Urteil des KG Berlin vom 23.07.2002

KG Berlin: fahrbahn, verschulden, betriebsgefahr, geschwindigkeitsüberschreitung, kollision, verkehrsunfall, sorgfalt, entlastungsbeweis, vollstreckung, halter

1
2
Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 281/02
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 254 Abs 1 BGB, § 7 Abs 2
StVG vom 19.12.1952, § 9 StVG,
§ 11 StVG, § 17 StVG
Haftung beim Verkehrsunfall: Nachweis der Unabwendbarkeit
des Unfalls; gerichtliche Abwägung der Verursachungs- und
Verschuldensanteile
Tenor
Die Berufung der Beklagten zu 2. gegen das am 23. Juli 2002 verkündete Urteil der
Zivilkammer 17 des Landgerichts Berlin – 17 O 429/01 – wird zurückgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers, die im Übrigen zurückgewiesen wird, wird das genannte
Urteil teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger
a) 556,91 EUR nebst 4 % Zinsen seit 10. Oktober 2001,
b) eine monatliche Rente in Höhe von 89,48 EUR, zahlbar zum 1. eines jeden
Monats, erstmals ab 1. August 2001 bis einschließlich 1. Februar 2036
zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem
Kläger 25 % der zukünftigen materiellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 12.
August 1998 zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder
sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Widerklage wird abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 84 % und die Beklagten 16 % zu
tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Parteien wird nachgelassen, die Vollstreckung
durch die jeweils andere Partei durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden
Betrages zuzüglich 10 % abzuwenden, wenn nicht die andere Partei vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
I. Die Berufungen der Beklagten zu 2. und des Klägers richten sich gegen das Urteil der
Zivilkammer 17 des Landgerichts Berlin vom 23. Juli 2002, auf dessen Tatbestand und
Entscheidungsgründe Bezug genommen wird. Die Beklagte zu 2. hat gegen das ihr am
1. Oktober 2002 zugestellte Urteil mit einem am 8. Oktober 2002 eingegangenen
Schriftsatz Berufung eingelegt und gleichzeitig begründet. Der Kläger hat gegen das ihm
am 1. Oktober 2002 zugestellte Urteil am 30. Oktober 2002 Berufung eingelegt und
diese mit einem am 25. November 2002 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz
begründet.
Die Beklagte zu 2. begehrt mit ihrem Rechtsmittel die vollständige Abweisung der Klage
und macht geltend, das Landgericht habe zu Unrecht verneint, dass sich der Unfall aus
Sicht der Beklagten als unabwendbares Ereignis im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG a. F.
dargestellt habe. Nach dem vom Landgericht eingeholten Gutachten des
Sachverständigen Prof. Dr. R sei der Unabwendbarkeitsnachweis geführt. Wenn das
Landgericht ausführe, der Beklagte zu 1. hätte den Unfall möglicherweise durch ein
Hupsignal, eine Verringerung der Geschwindigkeit oder eine Vollbremsung vermeiden
können, sei dies reine Spekulation. Zudem habe das Landgericht bei der gemäß §§ 9, 17
StVG, 254 BGB erforderlichen Abwägung übersehen, dass die von dem bei der
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
StVG, 254 BGB erforderlichen Abwägung übersehen, dass die von dem bei der
Beklagten zu 2. gegen Haftpflicht versicherten Kraftfahrzeug ausgehende Betriebsgefahr
hinter dem groben Verschulden des Klägers vollständig zurückzutreten habe.
Die Beklagte zu 2. beantragt,
unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage insgesamt
abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zu 2. zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt zur eigenen Berufung,
das Urteil des Landgerichts Berlin teilweise abzuändern und festzustellen, dass die
Beklagten als Gesamtschuldner dem Kläger 70 % des künftigen materiellen Schadens
aus dem Verkehrsunfall vom 12. August 1998 zu ersetzen haben, soweit Ansprüche auf
Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen
werden.
Die Beklagten zu verurteilen,
als Gesamtschuldner 7.014,92 EUR nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit
an den Kläger zu bezahlen.
