Urteil des KG Berlin vom 15.03.2017
KG Berlin: rechtliches gehör, fahrstreifen, kollision, betriebsgefahr, unfall, akte, stillstand, anhalten, beweiswürdigung, mithaftung
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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 205/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 7 Abs 5 StVO, § 35 Abs 1
StVO, § 35 Abs 8 StVO, § 398
ZPO, § 525 ZPO
Leitsatz
Im Falle des Auffahrunfalls ist der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden entkräftet, wenn
sich die Kollision in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem
Fahrstreifenwechsel (§ 7 Abs. 5 StVO) ereignet hat.
Wechselt ein Polizeifahrzeug, das nach § 35 Abs. 1 StVO von den Vorschriften der StVO
entbunden ist, den Fahrstreifen, um diesen für den Berufsverkehr freizugeben und setzt sich
so dicht vor das in langsamer Fahrt befindliche, durch Polizeikelle zum Anhalten aufgeforderte
Fahrzeug, dass dieses auffährt, so steht diese Fahrweise des Polizisten außer Verhältnis zu
dem unmittelbar verfolgten Zweck.
Die dem Sonderrechtsfahrer, der nach § 35 Abs. 1 StVO von Vorschriften der StVO befreit ist,
gemäß § 35 Abs. 8 obliegende Sorgfaltspflicht ist umso größer, je mehr seine gegen die StVO
verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe nicht außer Verhältnis
stehen darf, die Unfallgefahr erhöht.
Das Berufungsgericht muss die in erster Instanz vernommenen Zeugen nur dann nochmals
vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als das Erstgericht (§§ 529 Abs. 1
Nr. 1, 525, 398 ZPO).
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 S. 1 ZPO durch Beschluss
zurückzuweisen.
Gründe
Der Kläger macht gegen das beklagte Land Schadensersatzansprüche wegen eines
Verkehrsunfalls mit einem Zivilstreifenfahrzeug geltend.
Der Kläger befuhr am 13. Oktober 2008 mit seinem Pkw (BMW) den Kaiserdamm in
Berlin-Charlottenburg in östlicher Richtung auf dem zweiten Fahrstreifen von links. Zum
Zwecke einer polizeilichen Kontrolle wurde ihm kurz vor der Ampel an der kreuzenden
Wundtstraße von Polizeibeamten aus einem links und aus einem rechts neben ihm
fahrenden zivilen Polizeifahrzeug eine Polizeikelle mit der Aufschrift “Halt!” gezeigt. Der
rechts neben dem Kläger fahrende Polizeibeamte, der Zeuge D., steuerte sein Kfz vor
den Pkw des Klägers in dessen Fahrstreifen. Als er sich teils in dem Fahrstreifen des
Klägers, teils noch in dem rechts davon gelegenen Fahrstreifen befand, kam es zu einer
Kollision der beiden Kfz, bei der die vordere rechte Ecke des klägerischen und die hintere
linke Ecke des Polizeifahrzeugs aneinanderstießen.
Die Nettoreparaturkosten des klägerischen Kfz beliefen sich laut
Sachverständigengutachten auf 2.512,24 EUR. Die Kosten für die Begutachtung
betrugen 429,71 EUR. Der Beklagte erstattete unter Verrechnung der Hälfte des an
seinem Kfz entstandenen Schadens 1.151,14 EUR. Der Kläger hat den Ersatz des
Differenzbetrages zuzüglich einer Kostenpauschale in Höhe von 20,00 EUR verlangt.
Der Kläger hat behauptet, er sei aus dem fließenden Verkehr gestoppt worden und das
Polizeifahrzeug habe sein Fahrzeug beim Einlenken nach links gestreift.
Der Beklagte hat behauptet, der Kläger habe die Schäden verursacht und verschuldet,
indem er mit seinem zuvor stehenden Fahrzeug angefahren und gegen das sich vor ihm
befindende Polizeifahrzeug gestoßen sei.
