückzustellen, hat die Staatsanwaltschaft abgelehnt. Seine
Beschwerde hat die Generalstaatsanwaltschaft zurückgewiesen. Der Antrag des
Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung bleibt ohne Erfolg.
Die nach den §§ 28 Abs. 3 EGGVG, 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG auf die ordnungsgemäße
Ermessenausübung beschränkte Überprüfung des angefochtenen Bescheides deckt
keine Rechtsfehler auf.
Unschädlich ist zunächst, daß die Staatsanwaltschaft über die Anträge entschieden hat,
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Unschädlich ist zunächst, daß die Staatsanwaltschaft über die Anträge entschieden hat,
ohne zuvor eine Erklärung der erkennenden Gerichte darüber einzuholen, ob einer
Zurückstellung der Strafvollstreckung zugestimmt wird (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 1998,
315).
Nicht zu beanstanden ist ferner, daß die Vollstreckungsbehörde für die Jugendstrafe die
Voraussetzungen der §§ 35 Abs. 1 Satz 1, 38 Abs. 1 Satz 1 BtMG nicht als gegeben
angesehen hat, weil der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen einer
Betäubungsmittelabhängigkeit des Betroffenen und dem überwiegenden Teil der
abgeurteilten Taten nicht feststeht. Insoweit unterliegt die angefochtene Entscheidung
der vollen Überprüfung durch den Senat (vgl. KG, Beschluß vom 27. Oktober 1989 – 4
VAs 13/89 -). Sie ergibt, daß die Vollstreckungsbehörde den Sachverhalt zutreffend
gewürdigt und die Anforderungen an den Kausalitätsnachweis nicht überspannt hat (vgl.
OLG Saarbrücken NStZ-RR 1996, 246).
Dem Urteil des Amtsgerichts vom 15. Oktober 2003 lagen der unerlaubte Besitz von
Betäubungsmitteln in zwei Fällen, vorsätzliches Fahren ohne Fahrerlaubnis und
versuchte Körperverletzung zugrunde. Einbezogen wurde das Urteil des Amtsgerichts
Tiergarten vom 22. August 2001, mit dem gegen den Betroffenen wegen Raubes in
Tateinheit mit Körperverletzung auf eine Jugendstrafe von einem Jahr und sechs
Monaten erkannt worden war.
Für das Verkehrsdelikt und die versuchte Körperverletzung steht nach den
Urteilsgründen außer Frage, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer
Betäubungsmittelabhängigkeit und den Taten nicht bestand, was auch der Betroffene
nicht in Abrede stellt. Soweit er allerdings meint, die Zurückstellung der
Strafvollstreckung sei schon aufgrund der Drogendelikte und der Raubtat gerechtfertigt,
teilt der Senat diese Auffassung nicht.
Richtig ist zwar, daß bei einer Gesamtstrafe oder – wie hier - einer Einheitsjugendstrafe
(§ 31 Abs. 1 Satz 1 JGG) nicht alle der Verurteilung zugrundeliegenden Taten aufgrund
einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen sein müssen. Es reicht für die
Zurückstellung der Vollstreckung vielmehr aus, wenn die Kausalität bei einem nach
Bedeutung und Gewicht überwiegenden Teil der Taten gegeben war (vgl. Körner, BtMG 5.
Aufl., Rdn. 52 zu § 35). Das ist hier aber nicht der Fall.
Hinsichtlich der im April 2001 begangenen Raubtat, des weitaus schwerwiegendsten
Delikts, ergibt sich die Kausalität weder aus den Gründen des Urteils noch steht sie
sonst fest. Eine (Mit-)Ursächlichkeit des Drogenmißbrauchs ist nicht immer schon dann
gegeben, wenn zur Tatzeit eine Rauschgiftabhängigkeit bestanden hat und in ihr –
unabhängig vom konkreten Einzelfall - allgemein eine Erklärung für das begangene
Delikt gefunden werden kann. Kausalität besteht nur bei Taten, die der Beschaffung von
Drogen zur Befriedigung der Sucht dienen sollen oder die der Täter ohne die
Betäubungsmittelabhängigkeit nicht begangen hätte (vgl. KG, Beschlüsse vom 2.
Dezember 1985 – 4 VAs 30/85 – und 20. Januar 2003 – 4 VAs 2/03 -). Die Drogensucht
muß die Bedingung und nicht nur Begleiterscheinung der Straftat gewesen sein. Das läßt
sich hier nicht feststellen.
