Urteil des KG Berlin vom 14.03.2017

KG Berlin: gefahr, hinreichender tatverdacht, sexueller missbrauch, alter, ermittlungsverfahren, strafmündigkeit, beugehaft, aufspaltung, anklageschrift, eng

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Gericht:
KG Berlin 4.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 Ws 104/08, 1 AR
519/08 - 4 Ws 104/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 55 StPO
Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern:
Umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht eines Zeugen
wegen der Gefahr der Selbstbelastung
Leitsatz
Einem Zeugen steht ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zu, wenn
er während eines einheitlichen Gesamtgeschehens sowohl Opfer von Straftaten war (hier
sexueller Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen) als auch sich während und nach diesem
Zeitraum an entsprechenden Straftaten des Haupttäters beteiligt hat; denn es besteht die
konkrete Gefahr, dass ihn seine Angaben - als Opfer - durch denselben Haupttäter und die
gleichen Tatumstände zumindest mittelbar belasten können.
Tenor
Auf die Beschwerde des Zeugen …, wohnhaft in … B.Straße, wird der Beschluss des
Landgerichts Berlin vom 30. September 2008 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen
Auslagen des Zeugen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.
Gründe
Bei dem Landgericht Berlin ist zurzeit das Hauptverfahren gegen den Angeklagten
anhängig. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm mit der Anklageschrift vom 18. Juni 2008 u.a.
vor, sich in Berlin zum Nachteil des Zeugen … in der Zeit vom 15. August 2002 bis zum
14. August 2005 in 600 Fällen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie
in der Zeit vom 15. August 2005 bis März 2007 in 10 Fällen wegen sexuellen
Missbrauchs von Jugendlichen, davon in sieben Fällen in Tateinheit mit Verbreitung
pornographischer Schriften strafbar gemacht zu haben, §§ 176, 176 a Abs. 2 Nr. 1, 182
Abs. 1 Nr. 1, 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Inhalt der
Anklageschrift verwiesen. Das Landgericht hat in der seit dem 17. Juli 2008 laufenden
Hauptverhandlung am 8. August 2008 mit der Vernehmung des Zeugen begonnen.
Nachdem sich der Zeuge zu Beginn seiner am 30. September 2008 fortgesetzten
Vernehmung auf ein ihm zustehendes umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach
§ 55 StPO berufen und weitere Angaben verweigert hatte, hat das Landgericht durch den
angefochtenen Beschluss gegen den Zeugen Beugehaft bis zur Dauer von sechs
Monaten, längstens bis zur Beendigung des landgerichtlichen Verfahrens, angeordnet
und ihm die durch die Zeugnisverweigerung verursachten Kosten auferlegt. Die nach §
304 Abs. 2 StPO zulässige Beschwerde des Zeugen hat im Einvernehmen mit der
Generalstaatsanwaltschaft Erfolg.
Die Strafkammer hat die Beugehaft gegen den Beschwerdeführer nach § 70 Abs. 1 und
2 StPO zu Unrecht angeordnet, denn er hat seine (weitere) Aussage aufgrund des ihm
zustehenden umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts nach § 55 StPO berechtigt
verweigert.
Nach § 55 StPO kann jeder Zeuge als Ausdruck der durch das Grundgesetz garantierten
Menschenwürde und Selbstbelastungsfreiheit (vgl. BVerfG StV 1999, 71 f) die Auskunft
auf Fragen verweigern, bei deren wahrheitsgemäßer Beantwortung er bestimmte
Tatsachen angeben müsste, die unmittelbar oder mittelbar einen Anfangsverdacht für
das Vorliegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit und damit die Aufnahme von
Ermittlungen gegen ihn oder einen Angehörigen nach § 52 Abs. 1 StPO begründen
würden. Da die Schwelle des Anfangsverdachts im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO niedrig
liegt, ist auch das Bestehen einer entsprechenden konkreten Gefahr bereits weit im
Vorfeld einer direkten Belastung zu bejahen (vgl. BVerfG NJW 2003, 3045, 3046; BVerfG
NStZ 2002, 378, 379; BGH NJW 1999, 1413; OLG Düsseldorf VRS 111, 45 ff; LR-Dahs,
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NStZ 2002, 378, 379; BGH NJW 1999, 1413; OLG Düsseldorf VRS 111, 45 ff; LR-Dahs,
StPO 25. Aufl., § 55 Rdn. 10). Zu einem Recht der Verweigerung des Zeugnisses in
vollem Umfang, auf das sich der Beschwerdeführer beruft, wird das
Auskunftsverweigerungsrecht nur ausnahmsweise, und zwar dann, wenn die gesamte
Aussage des Zeugen mit seinem vielleicht strafbaren Verhalten in so engem
Zusammenhang steht, dass nichts mehr übrig bleibt, was er ohne die Gefahr eigener
Strafverfolgung bezeugen könnte, eine Trennung mithin nicht möglich ist (vgl. BGH NJW-
Spezial 2008, 568, 569; BGH StV 2002, 604; BGH StV 1987, 328; BGH NStZ 1986, 181;
Senat, Beschlüsse vom 19. Juli 2001 – 4 Ws 109/01 – und 22. März 1999 – 4 Ws 73/99 - ;
KG, Beschluss vom 5. März 2004 – 5 Ws 58/03 - ).