Das Landgericht hat nach Beweiserhebung durch Einvernahme der Zeugen Ö., D. und S.
sowie Anhörung des Klägers der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, an
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sowie Anhörung des Klägers der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, an
den Kläger 1.810,81 EUR zu zahlen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Dem Kläger stehe ein Schadensersatzanspruch gemäß § 7 Abs. 1 StVG zu. Bei der
Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG trete die einfache Betriebsgefahr des
Klägerfahrzeugs hinter der durch das Verschulden des Fahrers erhöhten Betriebsgefahr
des Polizeifahrzeugs zurück. Dem Beklagten sei es nicht gelungen, den gegen den
Zeugen D. sprechenden Beweis des ersten Anscheins, bei seinem Fahrstreifenwechsel
und der Kollision mit dem Klägerfahrzeug im nachfolgenden Verkehr den besonderen
Sorgfaltspflichten des § 7 Abs. 5 StVO nicht nachgekommen zu sein, zu widerlegen oder
zu erschüttern.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten, mit der er weiterhin die
Klageabweisung erstrebt. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus:
Die dem Beklagten vom Landgericht zugewiesene Haftung von 100 % sei nicht zu
rechtfertigen.
Das Landgericht habe einen Anscheinsbeweis zu Lasten des Zeugen D. angenommen.
Ein konkreter typischer Geschehensablauf, der Voraussetzung eines Anscheinsbeweises
sei, liege hier aber nicht vor, weil nicht typisch sei, dass ein Kfz mittels Anhaltekellen
gestoppt werde und auch nicht, dass ein Fahrer, der die Anhalteanweisung
wahrgenommen habe, sein Kfz ausrollen oder anrollen lasse.
Ein Anscheinsbeweis gegen den Kläger, der im Ausrollen aufgefahren sei, sei nicht
geprüft worden.
Die Aussagen der Zeugen seien, anders als das Landgericht angenommen habe, nicht
gleichwertig. Die Aussagen der Polizeibeamten seien zu Unrecht in Zweifel gezogen
worden. Die Aussagen des Zeugen Ö. und des Klägers seien hingegen nicht auf ihre
Glaubwürdigkeit überprüft worden. Die Beweiswürdigung verstoße daher gegen § 286
ZPO.
Die Behauptung des Klägers, das Polizeifahrzeug habe den klägerischen Pkw gestreift,
werde durch die Schäden an diesem widerlegt. Es sei ausdrücklich
Sachverständigenbeweis dafür angeboten worden, dass das Polizeifahrzeug nicht
entgegen seiner Fahrtrichtung gegen das klägerische Kfz habe stoßen können. Die
Nichterhebung des Beweises verstoße gegen den Anspruch des Beklagten auf
rechtliches Gehör.
Ein non liquet bei dem Beweisergebnis müsse zur Klageabweisung führen.
Ein Mitverschulden und eine Mithaftung des Klägers ergäben sich bereits daraus, dass er
nach seiner Version sein Fahrzeug habe ausrollen lassen und es nicht bis zum Stillstand
abgebremst habe.
Würde angenommen, das Polizeifahrzeug habe den klägerischen Pkw gestreift, liege eine
Unvorsichtigkeit und damit ein einfacher Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO vor, der ohne
Hinzutreten weiterer Umstände nicht zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr und zu
einem vollständigen Zurücktreten der Betriebsgefahr des klägerischen Kfz führe.
II. Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg, die Rechtssache hat keine grundsätzliche
Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Berufungsgerichts, § 522 Abs. 2 S. 1
ZPO.
Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung erfolgreich nur darauf gestützt werden, dass
die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder
nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung
rechtfertigen. Beides ist hier indes nicht der Fall.
Das angegriffene Urteil ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Dem Kläger steht gegen
den Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz in der geltend gemachten Höhe
nach einer Quote von 100 % gemäß § 7 Abs. 1 StVG zu.
