Urteil des KG Berlin vom 15.03.2017

KG Berlin: bindungswirkung, örtliche zuständigkeit, untersuchungsgrundsatz, willkür, beendigung, anfang, klageänderung, erkenntnis, unrichtigkeit, link

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Gericht:
KG Berlin 2. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 AR 19/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 10a Abs 9
VersorgAusglHärteG, § 1587o
BGB, § 281 Abs 2 S 4 ZPO, §
606 Abs 3 ZPO, § 621 Abs 1 Nr 6
ZPO
Versorgungsausgleichsverfahren: Ausnahmen von der
Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses und
Fortsetzung einer abgeschlossenen
Versorgungsausgleichsfolgesache bei Geltendmachung der
Unwirksamkeit einer den Versorgungsausgleich
ausschließenden Parteivereinbarung
Leitsatz
1. Für den Fall der Geltendmachung der Unwirksamkeit einer den Versorgungsausgleich
ausschließenden Parteivereinbarung ist das vermeintlich abgeschlossene Verfahren über die
Versorgungsausgleichsfolgesache fortzuführen, und zwar auch dann, wenn auf Grundlage der
Vereinbarung eine gleichlautende, gerichtliche Entscheidung ergangen ist und die Ehesache
durch Scheidungsausspruch abgeschlossen wurde.
2. Das Eingreifen der Bindungswirkung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO ist jedenfalls dann zu
verneinen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
(a) das verweisende Gericht hat über die Zuständigkeit für ein tatsächlich gar nicht gestelltes
Klage-
bzw. Antragsbegehren entschieden, weil es den Klage- bzw. Antragsinhalt unzutreffend
ausgelegt hat,
(b) weder die Gründe des Verweisungsbeschlusses noch der sonstige Akteninhalt lassen
erkennen, dass sich das Gericht mit der Frage der Auslegung des Klage- bzw. Antragsinhalts
bewusst auseinander gesetzt hat,
(c) die Zuständigkeit des verweisenden Gerichts ist mit gewisser Eindeutigkeit zu bejahen und
(d) das Verfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz geprägt.
Tenor
Das Amtsgericht Schöneberg wird als das örtlich zuständige Gericht bestimmt.
Gründe
I.
Die Amtsgerichte Schöneberg und Stuttgart streiten über die örtliche Zuständigkeit für
ein Verfahren, in dem die Antragstellerin die Abänderung einer Entscheidung des
Amtsgerichts Schöneberg vom 28. Oktober 1992 über den Versorgungsausgleich
zwischen ihr und ihrem damaligen Ehemann, Herrn Dr. R., begehrt. In dem Verfahren,
das der Entscheidung zugrunde lag, war in der Hauptsache die Scheidung der Eheleute
betrieben worden. Schon zum damaligen Zeitpunkt lebten die Eheleute nicht mehr in
Deutschland; ihr letzter deutscher Wohnsitz lag in Stuttgart. Nachdem die Eheleute
überein gekommen waren, dass der Versorgungsausgleich ausgeschlossen sein sollte,
schied das Amtsgericht Schöneberg die Ehe und sprach im Urteilstenor aus, dass ein
Versorgungsausgleich nicht stattfinde. Das Urteil ist seit 1992 rechtskräftig. Im Jahre
2008 beantragte die nicht anwaltlich vertretene Antragstellerin beim Amtsgericht
Schöneberg die Abänderung der Versorgungsausgleichsentscheidung. In der
Begründung stützte die Antragstellerin den Antrag auf § 10a Abs. 9 VAHRG und führte
im Wesentlichen aus, sie sei mittellos und bei Abschluss der Vereinbarung über den
Versorgungsausgleich getäuscht sowie bedroht worden. Ferner legte sie dem Antrag ein
Schreiben des Bundesministeriums der Justiz vor, in dem dieses sie auf die Möglichkeit
