Urteil des KG Berlin vom 10.07.2003

KG Berlin: vorzeitige entlassung, wiedereinsetzung in den vorigen stand, vollstreckung der strafe, höchstdauer, wechsel, wohnung, zumutbarkeit, link, sammlung, ausnahmecharakter

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Gericht:
KG Berlin 5.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 AR 1174/03 - 5 Ws
447/03, 1 AR
1174/03, 5 Ws 447/03
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 68f Abs 1 S 1 StGB, § 16 Abs 2
StVollzG, § 16 Abs 3 StVollzG, §
43 StVollzG
Wegfall oder Verkürzung von Führungsaufsicht: Vollständige
Vollstreckung einer Freiheitsstrafe trotz Vorverlegung des
Entlassungszeitpunktes
Tenor
Die sofortige Beschwerde und die Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß des
Landgerichts Berlin – Strafvollstreckungskammer – vom 10. Juli 2003 werden verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seiner Rechtsmittel zu tragen.
Gründe
Das Landgericht Berlin hat den Beschwerdeführer am 20. Juli 1994 wegen schwerer
räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung in zwei Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Die Einsatzstrafe betrug acht Jahre
Freiheitsstrafe. Die Gesamtfreiheitsstrafe, deren Ende auf den 21. März 2003 notiert war,
wurde gegen den Beschwerdeführer bis zum 19. Juni 2003 vollstreckt. Die Vorverlegung
des Entlassungszeitpunkts beruhte ausweislich der Entlassungsmitteilung auf "§§ 43 und
16 StVollzG". Mit dem angefochtenen Beschluß hat die Strafvollstreckungskammer es
abgelehnt, die Führungsaufsicht entfallen zu lassen oder ihre Dauer abzukürzen. Sie hat
den Beschwerdeführer der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt und
ihn angewiesen, sich bei diesem nach dessen Anweisungen oder denen der
Führungsaufsichtsstelle einmal monatlich zu melden sowie jeden Wechsel der Wohnung
oder des Arbeitsplatzes unverzüglich der Aufsichtsstelle mitzuteilen. Gegen diesen
Beschluß richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten, die nur hinsichtlich der
Ablehnung des Entfallens der Führungsaufsicht als sofortige Beschwerde (§§ 463 Abs. 3
Satz 1, 454 Abs. 3 Satz 1 StPO) anzusehen und im übrigen als das zulässige
Rechtsmittel der (einfachen) Beschwerde (§§ 463 Abs. 2, 453 Abs. 2 Satz 1 StPO, 300)
zu behandeln ist. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
I.
Die sofortige Beschwerde ist unzulässig; denn sie ist verspätet eingelegt worden. Sie
hätte binnen einer Woche ab Bekanntmachung der Entscheidung (§ 311 Abs. 2 StPO) bei
dem Landgericht Berlin eingehen werden müssen. Die Frist begann mit der Zustellung
des Beschlusses an den Verurteilten am 16. Juli 2003 (§ 35 Abs. 2 Satz 1 StPO) durch
persönliche Übergabe an die erwachsene ständige Mitbewohnerin B M (§ 37 Abs. 1 StPO,
§§ 166, 176, 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels endete
daher am Mittwoch, dem 23. Juli 2003. Die unter dem 20. Juli 2003 von dem Verurteilten
verfaßte sofortige Beschwerde ist erst am 24. Juli 2003 bei dem Landgericht
eingegangen und daher verspätet.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen kommt nicht in Betracht.
Ausweislich des Briefumschlages ist das Rechtsmittel erst am 23. Juli 2003 zur Post
gegeben worden. Auf dessen Eintreffen bei dem Landgericht noch am selben Tage
durfte der Beschwerdeführer nicht vertrauen; denn die Laufzeit für einen Brief innerhalb
Berlins beträgt einen Tag.
II.
1. Das Rechtsmittel wäre aber auch unbegründet. Die Voraussetzungen des § 68f Abs. 1
Satz 1 StGB für den Eintritt der Führungsaufsicht kraft Gesetzes liegen vor. Der
Beschwerdeführer hat eine Einzelfreiheitsstrafe (vgl. OLG Bamberg NStZ-RR 2000, 81;
OLG Köln NStZ-RR 1997, 4; OLG Hamm NStZ-RR 1996, 31; KG, Beschluß vom 17. Juni
1998 – 5 Ws 292/98 – = NStZ-RR 1999, 138 LS; KG JR 1979, 421; a. A. OLG München
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1998 – 5 Ws 292/98 – = NStZ-RR 1999, 138 LS; KG JR 1979, 421; a. A. OLG München
NStZ-RR 2002, 183; OLG Nürnberg NStZ-RR 1998, 124; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl., §
68f Rdn. 3 jeweils mit weit. Nachw.) von zwei Jahren vollständig verbüßt (vgl.
Tröndle/Fischer, § 68f StGB Rdn. 5).