1. Der Unfall stellt sich für keine der Parteien als unabwendbares Ereignis nach § 17 Abs.
3 S. 1 StVG dar, da nämlich keine der Parteien mangels entsprechender Darlegung für
sich in Anspruch nehmen kann, dass sich die Fahrer der unfallbeteiligten Fahrzeuge auf
ein etwaiges Fehlverhalten des jeweils anderen eingestellt hätten.
2. Bei der danach gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG erforderlichen Abwägung der
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2. Bei der danach gemäß § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG erforderlichen Abwägung der
jeweiligen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Kfz hat
das Landgericht zu Recht die alleinige Haftung des beklagten Landes angenommen.
a) Anders allerdings als vom Landgericht angenommen, liegt ein Sorgfaltspflichtverstoß
des Fahrers des Polizeifahrzeugs nicht in einem Verstoß gegen die besonderen
Sorgfaltspflichten, die § 7 Abs. 5 StVO dem Fahrstreifenwechsler auferlegt. Insofern
spricht gegen den Fahrer des Polizeifahrzeugs auch nicht der Beweis des ersten
Anscheins.
Denn dieser war gemäß § 35 Abs. 1 StVO von den Vorschriften dieser Verordnung
befreit. Diese Befreiung setzt nach § 35 Abs. 1 StVO voraus, dass sie zur Erfüllung
hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist. Das ist hier der Fall gewesen, weil die
Polizisten den Kläger wegen seines ihnen verdächtig erscheinenden Verhaltens vor
einem A.-Markt überprüfen wollten, nachdem es eine Reihe von Raubüberfällen auf A.-
Märkte gegeben hatte.
b) Es liegt jedoch ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten des § 35 Abs. 8 StVO vor.
Das mit der Befreiung von den Vorschriften der StVO einhergehende Sonderrecht
gemäß § 35 Abs. 1 StVO darf nämlich gemäß § 35 Abs. 8 StVO nur unter gebührender
Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Das
bedeutet, dass der Sonderrechtsfahrer der erhöhten Unfallgefahr, die er durch das
Abweichen von den Vorschriften herbeiführt, durch besondere Aufmerksamkeit und
Vorsicht begegnen muss. Die ihm obliegende Sorgfaltspflicht ist umso größer, je mehr
seine gegen die StVO verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen
Aufgabe nicht außer Verhältnis stehen darf, die Unfallgefahr erhöht (Senat, NZV 2008,
147, 148; KGR 2005, 664).
Diesen Anforderungen ist der Fahrer des rechts neben dem Kläger fahrenden
Polizeifahrzeugs, der Zeuge D., nicht gerecht geworden.
aa) Offen bleiben kann dabei, ob die Behauptung des Klägers, er sei von dem
Polizeifahrzeug gestreift worden, zutrifft. Denn die zusammenfassende Würdigung des
vorgetragenen Sachverhalts, der vom Landgericht erhobenen Beweise und des Inhalts
der beigezogenen Akte Amtsanwaltschaft Berlin 3024 PLs 1544/09 Ve führen jedenfalls
zu der Überzeugung des Senats, dass der Zeuge D. mit dem von ihm geführten
Polizeifahrzeug mit kurzem Abstand in den Fahrstreifen des Klägers wechselte, als dieser
noch oder schon wieder fuhr und dadurch den Unfall schuldhaft verursachte.
(1) Der Zeuge D. hat zwar bekundet, das Klägerfahrzeug habe gestanden, als er sich in
eine frei werdende Lücke vor dieses mit seinem Fahrzeug gesetzt habe. Zur Kollision sei
es später, nämlich nach seinem Anhalten gekommen. Der Zeuge S. gab an, der Zeuge
D. habe sich vergewissert, dass das Klägerfahrzeug stehen geblieben sei, als er sich vor
dieses setzte. Erst dann sei dieses irgendwie losgerollt (Protokoll der mündlichen
Verhandlung vom 8. Oktober 2009).
