Urteil des KG Berlin vom 14.03.2017

KG Berlin: höhere gewalt, stationäre behandlung, grobes verschulden, gesetzlicher vertreter, anschlussberufung, beifahrer, rücknahme, zukunft, auflage, schmerzensgeld

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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 119/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 7 Abs 2 StVG
Leitsatz
1. Ein Mitfahrer braucht sich ein unfallursächliches Verschulden des Fahrzeugführers im
Verhältnis zum Unfallgegner (Kraftfahrer) nicht anspruchsmindernd anrechnen zu lassen, weil
es dafür keine Zurechnungsnorm gibt.
2. Ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 EUR für erhebliche Verletzungen
(Schädelhirntrauma I. Grades, Innenknöchelfraktur des rechten Sprunggelenks,
Thoraxprellung, multiple Schürfwunden und Prellungen; stationäre Behandlung;
Dauerschaden mit Bewegungseinschränkung des Sprunggelenks), grobes Verschulden des
Unfallgegners (85 - 105 km/h innerorts unter Einfluss von Alkohol, 1,12 Promille, und
Haschisch) sowie zögerliches Regulierungsverhalten bei unzweifelhafter Haftung dem Grunde
nach (keine Abschlagszahlungen über 4 Jahre) ist nicht ermessensfehlerhaft.
Hier erfolgte die Rücknahme der Berufung
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522
Absatz 2 ZPO mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Tenor zu 5. richtig wie folgt
lautet:
5. Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits und die Kosten der Streithilfe zu
tragen.
Gründe
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Senat folgt den im Wesentlichen
zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch die
Berufungsbegründung nicht entkräftet worden sind. Ergänzend wird auf Folgendes
hingewiesen:
I. Berufung
Nach § 513 Absatz 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die
angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die
nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung
rechtfertigen. Beides ist nicht der Fall.
1. Zu Recht und mit zutreffender Begründung geht das Landgericht in der
angefochtenen Entscheidung davon aus, dass die Beklagten dem Kläger den diesem bei
dem Verkehrsunfall entstandenen Schaden zu 100% zu ersetzen haben. Wie das
Landgericht zutreffend ausführt, kann letztlich dahinstehen, ob ganz schwerwiegende
Gründe für eine Alleinhaftung der Beklagten an dem Unfall sprechen.
a) Der Kläger wurde als Beifahrer bei einem Unfall verletzt, an dem auch das von dem
Beklagten zu 1) gefahrene und gehaltene, bei der Beklagten zu 2) versicherte Fahrzeug
beteiligt war. Die Haftung der Beklagten folgt mithin unabhängig von der Frage etwaigen
Verschuldens der Fahrzeugführer der beiden beteiligten Fahrzeuge bereits aus der
Betriebsgefahr (§§ 7 Absatz 1, 17 Absatz 1 StVG). Umstände, aus denen sich ergeben
könnte, dass sich der Unfall für den Beklagten zu 1) als höhere Gewalt im Sinne von § 7
Absatz 2 StVG bzw. als unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG
darstellen könnte, haben die Beklagten nicht vorgetragen, solche Umstände sind auch
sonst nicht ersichtlich. Angesichts der vom gerichtlich bestellten Sachverständigen Dipl.-
Ing. W festgestellten Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von mindestens 85 km/h
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Ing. W festgestellten Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von mindestens 85 km/h
dürfte die Annahme von “höherer Gewalt” bzw. eines “unabwendbaren Ereignisses”
auch eher fernliegend sein.
b) Entgegen der auf Seite 5 der Berufungsbegründungsschrift geäußerten Rechtsansicht
muss sich der Kläger als Beifahrer ein etwaiges Verschulden “seines” Fahrers nicht
zurechnen lassen. Um einem Beifahrer ein Fehlverhalten des Fahrers zurechnen zu
können, bedarf es einer Rechtsgrundlage. Derartiges ist jedoch nicht erkennbar; denn
der Kläger war weder Erfüllungsgehilfe noch gesetzlicher Vertreter des ..., so dass schon
deshalb eine Zurechnung nach §§ 254 Abs. 2 Satz 2, 278 BGB ausscheidet, Ebenso
wenig war der Kläger ein weisungsgebundener “Verrichtungsgehilfe” im Sinne des § 831
BGB (vgl. zur Zurechnung des Verhaltens Dritter zu Lasten des Geschädigten etwa
Palandt/Heinrichs, BGB, 69. Aufl. 2010, § 254 Rn 49, 50; Senat, Urteil vom 13. Oktober
2008 -12 U 61/07 – KGReport 2009, 449 = VRS 116, 183; Senat, Urteil vom 31. Oktober
1994 – 12 U 4031/93 – DAR 1993, 72 = NZV 1995, 109 = VRS 88, 241; OLG Naumburg,
Urteil vom 12. Dezember 2008 – 6 U 106/08 – VM 2009, 27 Nr. 26).
c) Da es mithin für die Entscheidung des Rechtsstreits auf die vom Landgericht in
seinem Urteil verwerteten schriftlichen Aussagen der Zeugen in der Strafakte nicht
ankommt, beruht die angefochtene Entscheidung nicht auf der von den Beklagten
behaupteten Verletzung ihres rechtlichen Gehörs.