eines Vorgehens nach § 10a Abs. 9 VAHRG ohne weitere Erläuterung hinweist. Mit
Beschluss vom 27. November 2008 erklärte sich das Amtsgericht Schöneberg auf
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Beschluss vom 27. November 2008 erklärte sich das Amtsgericht Schöneberg auf
Antrag der Antragstellerin für unzuständig und gab die Sache an das Amtsgericht
Stuttgart ab. Zur Begründung führte das Amtsgericht Schöneberg aus, dass sich die
Zuständigkeit vorliegend gemäß § 45 Abs. 3 FGG nach dem letzten inländischen
gewöhnlichen Aufenthalt der Antragstellerin richte; dieser sei Stuttgart gewesen. Weder
der Beschluss noch der sonstige Akteninhalt ließen erkennen, dass das Amtsgericht
Überlegungen zum genauen Inhalt des Rechtsschutzbegehrens der Antragstellerin
anstellte und insbesondere dazu, ob die Antragstellerin tatsächlich nach § 10a Abs. 9
VAHRG vorgehen oder die Unwirksamkeit der Versorgungsausgleichsvereinbarung aus
dem Jahre 1992 geltend machen wolle. Erstmals das Amtsgericht Stuttgart
thematisierte die Frage des Inhalts des Rechtsschutzbegehrens gegenüber der
Antragstellerin. Diese teilte daraufhin mit, keine Veränderung von Umständen im Sinne
von § 10a Abs. 9 VAHRG vortragen zu können. Sie wolle jedoch die Unwirksamkeit der
Vereinbarung geltend machen und bat um Rückgabe der Sache an das Amtsgericht
Schöneberg. Dem entsprach das Amtsgericht Stuttgart mit Beschluss vom 14. Mai
2009. Zur Begründung führte das Amtsgericht Stuttgart aus, dass im Falle der
Unwirksamkeit der Versorgungsausgleichsvereinbarung dessen prozessbeendende
Wirkung entfalle, womit das in Wahrheit nicht beendete Verfahren aus dem Jahre 1992
fortzusetzen sei. Mit Beschluss vom 20. Mai 2009 lehnte das Amtsgericht Schöneberg
die Übernahme der Sache ab und legte sie dem Kammergericht vor. Zur Begründung
führte das Amtsgericht Schöneberg aus, dass die Beendigung des Verfahrens im Jahre
1992 nicht auf der Parteivereinbarung beruhe, sondern auf der gerichtlichen
Entscheidung, wonach ein Versorgungsausgleich nicht stattfinde. Da diese Entscheidung
rechtskräftig sei, käme eine Fortsetzung des Verfahrens nicht in Betracht.
II.
1.
Das Kammergericht ist gemäß §§ 621a Abs. 1 Satz 2, 36 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 ZPO
zur Bestimmung des zuständigen Gerichtes berufen, nachdem sich die Amtsgerichte
Schöneberg und Stuttgart mit nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen für unzuständig
erklärt haben. Soweit in dem Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart lediglich von einer
„Abgabe“ die Rede ist, ist hierin stillschweigend der Ausspruch der eigenen
Unzuständigkeit enthalten.
2.
Das Amtsgericht Schöneberg ist gemäß §§ 621 Abs. 2 Satz 1, 621 Abs. 1 Nr. 6, 606 Abs.
3 ZPO a.F. in Verbindung mit §§ 261 Abs. 3 Nr. 2, 621a Abs.1 Satz 2 ZPO örtlich
zuständig.
Das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin, über das aktuell zu entscheiden ist,
besteht darin, die Unwirksamkeit der Versorgungsausgleichsvereinbarung von 1992
anzuerkennen und auf dieser Grundlage eine neue Versorgungsausgleichsentscheidung
zu treffen. Nicht hingegen ist es das aktuelle Rechtsschutzziel der Antragstellerin, eine
Änderung der seinerzeitigen Versorgungsausgleichsentscheidung nach § 10a Abs. 9
VAHRG erwirken. Dies haben die Erklärungen der Antragstellerin gegenüber dem
Amtsgericht Stuttgart hinreichend deutlich gemacht.