Der Kläger hat demgegenüber bei seiner Anhörung angegeben, er sei gerollt, als ihm
von links die rote Kelle gezeigt worden sei. Daraufhin habe er abgebremst. In dem
Augenblick sei die andere Zivilstreife von rechts in seine Fahrspur gekommen, ganz
plötzlich. Der Zeuge Ö., damals Beifahrer des Klägers, gab an, sie seien auf der
mittleren Spur gefahren, als plötzlich von rechts und links Zivilfahrzeuge gekommen
seien und von links die Kelle gehalten worden sei. Das rechte Fahrzeug sei links rüber
gefahren und habe sie mit dem Hinterteil gestreift. Bei der Kollision seien sie zum
Stillstand gekommen (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17. September 2009).
Das Landgericht hat Zweifel an den Aussagen der Zeugen D. und S. geäußert.
Das Landgericht hat seine Zweifel u. a. daran festgemacht, dass nicht nachvollziehbar
erscheine, wie die Zeugen das Vorrollen des klägerischen Pkw gesehen haben wollen. Ob
das Landgericht die Zeugen hätte fragen müssen, ob sie sich umgeschaut hätten, wie
die Berufung meint, kann dahin stehen. Der Senat tritt der Würdigung des Landgerichts
bei. Denn die Zweifel an den Aussagen werden durch weitere Umstände erhärtet.
Insofern kann hier zunächst auf den Schadensaufnahmebericht der Polizei unmittelbar
nach dem Unfall abgestellt werden. Dort wird als Äußerung des Zeugen D. angegeben
(Bl. 2 der Akte Amtsanwaltschaft Berlin 3024 PLs 1544/09 Ve): “Ich setzte mich vor den
Pkw mit Zeigen der Polizeianhaltekelle, als wir noch leicht vor ihm rollten, stieß uns der
Pkw von hinten an der linken hinteren Seite an.”
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Dass der Kläger zunächst gestanden haben soll und erst anfuhr/anrollte, als der Zeuge
D. auf seinen Fahrstreifen wechselte, wird nicht berichtet. Stattdessen soll das
Polizeifahrzeug noch gerollt sein, als es zur Kollision kam. Vor dem Landgericht gab der
Zeuge aber zunächst an, dass er schon angehalten habe, als es zum Zusammenstoß
kam. Erst auf Vorhalt seiner früheren Angabe, änderte er seine Aussage dahin ab, dass
beide Fahrzeuge gerollt seien (Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 8. Oktober
2010).
Der Zeuge POM J. gab im Ermittlungsverfahren als Zeuge schriftlich die Erklärung ab (Bl.
43 der Akte Amtsanwaltschaft Berlin 3024 PLs 1544/09 Ve): “Ich (…) gab links von dem
BMW mittels rot leuchtender Kelle “Halt Polizei”. Der Fz.-Führer verzögerte, aber nicht
bis zum Stillstand. Nachdem die Kontrolle abgeschlossen war, wurde die Berührung vorn
rechts festgestellt.”
Der Zeuge berichtet also, dass das Klägerfahrzeug gefahren sei und nicht bis zum
Stillstand gebremst habe. Auch wenn er den Zusammenstoß selbst nicht gesehen hat,
berichtet er von einem Wiederanfahren des BMW nichts.
Der Zeuge PK J. gab im Ermittlungsverfahren als Zeuge schriftlich die Erklärung ab (Bl.
45 der Akte Amtsanwaltschaft Berlin 3024 PLs 1544/09 Ve): “Zum Zeitpunkt des Umfalls
befand ich mich (…) hinter dem zu kontrollierenden BMW. Ich habe gesehen, wie dem
Fahrzeugführer des BMW durch den Beifahrer des links neben dem BMW fahrenden
Zivilwagens die Anhaltekelle gezeigt wurde, daraufhin wurde der BMW langsamer und
verringerte seine Geschwindigkeit bis zum Stillstand. Weiterhin habe ich gesehen, dass
sich rechtsseitig ein weiterer Zivilwagen befand. Dieser verlangsamte seine
Geschwindigkeit im gleichen Maße wie der BMW. Wie es dann zu dem Zusammenstoß
kam, kann ich nicht sagen.”