Das Landgericht ging vor dem Hintergrund, das der Zeuge seiner polizeilichen Aussage
vom 4. Januar 2008 zufolge im Alter von 14 bzw. 15 Jahren dem Angeklagten mindestens
fünf Jungen im Alter von ungefähr 11 Jahren – und darüber hinaus auch anderen
Männern weitere Jungen - gegen ein Entgelt zugeführt hat und gegen ihn deshalb seit
der Vernehmung ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, von einem
Auskunftsverweigerungsrecht dieses Zeugen ab seinem 14. Lebensjahr aus. Für den
vorherigen Zeitraum lehnt das Landgericht hingegen ein solches Recht ab, da dem
Zeugen mangels Strafmündigkeit für diesen Zeitraum keine Strafverfolgung drohen
würde und ein Schluss von etwaigen Missbrauchshandlungen des Angeklagten gegen
den Zeugen auf ein mögliches späteres strafbares Verhalten des Zeugen durch seine
Vermittlungstätigkeit nicht möglich sei.
Damit hat das Gericht, dem hinsichtlich des Bestehens eines
Auskunftsverweigerungsrechts ein weiter Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. BGH,
Beschluss vom 6. August 2002 – 5 StR 314/02 -; KK-Senge, StPO 6. Aufl., § 55 Rdn. 4
m.w.N.), den Entscheidungsmaßstab zu eng gefasst.
Für die Abgrenzung, unter welchen Voraussetzungen eine relevante mittelbare
Selbstbelastung im Sinne von § 55 StPO besteht, ist anerkannt, dass bereits mögliche
Erkenntnisse aus der Zeugenaussage ausreichen, die als „Teilstücke in einem
mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude“ (vgl. BGH NJW 1999, 1413 f)
belastender Natur sind (vgl. KG, Beschluss vom 14. Februar 2008 – 3 Ws 31/08 -).
Danach können insbesondere detailliierte Angaben zu früheren bereits rechtskräftig
abgeurteilten Straftaten des Zeugen bzw. zu Tatvorwürfen nach einem rechtskräftigen
Freispruch (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 2 StE 8/03-2 - ) aufgrund des so
engen Zusammenhangs mit möglichen weiteren, vergleichbaren Straftaten die Gefahr
der Selbstbelastung auslösen, weil die Aussage zu dem früheren Geschehen von indiziell
belastender Bedeutung sein kann (vgl. BVerfG NStZ 2002, 378, 379; BGH NJW-Spezial
2008, 568, 569; BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 326/06 -; BGH,
Beschluss vom 2. Juni 2005 – StB 8/05 - ; BGH, Beschluss vom 27. Juni 2002 – 4 StR
28/02 -; BGH NJW 1999, 1413 f ; OLG Düsseldorf VRS 111, 45 ff; OLG Dresden, Beschluss
vom 14. Januar 2003 – 1 Ws 274/02 -; OLG Zweibrücken StV 2000, 606 ).