Die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
dem Kläger eine monatliche Rente in Höhe von 250,53 EUR, zahlbar bis zum 1. eines
jeden Monats, seit dem 1. August 2001 zu bezahlen.
Der Kläger verfolgt die erstinstanzlichen Anträge weiter, soweit das Landgericht sie mit
dem angefochtenen Urteil abgewiesen hat. Er meint, das Landgericht habe die
Betriebsgefahr des bei der Beklagten zu 2. gegen Haftpflicht versicherten Fahrzeugs
unzutreffender Weise mit lediglich 25 % des entstandenen Schadens angesetzt.
Aufgrund des eingeholten Sachverständigengutachtens hätte das Landgericht nicht von
einem überwiegenden Verschulden des Klägers ausgehen dürfen, da der
Sachverständige nicht habe ausschließen können, dass der Beklagte zu 1. mit einer
Geschwindigkeit von bis zu 75 km/h gefahren ist. Auch habe der Beklagte zu 1. entgegen
der Ansicht des Landgerichts nicht darauf vertrauen dürfen, der Kläger werde bei
Herannahen des Beklagten zu 1. weiter auf dem Gleisbett stehen bleiben. Vielmehr
habe der Beklagte zu 1. damit rechnen müssen, dass der Kläger die Fahrbahn betreten
würde, da für ihn erkennbar zuvor bereits andere Personen die Fahrbahn passiert hätten.
Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil, soweit es ihnen günstig ist und
beantragen,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Die Akten 12 U 280/02 des Kammergerichts sowie 414 Ds 148/99 des Amtsgerichts
Tiergarten haben zu Informationszwecken vorgelegen und waren Gegenstand der
mündlichen Verhandlung.
II. Die zulässige Berufung der Beklagten zu 2. hat in der Sache keinen Erfolg. Die
Berufung des Klägers ist nur hinsichtlich eines Teiles der gegen den Beklagten zu 1.
geltend gemachten Ansprüche begründet. Der Beklagte zu 1. haftet dem Kläger
abweichend vom Urteil des Landgerichts im selben Umfang wie die Beklagte zu 2.
A. Berufung der Beklagten zu 2.
Zutreffend ist das Landgericht in dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen, dass
die Beklagte zu 2. dem Kläger nach §§ 7 Abs. 1, 11 StVG in Verbindung mit § 3 Nr. 1 und
2 PflVersG nach einer Quote von einem Viertel zum Ersatz seiner materiellen Schäden
aus dem Unfall vom 12. August 1998 verpflichtet ist.
1. Der Beklagten zu 2. kann nicht gefolgt werden, wenn sie meint, entgegen der Ansicht
des Landgerichts sei der Beweis dafür erbracht, dass sich der Unfall aus Sicht der
Beklagten als unabwendbares Ereignis im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG a. F. darstellt.
22
23
24
25
26
Nicht nachvollziehbar ist die Ansicht der Beklagten zu 2., nach dem vom Landgericht
eingeholten Gutachten des Sachverständigen für Unfallrekonstruktion Prof. Dr. R sei der
Beweis dafür geführt worden, dass sich der Unfall als unabwendbares Ereignis darstellt.
Der Sachverständige hat auf S. 17 seines Gutachtens ausgeführt, es sei möglich, dass
die Ausgangsgeschwindigkeit des Beklagten zu 1. vor dem Unfall bis zu 77 km/h – statt
der erlaubten 50 km/h – betragen habe. Am wahrscheinlichsten seien
Geschwindigkeitswerte in einem Bereich zwischen 60 und 70 km/h (Bl. 20 des
Gutachtens). Auf S. 23 des Gutachtens hat der Sachverständige ausgeführt, unabhängig
von der tatsächlichen Geschwindigkeit habe sich ergeben, dass der Beklagte zu 1. nicht
richtig und letztlich auch zu spät auf den Kläger reagiert habe. Hätte er zu dem
Zeitpunkt, als der Kläger die Fahrbahn betrat, bei Einhaltung von 50 km/h eine
Vollbremsung eingeleitet, wäre der Unfall örtlich vermieden worden, weil der Pkw noch
vor dem späteren Kollisionsort zum Stillstand gekommen wäre.