Die Ansicht des Beschwerdeführers, es fehle an der vollständigen Vollstreckung, weil er
zwei Tage vor Ablauf der notierten Strafzeit entlassen worden sei, trifft nicht zu. Richtig
ist es, daß § 68f den Eintritt der Führungsaufsicht von der vollständigen Vollstreckung
der Strafe abhängig macht (vgl. Tröndle/Fischer, § 68f StGB Rdn. 4). Vollständig
vollstreckt ist eine Strafe, wenn nach den gesetzlichen Vorschriften ihr Ende erreicht ist,
wobei auch einzelne Tage, in denen sich der Verurteilte nicht in der Haftanstalt aufhält
(Urlaub, Sonderurlaub etc.), als verbüßt gelten (vgl. BGH MDR 1982, 766, 767). Das
Strafende ist nicht erreicht, wenn der Gefangene aufgrund eines Gnadenerweises oder
einer Amnestie vorzeitig entlassen wird; denn eine solche Entlassung beruht nicht auf
dem Gesetz, sondern auf einem politischen Gnadenakt (vgl. KG JR 1979, 293). So liegen
die Dinge hier nicht. Der Beschwerdeführer ist aufgrund der §§ 16 und 43 StVollzG zwei
Tage vor dem ursprünglich errechneten Strafende entlassen worden. Einer genauen
Aufklärung, ob tatsächlich beide Vorschriften oder nur eine davon angewendet worden
sind, bedarf es nicht, da sich die Rechtsfolgen gleichen.
Das nach gesetzlichen Vorschriften erreichte Ende der Vollstreckung ist nicht notwendig
identisch mit der notierten Höchststrafzeit. Denn sowohl § 16 Abs. 2 und Abs. 3 StVollzG
als auch die Anrechnungsregeln des § 43 StVollzG bewirken, daß sich das Strafende
mathematisch zugunsten des Gefangenen verschiebt. Für die fakultative vorzeitige
Entlassung nach dem überwiegend fürsorgerische Gesichtspunkte berücksichtigenden §
16 StVollzG ist allgemein anerkannt, daß die Strafe im Sinne des § 68f StGB vollständig
vollstreckt worden ist (vgl. BGH – für § 48 a.F. StGB; OLG Düsseldorf MDR 1987, 603;
OLG Hamm, Beschluß vom 21. April 1986 – 1 Ws 82/86 – Juris; Schl. Holst. OLG,
Beschluß vom 19. Oktober 1981 – 1 Ws 376/81 – Juris; KG, Beschlüsse vom 18. April
2000 – 5 Ws 299/00 – und vom 17. August 1999 – 5 Ws 398/99 –).
Erst recht kann nichts anderes für die Vorverlegung des Entlassungszeitpunkts nach §
43 StVollzG gelten. Die Einführung der komplizierten Anrechnungsregeln dieser
Vorschrift ist eine Reaktion des Gesetzgebers auf das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 1. Juli 1998 (BVerfGE 98, 169 = NJW 1998, 3337) zum
Arbeitsentgelt der Gefangenen. Anders als im Falle des § 16 StVollzG hat der
Gefangene, der von der Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, sich nach § 43 Abs. 6
Satz 1 oder Abs. 7 Satz 1 StVollzG von der Arbeit freistellen zu lassen, oder dem dies
nach § 43 Abs. 7 Satz 2 StVollzG versagt war, (vorbehaltlich der Ausschluß- und
Abgeltungsregelung des § 43 Abs. 10, 11 StVollzG) einen Anspruch auf Vorverlegung
des Entlassungszeitpunktes gemäß § 43 Abs. 9 StVollzG. Diesen Anspruch erarbeitet
sich der Gefangene im Laufe des Vollzuges. Er kann also zum Zeitpunkt der
ursprünglichen Strafzeitberechnung zwangsläufig noch nicht bekannt sein. Er wirkt sich
unmittelbar auf die Strafzeitberechnung aus. Besteht er, darf die Strafe nicht mehr bis
zu dem bislang errechneten Zeitpunkt vollstreckt werden, sondern sie muß von Amts
wegen abweichend berechnet werden (vgl. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG 9. Aufl., § 43
Rdn. 4, S. 351 oben). Das zeigt, daß im Falle der Verkürzung der Strafzeit nach § 43 Abs.
9 StVollzG die Vollstreckung gesetzmäßig endet. Die Strafe ist also vollständig
vollstreckt.