Auch dieser Zeuge gibt an, dass dem fahrenden BMW die Anhaltekelle gezeigt worden
sei, der darauf im gleichen Maße wie das rechts neben ihm fahrende Polizeifahrzeug
gebremst habe. Ein Wiederanfahren des BMW berichtet auch er nicht.
Der Zeuge PK G. hat im Ermittlungsverfahren schriftlich angegeben (Bl. 47 der Akte
Amtsanwaltschaft Berlin 3024 PLs 1544/09 Ve): “Im Augenblick des Unfalls befand ich
mich (…) direkt hinter dem zu kontrollierenden Fahrzeug. Am
Kaiserdamm/Witzlebenplatz hielt das Fzg. als 2. oder 3. Pkw an der roten LZA. Deshalb
sollte das Fahrzeug hier kontrolliert werden. Kurz bevor das Fzg. kontrolliert werden
konnte, schaltete die LZA auf grün und das Fahrzeug fuhr mit Schrittgeschwindigkeit los.
Nun setzte sich von rechts kommend ein Z-Pkw (…) unter Vorhalten des Anhaltestabes
davor. Es erfolgte die Überprüfung der Insassen. Dabei wurde festgestellt, dass es zum
VU gekommen war.”
Dieser Zeuge gibt zwar an, dass der BMW zunächst an der roten Ampel gestanden
habe, dann aber bei grünem Licht langsam angefahren sei. Erst in diesem Moment sei
das Polizeifahrzeug unter Zeigen der Anhaltekelle davor gefahren.
Der Zeuge PHM Ks gab schriftlich als Zeuge an (Bl. 54 der Akte Amtsanwaltschaft Berlin
3024 PLs 1544/09 Ve): “Im Rahmen von Schutzmaßnahmen der Fa. A. (…) wurde durch
uns der Pkw an der rot abstrahlenden LZA angehalten. Die Zivilstreife (…) befuhr den
Fahrstreifen re. neben dem Fahrzeug des Ks und forderte diesen ebenfalls auf,
anzuhalten. (…) PHM D. (…) wechselte auf den Fahrstreifen, auf dem der Ks fuhr.”
Auch dieser Zeuge schildert den Unfall so, dass der fahrende BMW angehalten wurde.
Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass alle Unfallbeteiligten mit
Ausnahme der beiden Insassen des am Unfall beteiligten Polizeifahrzeugs den Vorfall
derart schildern, dass der BMW des Klägers – wenn auch sehr langsam – fuhr, als er zum
Anhalten aufgefordert wurde. Der Fahrstreifenwechsel des Polizeifahrzeugs von rechts
nach links erfolgte nach Bekundung dieser Zeugen, soweit geschildert, ebenfalls vor den
fahrenden BMW. Ein Wiederanfahren oder Anrollen des BMW nach Befolgen des
Haltegebotes wird von diesen Zeugen nicht berichtet.
Hieraus ergibt sich zur Überzeugung des Senats, dass der Zeuge Ds das von ihm
geführte Kfz in kurzem Abstand vor den (noch) fahrenden BMW lenkte und dass es
dabei, und nicht erst durch ein erneutes Anfahren oder Anrollen des BMW zu der Kollision
kam.
(2) Der Senat kann die Beweise in dieser Weise würdigen, ohne die vom Landgericht
vernommenen Zeugen erneut vernehmen zu müssen.
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Das Berufungsgericht muss die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen
nochmals vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz
(BGH, NJW-RR 2009, 1291 m. w. Nachw.). Der Senat würdigt die Aussagen der Zeugen
jedoch nicht anders.
Vielmehr schließt sich der Senat den vom Landgericht nach den Grundsätzen der freien
Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO gewonnenen Überzeugung an.