Der Sachverständige geht also grundsätzlich davon aus, dass der Unfall für den
Beklagten zu 1. vermeidbar gewesen wäre. Zwar ist der Beklagten zu 2. zuzugeben,
dass die Schlussfolgerungen des Sachverständigen Prof. Dr. R – worauf das Landgericht
auf den Seiten 6 und 7 des Urteils zutreffend hingewiesen hat – überwiegend auf
Schätzwerten beruhten und die tatsächlichen Werte sich nicht mehr zweifelsfrei klären
lassen. Dies betrifft sowohl die Geschwindigkeit des Beklagten zu 1. vor dem Unfall als
auch die Entfernung zwischen Kläger und Beklagten zu 1., als der Kläger die Fahrbahn
betrat, die Geschwindigkeit, mit der sich der Kläger bewegte, den Zeitpunkt des
Fahrstreifenwechsels des Beklagten zu 1. sowie die vom Fahrzeug des Beklagten zu 1.
erreichte Bremsverzögerung.
Die Beklagte zu 2. verkennt jedoch, dass die Unaufklärbarkeit der tatsächlichen
Voraussetzungen im Rahmen der Frage, ob sich der Unfall als unabwendbares Ereignis
im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG a. F. darstellt, den Halter trifft bzw. dessen
Haftpflichtversicherer, hier also die Beklagte zu 2.. Der Halter ist beweispflichtig für die
nach § 7 Abs. 2 StVG a. F. gesteigerte Sorgfalt sowie für die Nichtursächlichkeit einer
Sorgfaltspflichtverletzung für den Unfall. Die Entlastung scheitert bei Nicht-Beweis, der
dem Fahrer möglich gewesenen Sorgfalt (BGH VR 66, 693; Hentschel,
Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl., § 7 StVG Rdnr. 48 m.w.N.; allgemeine Meinung). Erst bei
der logisch nachrangigen Frage einer Haftungsverteilung nach §§ 9, 17 StVG, 254 BGB
kommt der von der Beklagten zu 2. zitierte Grundsatz zum Tragen, wonach nur ein
festgestelltes Verschulden in die Abwägung mit einfließt und dies auch nur dann, wenn
die Unfallursächlichkeit der Sorgfaltspflichtverletzung feststeht. Der Entlastungsbeweis
scheitert aber schon daran, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof.
Dr. R zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Beklagte zu 1. vor dem
Unfall mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist und sich diese
Geschwindigkeitsüberschreitung unfallursächlich ausgewirkt hat.
2. Mit dem Landgericht und der Beklagten zu 2. geht der Senat davon aus, dass ein
unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1., welches die Betriebsgefahr des bei
der Beklagten zu 2. gegen Haftpflicht versicherten Kraftfahrzeugs hätte erhöhen können,
nicht festgestellt werden kann.
a) Soweit der Sachverständige Prof. Dr. R in dem Gutachten vom 22. März 2002 –
außerhalb der Beantwortung der gestellten Beweisfragen – ausgeführt hat, der Pkw-
Fahrer (Beklagter zu 1.) habe nicht richtig und letztlich auch zu spät auf den Kläger
reagiert, hat das Landgericht in dem angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt, dass
die Schlussfolgerungen des Sachverständigen hinsichtlich der Geschwindigkeit des
Beklagten zu 1. und des Klägers, des Zeitpunktes des Fahrstreifenwechsels des
Beklagten zu 1. und der Bremswirkung, die das von ihm geführte Fahrzeug erreicht hat;
ausnahmslos auf Schätzungen beruhen und die konkreten Werte nicht mit der nach §
286 ZPO erforderlichen Gewissheit festgestellt werden können. So hat der
Sachverständige auf S. 10 seines Gutachtens ausgeführt, die Bremsspur Bild 24 sei "mit
einiger Sicherheit" diejenige des Unfallfahrzeugs. Auf S. 12 nimmt er an, die lange
Bremsspur stamme "mit großer Wahrscheinlichkeit" vom linken Vorderrad des
Beklagtenfahrzeugs. Sicher konnte jedoch weder das eine noch das andere festgestellt
werden. Auf S. 15 führt der Sachverständige aus, tatsächlich sei eine eindeutige
Beurteilung des Geschwindigkeitsverlustes des Beklagtenfahrzeugs in der
Bewegungsphase nicht möglich. Der Geschwindigkeitsverlust ist jedoch für die
Berechnung der Ausgangsgeschwindigkeit des Beklagten zu 1. von entscheidender
Bedeutung. Aus den Ausführungen des Sachverständigen auf S. 18 des Gutachtens ist
zu entnehmen, dass sich die tatsächliche Kollisionsstelle nicht mehr mit letzter
Sicherheit aufklären lässt. Schließlich hat der Sachverständige auf S. 20 seines
Gutachtens bei seinen Berechnungen eine bestimmte Geschwindigkeit des Klägers vor
27
28
29
30
31
32
Gutachtens bei seinen Berechnungen eine bestimmte Geschwindigkeit des Klägers vor
der Kollision zugrunde gelegt, obwohl die tatsächliche Geschwindigkeit, mit der der
Kläger versucht hat, die Fahrbahn zu überqueren, nicht mehr aufgeklärt werden kann.