2. Nach dem Willen des Gesetzgebers tritt beim Vorliegen der Voraussetzungen des §
68f Abs. 1 Satz 1 StGB die Führungsaufsicht regelmäßig und automatisch ein. Der
Gesetzgeber hat der Einführung der von Gesetzes wegen eintretenden Führungsaufsicht
die Gedanken zugrundegelegt, daß einerseits der nach Verbüßung einer langen
Haftstrafe Entlassene der besonderen Hilfe bei dem Übergang in die Freiheit regelmäßig
bedarf (vgl. Tröndle/Fischer, § 68f StGB Rdn. 1) und andererseits die vollständige
Vollstreckung der in § 68f Abs. 1 Satz 1 StGB genannten Einzelfreiheitsstrafen die
fortdauernde Gefährlichkeit des Täters indiziert. Aus diesem Grunde handelt es sich
auch nicht um eine verfassungswidrige Doppelbestrafung (vgl. BVerfGE 55, 28 = NStZ
1981, 21). Dementsprechend ist es in der Rechtsprechung (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR
2002, 283-LS; OLG Düsseldorf MDR 1990, 356, OLG Karlsruhe MDR 1987, 784; KG JR
1993, 301, 302; Beschluß vom 10. Juli 2000 – 5 Ws 493/00 –; std. Rspr.) anerkannt, daß
die durch § 68f Abs. 2 StGB ermöglichte Anordnung des Entfallens der Maßregel
Ausnahmecharakter hat und nur getroffen werden kann, wenn konkrete Tatsachen für
eine günstige Prognose vorliegen, die eine höhere als die zur Reststrafenaussetzung
nach § 57 Abs. 1 StGB genügende Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit verlangt (vgl.
OLG Frankfurt aaO; OLG Düsseldorf StV 1995, 539; MDR 1990, 356; KG aaO und JR 1988,
295, 296); selbst eine vorzeitige Entlassung in anderer Sache aufgrund einer günstigen
Prognose gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB führt daher nicht automatisch auch zum
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Prognose gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB führt daher nicht automatisch auch zum
Entfallen der Führungsaufsicht (vgl. OLG Düsseldorf wistra 2000, 314 = NStZ-RR 2000,
347, 348). Erst recht muß das für den Fall der Vollverbüßung gelten. Denn außer in dem
Fall, daß der Verurteilte nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB nicht in die vorzeitige
Entlassung eingewilligt hat, spricht das Erfordernis, die Strafvollstreckung fortzusetzen,
dafür, daß die Gefährlichkeit des Verurteilten noch nicht behoben ist; es sei denn,
gerade in den letzten Monaten des Strafvollzuges ist ein Wandel deutlich geworden, der
die Erwartung künftiger Straffreiheit begründet (vgl. OLG Frankfurt aaO; OLG Düsseldorf
StV 1982, 117 mit Anm. Deckers; KG JR 1988, 295, 296). Zweifel an einer solchen
Prognose gehen zu Lasten des Verurteilten (vgl. Tröndle/Fischer, § 68f StGB Rdn. 7).
3. Bei Anlegung dieser Maßstäbe erweist sich die angefochtene Entscheidung, die
Führungsaufsicht gegen den wegen Gewalttaten zu einer sehr hohen
Gesamtfreiheitsstrafe verurteilten Beschwerdeführer nicht abzukürzen, offensichtlich als
richtig.
Seiner Befürchtung, das Eintreffen "permanenter Gerichtspost" in seiner Wohnung
schade seiner sozialen Entwicklung, kann der Beschwerdeführer abhelfen, indem er den
Kontakt zu der Führungsaufsichtsstelle bei der Senatsverwaltung für Justiz, Salzburger
Straße 21, 10825 Berlin (Geschäftszeichen: FA – 213/03) und dem dort tätigen
Bewährungshelfer Herrn S selbst aktiv sucht und aufrechterhält.
III.
Die Beschwerde ist ebenfalls unbegründet. Die Nichtabkürzung der Höchstdauer der
Führungsaufsicht (§ 68c Abs. 1 Satz 2 StGB) und die Anordnungen nach §§ 68a Abs. 1,
68b Abs. 1 Nrn. 7 und 8 StGB) unterliegen der Prüfung durch das Beschwerdegericht nur
darauf, ob sie gesetzwidrig sind (§§ 463 Abs. 2, 453 Abs. 2 Satz 2 StPO).
Gesetzwidrigkeit wäre gegeben, wenn die Anordnungen im Gesetz nicht vorgesehen,
unverhältnismäßig oder unzumutbar wären (vgl. Fischer in KK-StPO 4. Aufl., § 453 Rdn.
13). Keine dieser Voraussetzungen ist erfüllt.
Die regelmäßige Höchstdauer der Führungsaufsicht von fünf Jahren ist angesichts der in
den Taten zum Ausdruck kommenden Gefährlichkeit des Verurteilten keineswegs
unverhältnismäßig. Der Gesetzgeber selbst hat sie in der verfassungsgemäßen
Vorschrift (vgl. BVerfG aaO.) angeordnet. Sollte sich das Verhalten des
Beschwerdeführers günstig entwickeln, so kann die Dauer der Führungsaufsicht
nachträglich (vgl. OLG Koblenz NStZ 2000, 92) abgekürzt werden (§ 68d StGB).
Auch die Weisungen, sich bei dem Bewährungshelfer zu melden sowie jeden Wechsel des
Wohnortes mitzuteilen, sind weder unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit
noch der Zumutbarkeit zu beanstanden. Sie sind vielmehr geboten, um die notwendige
Unterstützung und erforderliche Kontrolle zu gewährleisten.
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