2. Auch die Ausführungen des Landgerichts zur Schadenshöhe sind nicht zu
beanstande.
a) Das Landgericht hat dem Kläger zu Recht ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00
€ zugesprochen. Angesichts der Schwere der vom Kläger erlittenen Verletzungen, des
grob verkehrswidrigen Verhaltens des Beklagten zu 1) und der Verzögerung der
Schadensregulierung durch die Beklagte zu 2) ist die vom Landgericht bei der
Bemessung des Schmerzensgeldes getroffene Ermessensentscheidung nicht zu
beanstanden. Ergänzend zu den zutreffenden Ausführungen des Landgerichts ist darauf
hinzuweisen, dass sich das zögerliche Regulierungsverhalten der Beklagten zu 2) aus
dem Akteninhalt ergibt und damit auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu
berücksichtigen war. Da dem Kläger als Beifahrer ein Verschulden nicht zugerechnet
werden kann und die Merkmale “unabwendbares Ereignis” bzw. “höhere Gewalt” auch
für die Beklagte zu 2) von Anfang an erkennbar nicht vorlagen, wäre eine zeitnahe
Entschädigung bzw. die Leistung von angemessenen Abschlagszahlungen zu erwarten
gewesen.
b) Das Landgericht hat die Beklagten mit zutreffender Begründung verurteilt, an den
Kläger 109,79 € zu zahlen. In der Berufungsbegründung wird die Höhe dieser
Verurteilung nicht in Frage gestellt.
c) Auch der Feststellungsausspruch ist nicht zu beanstanden.
aa) Der Feststellungsantrag ist zulässig, da die Möglichkeit eines zukünftigen
Schadenseintritts besteht (BGH, NJW-RR 2007, 601 = DAR 2007, 390 = VersR 2007,
708). Auch die “zeitliche Form”, d.h. die Beschränkung auf Ansprüche, die nach dem 20.
November 2006 entstehen, ist zumindest aus Sicht der Beklagten nicht zu
beanstanden. Beantragt nämlich der Geschädigte die Feststellung der Verpflichtung des
Schädigers, ihm den in Zukunft aus dem Unfallereignis entstehenden Schaden zu
ersetzen, so folgt aus den Grundsätzen der Antragsauslegung, dass damit die ab
Klageeinreichung und nicht erst die ab dem Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung entstehenden Schadensersatzansprüche erfasst werden (BGH, NJW 2000,
3287 = VersR 2000, 1521 = NZV 2001, 34 = VRS 99, 343).
bb) Der Feststellungsantrag ist begründet, da die sachlichen und rechtlichen
Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs vorliegen, also insbesondere ein
haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben ist, der zu den für die Zukunft befürchteten
Schäden führen kann (BGH, NJW-RR 2007, 601 = DAR 2007, 390 = VersR 2007, 708).
Wie sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Perka ergibt, beträgt die
unfallbedingte dauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers 5%. Aus Sicht des
Geschädigten besteht deshalb bei verständiger Würdigung ein Grund, mit dem Eintritt
eines weiteren Schadens zumindest zu rechnen. Dies reicht aus, um dem
Feststellungsantrag zu entsprechen.
3. Im Übrigen hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des
Senats zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung ist nicht erforderlich.
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4. Es wird daher angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.
II. Anschlussberufung
Im Falle einer Rücknahme oder einer Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2
ZPO verliert die rechtzeitig eingelegte und auch ohne Beschwer zulässige (vgl.
Zöller/Heßler, ZPO, 27. Auflage 2009 § 524 Rn 31, 35) Anschlussberufung gemäß § 524
Abs. IV ZPO ihre Wirkung. Die Kosten einer zulässig eingelegten Anschlussberufung sind
grundsätzlich dem Berufungskläger aufzuerlegen, und zwar nicht nur im Falle der
Rücknahme der Berufung (BGH, Beschluss vom 7. Februar 2006 – XI ZB 9/05 – NJW-RR
2006, 1147), sondern auch dann, wenn dessen Berufung nach einem Hinweis gem. §
522 Abs. 2 Satz 2 ZPO zurückgewiesen wird und die Anschlussberufung dadurch ihre
Wirkung verliert (Senat, KGR 2009, 962 = VRS 118, 91 = DAR 2010, 138 L). Da der nur
die Kostenfolge betreffenden Anschlussberufung ein eigener Streitwert nicht zukommt,
dürfte dies vorliegend ohne Auswirkung sein.
III. Erstinstanzliche Kostenentscheidung
1. Die erstinstanzliche Kostenentscheidung hat der Senat im Rahmen der Entscheidung
über die Berufung unabhängig von den gestellten Berufungsanträgen und unabhängig
von der Wirkungslosigkeit der Anschlussberufung zu prüfen. Eine Verschlechterung zu
Lasten des Berufungsführers ist im Kostenpunkt immer zulässig (§ 308 Absatz 2 ZPO);
eine falsche Kostenentscheidung darf mangels Antragsbindung auch bei erfolglosem
Rechtsmittel immer korrigiert werden (Zöller/Heßler, ZPO, 27. Auflage 2009 § 528 ZPO
Rn. 35).
2. Das Landgericht hat es fehlerhaft unterlassen, die Kosten der Streithelferin des
Klägers den Beklagten gemäß § 101 Absatz 1 ZPO aufzuerlegen. Dies wird durch den
angekündigten Beschluss nachzuholen sein.
IV.
Es ist beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug wie folgt festzusetzen:
Der Anschlussberufung kommt kein eigener Streitwert zu, da sie nur einen Teil der
Kostenentscheidung und damit eine Nebenentscheidung betrifft, über die im Rahmen
der Berufung auch ohne Anschlussberufung zu befinden ist.
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