Legt man die den Beklagten günstigsten Werte zugrunde, so lässt sich ein Verschulden
des Beklagten zu 1. nicht feststellen.
Im Rahmen der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile nach den §§ 9,
17 StVG, 254 BGB können jedoch betriebsgefahrerhöhende Umstände zu Lasten eines
Unfallbeteiligten nur dann berücksichtigt werden, wenn sie feststehen, d. h. unstreitig,
zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sind und wenn sie sich auf das
Unfallgeschehen ausgewirkt haben (ständige Rechtsprechung, BGH, NJW 1995, 1029;
NJW 2000, 3069, 3071). Es kommt hinzu, dass der Sachverständige Rau auf S. 23 seines
Gutachtens seine Schlussfolgerung, der Beklagte zu 1. habe nicht richtig und letztlich
auch zu spät reagiert, dahingehend eingeschränkt hat, dass sich der Kläger in einer
Situation befunden habe, in der erschwerte Bedingungen für die Entscheidung einer
Vollbremsung vorgelegen hätten. Eine Vollbremsung im Verlauf eines Spurwechsels
könne unter Umständen zum Kontrollverlust über das Fahrzeug führen. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass einem Kraftfahrer als Reaktionszeit für sofortiges Bremsen eine
Sekunde einschließlich Bremsansprechzeit zuzubilligen ist, wenn ein Fußgänger
unmittelbar vor ihm auf die Fahrbahn tritt (BGH NJW 2000, 3069; Senat, NZV 2003, 380
= KGR 2002, 260).
b) Auch lässt sich ein die Betriebsgefahr des bei der Beklagten zu 2. versicherten
Kraftfahrzeugs erhöhendes pflichtwidriges Verhalten des Beklagten zu 1. nicht damit
begründen, dieser hätte durch ein rechtzeitiges Abbremsen des Fahrzeugs den Unfall
wenigstens in seinen Folgen für den Kläger in erheblicher Weise abmildern können (vgl.
BGH NJW 2002, 3069). Denn aufgrund des in seinen Einzelheiten nicht mehr genau
aufklärbaren Geschehensablaufs des Unfalls lässt sich nicht mit der gemäß § 286 ZPO
erforderlichen Gewissheit ausschließen, dass der Beklagte zu 1. erst als Reaktion auf das
sorgfaltswidrige Betreten der Fahrbahn durch den Kläger einen Fahrstreifenwechsel nach
links vorgenommen hat, um hinter dem Kläger, der von links auf die Fahrbahn getreten
war, vorbeizufahren; der Beklagte durfte dann aber, weil er nicht damit rechnen musste,
dass der Kläger unvermittelt in der Fahrbahnmitte anhalten würde, darauf vertrauen,
bereits durch das Ausweichmanöver einen Zusammenstoß mit dem Kläger zu
verhindern (so dass ein Bremsen nicht mehr erforderlich war).