Nichts anderes kann für den vorliegenden Fall gelten, indem vom Zeugen genaue
Angaben über die gegen ihn gerichteten Taten verlangt werden, wenn es möglich
erscheint, dass er sich unter genau diesen Umständen und Maßgaben im späteren
Geschehensablauf strafbar gemacht haben könnte. Der besonders enge, einer
Aufspaltung der Aussage in nicht selbstbelastende Abschnitte entgegenstehende
Zusammenhang ergibt sich vorliegend daraus, dass es sich jeweils – d.h. bezogen auf
die dem Zeugen zur Last zu legenden Taten - um denselben Haupttäter handeln, das
Geschehen sich zeitlich und räumlich ohne Unterbrechung fortgesetzt haben und es sich
auch um dieselben Delikte handeln soll. Es kommt erschwerend hinzu, dass der Zeuge –
legt man seine polizeiliche Aussage zugrunde - die Vermittlung von Jungen mit den
gleichen Anwerbemethoden, deren Opfer er zuvor wurde, entgeltlich betrieben hat und
es dabei auch um dieselben sexuellen Praktiken, die er selbst erlitt und den Vermittelten
offenbarte, ging. Dieser enge Zusammenhang wird vorliegend sogar noch deutlicher
dadurch, dass der Zeuge im Alter von 14/15 Jahren zeitweise gleichzeitig bzw. jeweils
abwechselnd sowohl (noch) Opfer als auch (schon) Beteiligter an Straftaten gewesen
sein soll. Vollständigkeitshalber ist noch anzuführen, dass der Zeuge über das vom
Angeklagten und den anderen Männern bevorzugte „Opferbild“ – kleine Jungen im Alter
von zehn oder elf Jahren - befragt sich mittelbar auch insofern belasten würde, weil er
sich selbst, als er aufgrund seines Alters und seiner Größe für den Angeklagten
zunehmend uninteressant wurde, bei der Vermittlung von Jungen genau an diese
Vorstellung gehalten haben soll.
Im Übrigen besteht vorliegend nicht nur die Gefahr eines Ermittlungsverfahrens gegen
den Zeugen, sondern ein solches ist bereits seit Januar 2008 eingeleitet. Demzufolge ist
er während seiner polizeilichen Vernehmung vom 4. Januar 2008 auch mehrmals nicht
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er während seiner polizeilichen Vernehmung vom 4. Januar 2008 auch mehrmals nicht
nur als Zeuge gemäß § 55 StPO, sondern auch als Beschuldigter gemäß § 136 StPO
belehrt worden. Aufgrund des engen Zusammenhangs wäre daher – sieht man von den
jugendgerichtlichen Besonderheiten nach § 26 GVG, §§ 41 Abs. 1 Nr. 4, 103 Abs. 1 JGG
einmal ab - auch nach § 3 StPO für den Fall, dass die Ermittlungen gegen den Zeugen
abgeschlossen und hinreichender Tatverdacht zu bejahen wäre, auch eine gemeinsame
Anklage in Betracht gekommen. Der Umstand, dass bereits ein Ermittlungsverfahren
anhängig ist, führt wie bei einer rechtskräftigen Verurteilung nur wegen eines Teils des
Gesamtgeschehens von vornherein zu einem einengenden Maßstab bezüglich einer
möglichen Selbstbelastung. Danach ist dem durch das bereits laufende
Ermittlungsverfahren erhöht schutzwürdigen Zeugen ein umfassendes
Auskunftsverweigerungsrecht nur dann zu versagen, wenn die Gefahr der
Selbstbelastung und damit weiterer Verfolgung zweifellos ausgeschlossen ist (vgl.