Eine aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit verminderte Schuldfähigkeit (§ 21
StGB), bei der in der Regel die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG
anzunehmen sind (vgl. KG StV 1988, 213 mwN), ist in dem Urteil des Amtsgerichts vom
22. August 2001 für die Tatzeit nicht festgestellt. Aus den Gründen der Entscheidung
geht vielmehr hervor, daß der Antragsteller nach eigenen Angaben seit Dezember 2000
– also auch zur Tatzeit - kein Rauschgift mehr konsumiert und die Tat verübt hatte, weil
er dringend Geld benötigte, um Anwaltsrechnungen zu begleichen. Im Ergebnis nichts
anderes ergibt sich aus den damaligen Angaben des Betroffenen gegenüber der
Jugendgerichtshilfe, wonach er mit der Beute seine Mutter finanziell habe unterstützen
wollen (Bericht der JGH vom 29. Juni 2001). Soweit er im Gegensatz dazu mit seinen
Zurückstellungsanträgen erstmals behauptet hat, die Beschaffung von
Betäubungsmitteln als wahren Beweggrund der Tat in der Hauptverhandlung
verschwiegen zu haben, um eine Strafaussetzung zur Bewährung zu erreichen, kommt
dem nicht der von ihm gewünschte Beweiswert zu. Die widersprüchlichen Angaben des
Betroffenen vor Gericht und bei der Jugendgerichtshilfe belegen keineswegs, wie er
meint, die Richtigkeit seiner jetzigen Behauptung. Die ständig wechselnden Einlassungen
belegen nur die Neigung des Betroffenen, sein Aussageverhalten danach einzurichten,
mit welchen Angaben er sich Vergünstigungen verschaffen kann, was durch den
Arztbericht des Krankenhauses im Maßregelvollzug vom 22. Dezember 2005 bestätigt
wird, mit dem ihm „manipulatives Taktieren zur persönlichen Vorteilsnahme“
bescheinigt wird.
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Der Betroffene kann sich auch nicht auf das psychiatrische Gutachten des Dr. med. K.
vom 10. Mai 2005 stützen, das der Sachverständige für das Verfahren 1 Kap Js 2077/04
Ks erstattet hat. Das Gutachten befaßte sich auftragsgemäß in erster Linie mit der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Betroffenen für die am 29. September 2004, also
über drei Jahre nach der Raubtat, begangene gefährliche Körperverletzung, die mit der
Anklage zunächst (auch) als versuchter Totschlag gewertet worden war. Für den hier
maßgeblichen Zeitraum im April 2001 ist das Gutachten wenig aussagekräftig. Soweit
der Sachverständige überhaupt auf die frühere Delinquenz des Betroffenen eingegangen
ist und zu dem hier in Rede stehenden Raub ausgeführt hat, der Betroffene habe die Tat
„bei gleichzeitigem Konsum von Drogen“ verübt (S. 11), beruht das allein auf den, wie
dargestellt, nicht verläßlichen Angaben des Betroffenen. Auch die - im Rahmen der
Stellungnahme zu den Voraussetzungen des § 64 StGB - nicht näher begründete
Schlußfolgerung des Sachverständigen, die Vortaten seien „in Zusammenhang mit der
die Sucht begleitenden Verwahrlosung zu sehen“ (S. 40), erbringt noch nicht den
erforderlichen Nachweis eines unmittelbaren Kausalzusammenhanges zwischen der vom
Sachverständigen für die Tatzeit angenommenen Cannabisabhängigkeit des Betroffenen
und der Tat. Die bloße, wenn auch mit gewichtigen Anhaltspunkten begründete
Vermutung, daß die Tat ihre Ursache in der Sucht hatte, reicht für eine Zurückstellung
der Strafvollstreckung nicht aus, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht
hingewiesen hat. Die Kausalität muß nach dem eindeutigen Wortlaut des § 35 Abs. 1
Satz 1 BtMG vielmehr feststehen. Die Vollstreckungsbehörde war insoweit auch nicht
gehalten, eigene Feststellungen zu treffen. Eine langwierige und schwierige
Beweisaufnahme ist mit § 35 BtMG ohnehin nicht vereinbar (vgl. Körner aaO, Rdn. 58
mN). Ansätze für weitere Ermittlungen, die ohne einen erheblichen Aufwand den
Kausalitätsnachweis hätten erbringen können, zeigt auch der Antragsteller nicht auf.
Der im Urteil des Amtsgerichts vom 15. Oktober 2003 weiterhin geahndete Besitz von
Kokain und Marihuana zum Eigenverbrauch des Betroffenen (Tatzeiten: Dezember
2002/Januar 2003) hat für sich genommen nicht das Gewicht, um eine Zurückstellung
der Strafvollstreckung zu rechtfertigen. Daß die Staatsanwaltschaft darauf nicht
eingegangen ist, gefährdet den Bestand der angefochtenen Entscheidung daher nicht.
Ebenfalls nicht zu beanstanden ist schließlich, daß die Staatsanwaltschaft ihre
Ablehnung des Zurückstellungsantrages allein auf die gebotene Vollstreckung der
Jugendstrafe gestützt und sich wegen deren Sperrwirkung mit der Verurteilung durch das
Landgericht sowie mit der in diesem Verfahren zu Tage getretenen Therapieunwilligkeit
des Betroffenen im Maßregelvollzug nicht auseinandergesetzt hat.
Sind gegen einen Verurteilten mehrere Strafen zu vollstrecken und liegen bei einer von
ihnen die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG nicht vor, so kann auch die
Vollstreckung der anderen Strafen – wie auch § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zeigt - nicht
zurückgestellt werden, selbst wenn sie wegen Taten verhängt worden sind, die der
Verurteilte aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hatte (OLG
Karlsruhe MDR 1983, 76; OLG Hamm MDR 1983, 429; Körner, aaO, Rdn. 142).
Eine Zurückstellung der Strafvollstreckung ist danach mit Recht abgelehnt worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 30 Abs. 1 EGGVG, 130 KostO. Die Festsetzung
des Geschäftswertes beruht auf den §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 KostO.
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