c) Allerdings hat der Bundesgerichtshof im Fall eines die Fahrbahn sorgfaltswidrig
überquerenden Fußgänger eine teilweise Haftung des Kraftfahrers auch dann für möglich
angesehen, wenn es dem Kraftfahrer bei Beachtung der gehörigen Sorgfalt möglich
gewesen wäre, sein Fahrzeug so stark abzubremsen, dass es den Punkt, an dem der
Fußgänger die Fahrspur kreuzt, erst erreicht hätte, nachdem dieser ihn schon wieder
verlassen hätte (BGH NJW 2000, 3069, vgl. auch BGH VM 2002, 82 Nr. 72, sogenannte
"zeitliche Vermeidbarkeit"). Im vorliegenden Fall scheidet eine Mithaftung der Beklagten
unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten schon deshalb aus, weil der Kläger unstreitig
etwa in der Fahrbahnmitte unvermittelt – und für den Beklagten zu 1. nicht vorhersehbar
– stehen geblieben war, den Punkt, an dem sich die Bewegungslinien des Klägers und
des Beklagten zu 1. gekreuzt haben, also nicht wieder verlassen hatte.
d) Dem Kläger kann auch nicht gefolgt werden, wenn er meint, der Beklagte zu 1. hätte
deshalb damit rechnen müssen, der Kläger werde versuchen, in verkehrswidriger Weise
die Fahrbahn zu überqueren, weil für ihn erkennbar vor dem Kläger zwei andere
Fußgänger die Straße überquert hatten. Zwar ist sowohl den Beiakten als auch dem
Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. R (dort S. 3) zu entnehmen, dass einige Zeit
vor dem Kläger die Zeugen C und P die Fahrbahn überquert hatten. Die Beklagten
haben insoweit jedoch vorgetragen, dies sei zu einem Zeitpunkt geschehen, als die
Zeugen für den Beklagten zu 1. noch nicht erkennbar gewesen seien. Der für diejenigen
Umstände, aus denen er ein Verschulden des Beklagten zu 1. herleiten will,
beweispflichtige Kläger hat für seine Darstellung, das Überqueren der Fahrbahn durch
die Zeugen C und P sei für den Beklagten zu 1. erkennbar gewesen, keinen Beweis
angetreten. Im Übrigen erscheint es zweifelhaft, ob ein Kraftfahrer allein aufgrund des
Umstandes, dass zwei erwachsene Fußgänger in ausreichendem Abstand zu seinem
Fahrzeug die Fahrbahn überqueren, damit rechnen muss, ein dritter Fußgänger werde in
einem geringen Abstand vor seinem herannahenden Fahrzeug die Fahrbahn betreten.
3. Zutreffend weist die Beklagte auch darauf hin, dass der Kläger sich selbst in
erheblichem Maße sorgfaltswidrig verhalten hat und so den bedauerlichen Unfall mit
verursacht hat.
a) Der Kläger hatte beim Überqueren der Straße am Tierpark die sich aus § 25 Abs. 3
32
33
34
35
36
a) Der Kläger hatte beim Überqueren der Straße am Tierpark die sich aus § 25 Abs. 3
StVO ergebenden Sorgfaltspflichten zu beachten. Ein Fußgänger, der, wie der Kläger,
außerhalb geschützter Stellen die Fahrbahn überschreiten will, muss besonders
sorgfältig sein; er hat sowohl beim Betreten als auch beim Überschreiten der Fahrbahn,
auf der der Fahrzeugverkehr grundsätzlich Vorrang hat, besondere Vorsicht walten zu
lassen; er muss bei Annäherung eines Fahrzeugs warten und darf nicht versuchen, noch
vor einem herannahenden Kfz. die Fahrbahn zu überqueren (Senat, Urteil vom 3. Januar
2002 – 12 U 4708/00 –, KGR 2002, 366; vgl. auch BGH, NJW 2000, 3069 für einen
Fußgänger, der etwa 29 m vor einem herannahenden Kraftfahrzeug versucht hat, die
Straße zu überqueren). Ein Fußgänger, der versucht, kurz vor einem herannahenden
Fahrzeug die Fahrbahn zu überqueren, handelt regelmäßig grob fahrlässig (Senat, Urteil
vom 3. Januar 2002, a.a.O.). Ferner muss der Fußgänger die Fahrbahn "zügig auf dem
kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung" überschreiten (§ 25 Abs. 3 Satz 1 StVO).