Für den Fall der Geltendmachung der Unwirksamkeit einer den Versorgungsausgleich
ausschließenden Parteivereinbarung ist nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes das vermeintlich abgeschlossene Verfahren über den
Versorgungsausgleich fortzuführen, und zwar auch dann, wenn auf Grundlage der
Vereinbarung eine gleichlautende, gerichtliche Entscheidung ergangen ist und die
Ehesache durch Scheidungsausspruch abgeschlossen wurde (vgl. , BGHR 2007,
401, Rdnr. 20 zit. nach Juris, m.w.N.; in Palandt, BGB, 68. Aufl. 2009, §
1587o Rdnr. 30, m.w.N.). Der Senat folgt dieser Rechtsprechung. Zur ihrer Begründung
ist zum einen anzuführen, dass die Versorgungsausgleichsfolgesache - entgegen der
Auffassung des Amtsgerichts Schöneberg - gemäß § 53d Abs. 1 FGG durch die den
Versorgungsausgleich gemäß § 1587o BGB ausschließende Parteivereinbarung beendet
wird. Die gleichlautende gerichtliche Entscheidung hat insofern lediglich deklaratorische
Bedeutung. Zum anderen ist anzuführen, dass gemäß § 261 Abs. 3 Satz 2 ZPO auch bei
Beendigung der Anhängigkeit der Ehesache die Zuständigkeit des Amtsgerichts
Schöneberg für die Fortführung der Versorgungsausgleichssache gemäß §§ 621 Abs. 1
Satz 1, 606 Abs. 3 ZPO a.F. erhalten bleibt und nicht der Zuständigkeit des
Amtsgerichts Stuttgart gemäß § 621 Abs. 2 Satz 2 ZPO i.V.m. § 45 Abs. 3 FGG weicht.
3.
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Das Amtsgericht Schöneberg hat seine Zuständigkeit nicht analog § 281 Abs. 2 Satz 4
ZPO auf Grund des Beschlusses vom 27. November 2008 verloren.
a)
Nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bewirkt ein Verweisungsbeschluss im Grundsatz bindend
die Unzuständigkeit des verweisenden Gerichtes und die Zuständigkeit des Gerichtes,
an das verwiesen wird.
Anerkannt ist jedoch zum einen, dass die Bindungswirkung ausnahmsweise dann
entfällt, wenn die Verweisung auf Willkür beruht (vgl. nur , NJW 2003, 3201 [3201];
in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 281 Rdnr. 17 m.w.N.). Dabei ist Willkür nicht allein
deshalb anzunehmen, weil die Frage der Zuständigkeit - aus Sicht des nach § 36 Abs. 1
ZPO zur Entscheidung berufenen, höheren Gerichtes oder aus Sicht der herrschenden
Meinung in der Rechtsprechung - unzutreffend beantwortet wurde. Die Grenze zwischen
der fehlerhaften, gleichwohl aber bindenden Entscheidung, und der willkürlichen
Entscheidung ist allerdings u.a. dann überschritten, wenn das verweisende Gericht die
maßgebliche Zuständigkeitsregel weder in den Entscheidungsgründen noch in einem
vorangegangenen gerichtlichen Hinweisschreiben erörtert und die Zuständigkeit des
verweisenden Gerichts mit gewisser Eindeutigkeit zu bejahen ist ( , Beschluss vom
29. Mai 2008, 2 AR 25/08, WM 2008, 1571-1572). Die Grenze wird ferner dann als
überschritten angesehen, wenn das verweisende Gericht den entscheidungsrelevanten
Sachverhalt evident falsch erfasst hat (für Verfahren mit Beibringungsgrundsatz: ,
Beschluss vom 17. April 2008, 2 AR 19/08, VersR 2008, 1234-1235; , MDR 1999, 438;
in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 281 Rdnr. 17; für Verfahren mit
Untersuchungsgrundsatz: , Beschluss vom 2. April 2009, 2 AR 10/09).
Anerkannt ist zum anderen, dass die Bindungswirkung von vornherein in solchen Fällen
nicht eingreift, in denen die Klage bzw. der verfahrenseinleitende Antrag nach der
Verweisungsentscheidung geändert wurde und daher seitdem gar nicht mehr über
denjenigen Streitgegenstand zu entscheiden ist, in Bezug auf den die
Verweisungsentscheidung erging ( , NJW 1990, 53, Rdnr. 8 zit. nach Juris).
b)
Im Anschluss an diese anerkannten Grundsätzen ist auch vorliegend das Eingreifen der
Bindungswirkung zu verneinen.
aa)
Zwar hat die Antragstellerin ihren verfahrenseinleitenden Antrag nicht nach Erlass der
Abgabeentscheidung geändert. Denn die Auslegung ihres Antrages ergibt, dass sie von
Anfang an nicht nach § 10a Abs. 9 VAHRG vorgehen wollte, sondern die Unwirksamkeit
der Versorgungsausgleichsvereinbarung aus dem Jahre 1992 geltend gemacht hat. Dies
folgt aus dem Umstand, dass die Antragstellerin ihren Antrag von Anfang an nicht mit
Umstandsänderungen begründet hat, wie sie Voraussetzung für ein Vorgehen nach §
10a Abs. 9 VAHRG gewesen wären, sondern mit Umständen, die auf die Unwirksamkeit
der Vereinbarung abzielen. Demgegenüber hat die Bezugnahme der Antragstellerin auf
die Vorschrift des § 10a Abs. 9 VAHRG in der Antragsbegründung keinen inhaltlichen
Aussagegehalt. Denn Hintergrund der Bezugnahme war offenbar nicht die eigene
Erkenntnis der Antragstellerin über den Inhalt der Vorschrift, sondern das unhinterfragte
Aufgreifen eines Hinweises des Bundesministeriums der Justiz.
Jedoch ist das Eingreifen der Bindungswirkung auch bei Vorliegen folgender
Voraussetzungen zu verneinen:
(a) das verweisende Gericht hat über die Zuständigkeit für ein tatsächlich gar nicht
gestelltes Klage- bzw. Antragsbegehren entschieden, weil es den Klage- bzw.
Antragsinhalt unzutreffend ausgelegt hat,
(b) weder die Gründe des Verweisungsbeschlusses noch der sonstige Akteninhalt lassen
erkennen, dass sich das Gericht mit der Frage der Auslegung des Klage- bzw.
Antragsinhalts bewusst auseinander gesetzt hat,
(c) die Zuständigkeit des verweisenden Gerichts ist mit gewisser Eindeutigkeit zu
bejahen und
(d) das Verfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz geprägt.
Hierfür spricht zum einen, dass in diesen Fällen - im Hinblick auf (a) - der Grundgedanke
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Hierfür spricht zum einen, dass in diesen Fällen - im Hinblick auf (a) - der Grundgedanke
der o.g. genannten Rechtsprechung zur Klageänderung Platz greift, dass nämlich die
Bindungswirkung sich nur auf denjenigen Streitgegenstand beziehen kann, über den das
verweisende Gericht in seinem Beschluss eine Entscheidung getroffen hat. Zum anderen
ist dem verweisenden Gericht auch in diesen Fällen - im Hinblick auf (b) und (c) - Willkür
im o.g. Sinne vorzuwerfen. Denn das Gericht erörtert die in Wahrheit maßgebliche
Zuständigkeitsvorschrift nicht, womit nach o.g. Grundsätzen bereits eine gewisse
Eindeutigkeit der Unrichtigkeit der Verweisungsentscheidung die Annahme der Willkür
begründet. Schließlich ist dem verweisenden Gericht zwar nicht auch ein Willkürvorwurf
wegen der Evidenz der Fehlerfassung des Klage- bzw. Antragsinhaltes zu machen,
analog zu den Grundsätzen der Rechtsprechung bei fehlerhafter Sachverhaltserfassung
(s.o.). Jedoch trifft das Gericht - im Hinblick auf (d) - auch bei „einfacher“ Fehlerfassung
des Klage- bzw. Antragsinhaltes immerhin ein gewisser Vorwurf, wenn das Verfahren
vom Untersuchungsgrundsatz geprägt ist. Denn dann hätte sich das Gericht aus
eigenem Antrieb um die Aufklärung des der Klage bzw. dem Antrag zu Grunde liegenden
Sachverhaltes und insofern auch um die zutreffende Auslegung der Klage bzw. des
Antrages bemühen müssen.
bb)
Die genannten Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. So hat das Amtsgericht
Schöneberg über die Zuständigkeit für einen tatsächlich nicht gestellten Antrag nach §
10a Abs. 9 VAHRG entschieden, weil es den Antrags - wie unter bb) ausgeführt -
unzutreffend ausgelegt hat. Ferner lassen weder die Gründe des Beschlusses vom 27.
November 2008 noch der sonstige Akteninhalt erkennen, dass sich das Gericht mit der
Frage der Auslegung des Antragsinhalts bewusst auseinander gesetzt hat. Auch ist die
Zuständigkeit des Amtsgerichts Schöneberg - wie unter 2. ausgeführt - zumindest mit
gewisser Eindeutigkeit zu bejahen. Schließlich ist das Verfahren gemäß §§ 621 Abs. 1 Nr.
6, 621a Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 12 FGG vom Untersuchungsgrundsatz geprägt.
Offen kann daher bleiben, ob das Eingreifen der Bindungswirkung schon bei Vorliegen
einzelner, unter aa) genannter Voraussetzungen zu verneinen ist.
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