Das Landgericht hat ausdrücklich Zweifel an den Aussagen der Zeugen D. und S.
geäußert. Das Landgericht ist nicht davon ausgegangen, dass die Aussagen des Zeugen
Ö. und die Angaben des Klägers gleichwertig seien, sondern es hat ausgeführt, dass sie
“zumindest” gleichwertig seien, letztlich also wegen der an den Aussagen der Zeugen D.
und S. geäußerten Zweifel mehr Gewicht besäßen.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist entgegen den Angriffen der Berufung nicht zu
beanstanden.
§ 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das
bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze und
ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess
gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf (Greger
in Zöller, ZPO, 28. Auflage, § 286, Rn. 13).
Gemessen hieran zeigt die Berufung keine Fehler der Beweiswürdigung auf. Sie setzt
vielmehr nur ihre eigene abweichende Würdigung an die Stelle der Beweiswürdigung des
Landgerichts. Damit dringt die Berufung nicht durch.
bb) Das danach feststehende Fahrverhalten des Zeugen D. begründet einen Verstoß
gegen die dem Sonderrechtsfahrer obliegende Sorgfaltspflicht des § 35 Abs. 8 StVO.
Ordnungswidrig ist nämlich das Gefährden von Sachen (Hentschel/König/Dauer,
Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage, § 35 StVO, Rn. 21). Denn die Sonderrechtsstellung
rechtfertigt nur die Behinderung oder Belästigung anderer, sie enthebt aber nicht die
Bevorrechtigten vom Verbot der konkreten Gefährdung (vgl. BGH, VRS 32, 321, 324;
Kulik, NZV 1994, 58, 59).
Deshalb hätte der Zeuge D. den Fahrstreifenwechsel erst vornehmen dürfen, nachdem
er sich sicher davon überzeugt hatte, dass der Kläger steht oder er hätte mit einem
größeren Abstand zum BMW hinüber wechseln müssen, um dem noch rollenden BMW
genügend Platz zum Anhalten zu lassen.
cc) Einer weiteren Beweiserhebung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens
bedarf es nicht. Der Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör ist nicht verletzt
worden.
Selbst wenn die Behauptung des Beklagten zuträfe, dass das klägerische Kfz von hinten
auf das Polizeifahrzeug aufgefahren sei und sich die klägerische Darstellung, das
Polizeifahrzeug habe sein Kfz beim Fahrstreifenwechsel gestreift, unzutreffend wäre,
änderte dies an der Haftung des Beklagten nichts. Denn der Beklagte haftet sowohl für
das Anfahren des klägerischen Kfz als auch für den mit so kleinem Abstand
ausgeführten Fahrstreifenwechsel, dass der Kläger das Auffahren nicht mehr verhindern
konnte.
Die riskante Fahrweise steht auch außer Verhältnis zu dem unmittelbar damit verfolgten
Zweck. Denn die Zeugen D. und S. haben angegeben, sie hätten den dritten
Fahrstreifen für den Berufsverkehr freigeben wollen. Dazu hätten sie nicht so dicht vor
dem klägerischen Kfz den Fahrstreifen wechseln müssen.
c) Einen Sorgfaltspflichtverstoß des Klägers hat das Landgericht mit Recht nicht
angenommen.
aa) Einen gegen den Kläger sprechenden Anscheinsbeweis, seine Sorgfaltspflichten
verletzt zu haben, indem er auf das vor ihm fahrende Polizeifahrzeug aufgefahren ist,
hat das Landgericht zu Recht nicht in Erwägung gezogen.