Im vorliegenden Fall kommt zum sorgfaltswidrigen Betreten der Fahrbahn hinzu, dass
nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. R davon ausgegangen werden
muss, dass sich der Kläger, auch noch nachdem er die Fahrbahn bereits betreten hatte,
verkehrswidrig verhalten hat. Denn wenn der Kläger nicht unvermittelt etwa in der
Fahrbahnmitte angehalten hätte, sondern weiter gegangen wäre, wäre der Unfall aller
Voraussicht nach vermieden worden, zumal der Beklagte zu 1. nach den Ausführungen
des Sachverständigen den Fahrstreifenwechsel höchst wahrscheinlich schon eingeleitet
hatte, bevor der Kläger die Fahrbahn betreten hatte.
Auch wenn man im Hinblick auf die Beweislastverteilung hinsichtlich der Frage eines
Mitverschuldens des Klägers die sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr.
R vom 22. März 2002 für den Kläger günstigsten Werte zugrunde legt, hätte der Kläger
die Fahrbahn bei Herannahen des Beklagten zu 1. nicht mehr betreten dürfen. Nach den
Ausführungen des Sachverständigen betrug die Geschwindigkeit des Beklagten zu 1. vor
dem Unfall maximal 77 km/h. Bei der vom Sachverständigen zugrunde gelegten
langsamen Geschwindigkeit des Klägers sind zwischen dem Betreten der Fahrbahn
durch den Kläger und der Kollision 1,3 bis 2,3 Sekunden, vielleicht aber auch 3 Sekunden
oder noch mehr vergangen (S. 20 des Gutachtens). Bei einer Geschwindigkeit des
Beklagten zu 1. von 77 km/h und einer Zeitspanne von etwa 3 Sekunden zwischen dem
Betreten der Fahrbahn durch den Kläger und der Kollision müsste davon ausgegangen
werden, dass der Beklagte zu 1. in dem Zeitpunkt, als der Kläger die Fahrbahn betrat,
etwas mehr als 64 m entfernt war. Ausgehend von der vom Sachverständigen zugrunde
gelegten geringen Geschwindigkeit des Klägers von 1,3 m/Sekunde hätte der Kläger um
die ca. 5,6 m breite Fahrbahn vollständig zu überqueren ca. 4,3 Sekunden benötigt. In
dieser Zeit hätte der Beklagte zu 1. auch bei einer Geschwindigkeit von nur 50 km/h
knapp 60 m (59,72 m) zurückgelegt. Der Kläger hätte die andere Straßenseite mithin
erst erreicht, als der Beklagte zu 1. nur noch wenig mehr 4 m von ihm entfernt gewesen
wäre. In einem derart geringen Abstand durfte er vor dem herannahenden Beklagten zu
1. nicht mehr die Fahrbahn überqueren, zumal er zumindest eine geringfügige
Geschwindigkeitsüberschreitung des Beklagten zu 1. grundsätzlich in Rechnung stellen
musste.
Soweit das Landgericht darüber hinausgehend ein Verschulden des Klägers darin
gesehen hat, dass dieser versucht hat, die Fahrbahn an einer durch Sperrgitter gegen
das Betreten der Fahrbahn gesicherten Stelle zu überqueren, ist ein ursächlicher
Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Klägers und dem Unfall nicht erkennbar.
Denn ausweislich der bei dem Gutachten befindlichen Fotos vom Unfallort sowie der bei
der Beiakte befindlichen Unfallskizze ist diejenige Stelle, an der das Sperrgitter
unterbrochen ist, um Fahrgästen der Straßenbahn das Überqueren der Fahrbahn zu
ermöglichen, der Überweg weder durch einen Zebrastreifen noch durch
Verkehrsschilder, eine Ampel oder ähnliches gesichert.