BVerfG NStZ 2002, 378, 379; BGH NJW 1999, 1413, f; OLG Düsseldorf VRS 111, 45 ff;
OLG Köln, NStZ-RR 2005, 269, 270). Dies ist nach den vorherigen Ausführungen gerade
nicht der Fall, vielmehr könnte sich die – mittelbar - selbstbelastende richterliche
Vernehmung des Zeugen dahingehend belastend auswirken, dass seine polizeiliche
Aussage beweisrechtlich gestützt und um etliche Details verdichtet wird. Die
Ausnahmekonstellation, dass trotz – mittelbar - drohender Selbstbelastung kein
Auskunftsverweigerungsrecht besteht, weil mögliche neue bzw. bestärkende
Erkenntnisse den Strafverfolgungsbehörden bereits früher aus anderen Quellen sicher
bekannt sind, eine Strafverfolgung bisher nicht erfolgte und auch eine entsprechende
Gefahr sicher nicht besteht (vgl. BVerfG NStZ 2003, 666; OLG Dresden, Beschluss vom
23. September 2003 – 2 Ws 328/03 -; Meyer-Goßner, a.a.O., § 55 Rdn. 2), ist hier bereits
wegen des weiterhin anhängigen Ermittlungsverfahrens gegen den Zeugen nicht
einschlägig. Schließlich kann der Umstand, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung auf
einige Fragen bereits geantwortet haben soll, an dieser Beurteilung nichts ändern. Denn
ein Zeuge kann sich jederzeit – auch bezogen auf einzelne Fragen – unabhängig von
seinen Beweggründen auf ein ihm zustehendes Auskunftsverweigerungsrecht mit der
Folge berufen, dass früher gemachte Angaben in Kenntnis des
Auskunftsverweigerungsrechts ihm gegenüber verwertbar bleiben (vgl. Meyer-Goßner,
a.a.O., § 55 Rdn. 11). Dies gilt aber nur dann, wenn der Zeuge nach zutreffender
Belehrung über Grund und Umfang dieses Rechts ausgesagt hat (vgl. BGHSt 38, 214,
224, 225; OLG Celle, NStZ 2002, 386, 387; OLG Karlsruhe StraFO 2002, 291; BayObLG
NZV 2001, 525; BayObLG NJW 1984, 1246; Rogall in SK-StPO, § 55 Rdn. 79). Ergänzend
ist anzuführen, dass Aussagen eines Zeugen trotz fehlerhafter Belehrung nach § 55
StPO im Verfahren gegen den Beschuldigten dagegen verwertbar sind, weil eine
mögliche Verletzung des § 55 StPO nicht den Rechtskreis des Beschuldigten betrifft (vgl.
BGHSt 11, 213, 219; BGHSt 38, 302, 304; BGH, Beschluss vom 20. Januar 2004 – 1 StR
319/03 - ).
Nach alledem stellt das vom Landgericht zuerkannte Auskunftsverweigerungsrecht für
die Zeit ab der Strafmündigkeit des Zeugen eine künstliche juristische Aufspaltung eines
tatsächlich eng zusammenhängenden, nicht trennbaren Gesamtgeschehens dar, so
dass dem Zeugen auch für die Zeit vor seiner Strafmündigkeit ein umfassendes
Auskunftsverweigerungsrecht zusteht. Er hätte danach in aller Konsequenz auch den
Namen des Täters, der ihn missbraucht haben soll, verschweigen dürfen, weil er diesem
im späteren, zu keinem Zeitpunkt unterbrochenen Geschehensablauf vergleichbar
deliktisch zugearbeitet haben soll.
Soweit die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung weitere Gründe für ein umfassendes
Auskunftsverweigerungsrecht vorgetragen haben (drohende Strafverfolgung nach § 171
gegenüber den Eltern des Zeugen bzw. §§ 153, 164 StGB durch die Aussage des
Zeugen in der Hauptverhandlung), sind diese mangels konkreter Anhaltspunkte nicht
gegeben, eine bloß denktheoretisch mögliche Gefährdung reicht nicht aus (vgl. KK-
Senge, a.a.O., § 55 Rdn. 4).
Soweit die Strafkammer von einem Ordnungsgeld ersatzweise Ordnungshaft nach § 70
Abs. 1 StPO abgesehen hat, weist der Senat zur Klarstellung darauf hin, dass deren
Verhängung bei unberechtigter Verweigerung des Zeugnisses zwingend als
Ungehorsamsfolge (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Mai 1984 – 4 Ws 142/84 -; KG,
Beschluss vom 31. Oktober 2006 – 3 Ws 532/06 -) und im Rahmen der
Verhältnismäßigkeit ohne oder zugleich mit der Anordnung von Beugehaft zu erfolgen
hat (vgl. BVerfGE 76, 363 ff, 391; KG, Beschluss vom 20. Dezember 1996 – 3 Ws 644-
645/96 -). Die wirtschaftlichen Verhältnisse wie auch die Bedeutung der Aussage für das
Verfahren können bei der Bemessung der in einem Strafverfahren insgesamt nur einmal
zu verhängenden Folge berücksichtigt werden (vgl. Senat, Beschluss vom 22. März 1999
– 4 Ws 73/99 -; KG, Beschluss vom 20. Dezember 1996 – 3 Ws 644-645/96 -; OLG Köln,
NStZ-RR 2005, 232; Meyer-Goßner, a.a.O., § 70 Rdn. 16).
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