Im Fall eines Auffahrunfalls spricht zwar der Anscheinsbeweis dafür, dass der
Auffahrende den Unfall sorgfaltswidrig verursacht hat (BGH, NZV 2007, 354, Tz. 5). Der
Anscheinsbeweis ist jedoch entkräftet, wenn der Vorausfahrende erst einige Augenblicke
vor dem Auffahrunfall in den Fahrstreifen des Auffahrenden gewechselt ist und sich die
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vor dem Auffahrunfall in den Fahrstreifen des Auffahrenden gewechselt ist und sich die
Kollision beider Fahrzeuge daher in einem unmittelbar zeitlichen und örtlichen
Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel ereignet hat (Senat, Beschluss vom 6.
Mai 2010 – 12 U 144/09, BeckRS 2010, 18950; NZV 2008, 198, 199; NZV 2006, 374,
375; KGR 1997, 223, 224; KG, 22. ZS, KGR 2003, 2727, 273).
Das ist hier nach dem unstreitigen Vorbringen beider Parteien der Fall gewesen.
bb) Der Beklagte hat auch im Übrigen weder hinreichend dargelegt noch bewiesen, dass
der Kläger nicht ausreichend sorgfältig seiner Anhaltepflicht nachgekommen oder
ungenügend aufmerksam gewesen ist.
Der Beklagte hat schon nicht konkret dargelegt, in welchem Abstand der Zeuge D. vor
dem Kläger den Fahrstreifen gewechselt hat. Fest steht nur, dass es sich nicht um einen
großen Abstand gehandelt haben kann, weil der Zeuge D. in eine Lücke gefahren sein
will, die frei wurde, nachdem bei grünem Ampellicht ein vor dem Kläger haltendes Kfz
weggefahren sei. Ob der Kläger überhaupt noch rechtzeitig hätte anhalten können, ist
daher völlig offen.
Selbst soweit sich der Beklagte hilfsweise das Vorbringen des Klägers zu Eigen macht, er
sei noch ausgerollt, nachdem ihm die Anhaltekelle gezeigt worden sei, liegt darin kein
sorgfaltswidrigen Verhalten. Denn es ist zu berücksichtigen, dass der Kläger allenfalls
sehr langsam gefahren ist und daher nur noch mit einem kurzen Anhalteweg zu rechnen
war. Dass sich ein Fahrzeug dicht vor ihn setzen würde, war für ihn nicht vorhersehbar.
Darüber hinaus kann nicht außer Acht gelassen werden, dass sich auch hinter dem
Kläger noch ein Polizeifahrzeug befand, so dass ein abruptes Abbremsen des Klägers zu
einer unnötigen Gefährdung des hinter ihm fahrenden Kfz hätte führen können.
d) Zutreffend hat das Landgericht eine alleinige Haftung des beklagten Landes
angenommen.
In der Regel haftet der Vorausfahrende bei einem sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel
für den Unfallschaden allein. Eine Mithaftung des anderen Unfallbeteiligten kommt nur
dann in Betracht, wenn der Fahrstreifenwechsler Umstände nachweist, die ein
Mitverschulden des anderen belegen. Allein die Betriebsgefahr des unfallbeteiligten Pkw
rechtfertigt keine Mithaftung des anderen Verkehrsteilnehmers (Senat, NZV 2005, 527,
528; VRS 106, 23, 25; KG, 22. ZS, KGR 2003, 272, 273).
Ein Mitverschulden des Klägers ist hier nicht festzustellen. Der Umstand, dass der Fahrer
des Polizeifahrzeugs aufgrund des Sonderrechts gemäß § 35 Abs. 1 StVO von den
Pflichten des § 7 Abs. 5 StVO entbunden war, rechtfertigt vorliegend keine andere
Entscheidung. Denn der Fahrstreifenwechsel stellte sich auch hier als eine deutlich
gefahrerhöhende Fahrweise dar und erforderte daher die Beachtung entsprechend
hoher Sorgfaltspflichten gemäß § 35 Abs. 8 StVO. Der Verstoß gegen sie steht hier bei
der Abwägung einem Verstoß gegen § 7 Abs. 5 StVO gleich und lässt die einfache
Betriebsgefahr des klägerischen Kfz zurücktreten.
III.
Es wird daher angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.
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