4. Der Senat folgt dem Landgericht auch darin, dass die gemäß §§ 9, 17 StVG, 254 BGB
erforderliche Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile im
Ergebnis zu einer Haftung der Beklagten zu 2. zu einem Viertel führt. Zwar weist die
Beklagte zu 2. grundsätzlich zutreffend darauf hin, dass nach der ständigen
Rechtsprechung sowohl des Bundesgerichtshofes als auch des Senats die nicht erhöhte
Betriebsgefahr bei der erforderlichen Abwägung der Verursachungs- und
Verschuldensanteile hinter dem groben Verschulden eines Fußgängers, der die
Fahrbahn sorgfaltswidrig überquert, zurücktritt (BGH NJW 2000, 3069, 2070 m.w.N.;
Senat, Urteil vom 03.01.2002 – 12 U 4708/00 – KGR 2002, 366; Urteil vom 29.09.2003 –
12 U 315/01 –, KG-Report 2004, 50). Im vorliegenden Fall erscheint das Verschulden des
Klägers, soweit es feststellbar ist, aus der Sicht des Senats jedoch nicht als so
schwerwiegend, dass es ein vollständiges Zurücktreten der von dem bei der Beklagten
zu 2. gegen Haftpflicht versicherten Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr rechtfertigen
37
38
39
40
41
42
zu 2. gegen Haftpflicht versicherten Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr rechtfertigen
würde. Im Hinblick auf den in weiten Teilen nicht mehr abschließend aufklärbaren
Hergang des Verkehrsunfalles, bei dem die Möglichkeit offen bleibt, dass der Beklagte zu
1. zu dem Zeitpunkt, als der Kläger die Fahrbahn betrat, noch mehr als 64 m entfernt
war, vermag der Senat das Verhalten des Klägers nicht als grob fahrlässig anzusehen.
Bei der im Rahmen der Abwägung zu Gunsten des Klägers zugrunde zu legenden
günstigsten Fallgestaltung erscheint dessen Verhalten zwar als in erheblichem Maße
sorgfaltswidrig, jedoch noch unterhalb der Schwelle der groben Fahrlässigkeit.
5. Hinsichtlich der Anspruchshöhe folgt der Senat den Gründen des angefochtenen
Urteils, die die Beklagte zu 2. in der Berufung nicht mehr angegriffen hat.
B. Die Berufung des Klägers ist nur teilweise erfolgreich. Über eine Haftungsquote von
einem Viertel hinausgehende Schadensersatzansprüche stehen dem Kläger gegen die
Beklagten nicht zu. Insoweit wird zunächst auf die Ausführungen zu A. verwiesen.
Hinsichtlich der behaupteten Geschwindigkeitsüberschreitung durch den Beklagten zu 1.
folgt der Senat dem Landgericht darin, dass dem Kläger der ihm obliegende Beweis
nicht gelungen ist. Gleiches gilt für einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes
nach § 847 BGB, denn der Kläger hat, wie oben ausgeführt, ein unfallursächliches
Verschulden des Beklagten zu 1. nicht zu beweisen vermocht.
Erfolgreich ist die Berufung des Klägers demgegenüber insoweit, als er mit ihr – auch –
die gesamtschuldnerische Haftung des Beklagten zu 1. mit der Beklagten zu 2. anstrebt.
Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist dem Beklagten zu 1. der Entlastungsbeweis
nach § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG nicht gelungen. Die Ansicht des Landgerichts auf S. 10 des
angefochtenen Urteils, der Beklagte zu 1. habe den Nachweis dafür geführt, dass ein
etwaiges Fehlverhalten seinerseits (insbesondere eine wahrscheinliche
Geschwindigkeitsüberschreitung) nicht ursächlich geworden sei, findet in dem Gutachten
des Sachverständigen Prof. Dr. Rau keine Stütze. Insoweit wird auf die Ausführungen zu
A. 1. verwiesen. Ist aber ein Verschulden des Beklagten zu 1. nicht auszuschließen, so ist
er nicht entlastet (vgl. BGH VR 67, 659).
C. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung
hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern.
D. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1,
100, 708 Nr. 11, 711 ZPO in Verbindung mit § 26 Nr. 8 EGZPO.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum