Urteil des KG Berlin vom 18.07.2005

KG Berlin: haftbefehl, zulässigkeit der auslieferung, auslieferungshaft, auslieferungsersuchen, kennzeichen, marke, republik, strafrecht, verjährung, erlass

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Gericht:
KG Berlin 4.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(4) Ausl.A. 803/05
(174/05), (4) Ausl A
803/05 (174/05)
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 12 EuAuslfÜbk, Art 16
EuAuslfÜbk, EuHbG
Strafverfolgung: Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls
nach dem 18. Juli 2005 als Festnahmeersuchen
Tenor
Gegen den Verfolgten wird die vorläufige Auslieferungshaft angeordnet.
Gründe
Die Republik Polen hat auf justizbehördlichem Wege den Europäischen Haftbefehl des
Bezirksgerichts in (...) vom 7. September 2005 - (...) - übermittelt, in dem um die
Festnahme und Übergabe des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung ersucht wird.
Gegen den Verfolgten wird seit dem 9. Oktober 2005 in anderer Sache aufgrund des
Beschlusses des Senats vom 15. August 2005 - [4] Ausl.A. 73/05 [86/05]
Auslieferungshaft vollzogen. Er hat sich bei seiner richterlichen Vernehmung gemäß § 22
IRG am 24. Oktober 2005 weder mit der vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG)
einverstanden erklärt noch auf die Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität (§ 11 IRG)
verzichtet. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat die Anordnung der
Auslieferungshaft gegen den Verfolgten beantragt. Der Senat ordnet die vorläufige
Auslieferungshaft nach den §§ 16 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG i.V. mit Art. 16 Abs. 1 des
Europäischen Auslieferungsübereinkommens (EuAlÜbk) vom 13. Dezember 1957 (BGBl.
1964 II S. 1369; 1976 II S. 1778) an.
1. Aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2004 (2 BvR
2236/04) über die Nichtigkeit des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses
über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EuHbG) vom 21. Juli 2004 gilt für den
Auslieferungsverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union wieder die
Rechtslage, wie sie vor dem Inkrafttreten des EuHbG am 23. August 2004 bestanden
hat. Der Senat hat zwar für noch nicht erledigte Auslieferungsersuchen, in denen der
jeweilige ersuchende Staat vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen
Europäischen Haftbefehl übermittelt hatte, diesen als ein Auslieferungsersuchen im
Sinne des Art. 12 EuAlÜbk behandelt (vgl. etwa Beschlüsse vom 28. Juli 2005 - [4]
Ausl.A. 340/05 [98/05] und 15. August 2005 [4] Ausl.A. 73/05 [86/05], betreffend den
hiesigen Verfolgten in anderer Sache). Er hat ferner für die gemäß Art. 13 EuAlÜbk
erfolgte Übermittlung ergänzender Unterlagen zu einem solchen Europäischen
Haftbefehl, in dem nicht sämtliche nach Art. 12 Abs. 2 EuAlÜbk notwendigen Unterlagen
enthalten waren, den justizbehördlichen Weg ausreichen lassen (vgl. Beschlüsse vom 30.
August 2005 [4] Ausl.A. 340/05 [98/05] - und 23. September 2005 [4] Ausl.A. 235/05
[49/05]). Die Erwägungen, die für diese Behandlung der bereits zum Zeitpunkt der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anhängigen Auslieferungsverfahren
maßgeblich waren, sind jedoch nicht auf Verfahren zu übertragen, in denen - wie hier -
ein Europäischer Haftbefehl erst nach dem 18. Juli 2005 von den Behörden des
ersuchenden Staates erlassen und übermittelt worden ist. Die übrigen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union, hier die Republik Polen, können insbesondere nicht mehr auf
die Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die
Übergabeverfahren durch die Bundesrepublik Deutschland vertrauen. Sie sind, wie dem
Senat aus anderen Auslieferungsverfahren bekannt ist, zwischenzeitlich auch darüber
unterrichtet worden, dass nun wieder die Rechtslage, wie sie vor dem 23. August 2004
bestanden hat, gilt. Der in der obergerichtlichen Rechtsprechung teilweise vertretenen
Auffassung (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 16. August 2005 6 Ausl 63/05 - 31/05 ), auch
ein Europäischer Haftbefehl, der nach dem 18. Juli 2005 in der Bundesrepublik
Deutschland eingeht, stelle wegen der Intention, die der ersuchende Mitgliedstaat der
Europäischen Union mit seiner Übersendung verbinde, ein Auslieferungsersuchen im
Sinne des Art. 12 EuAlÜbk dar, schließt sich der Senat nicht an. Eine solche
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Sinne des Art. 12 EuAlÜbk dar, schließt sich der Senat nicht an. Eine solche
Sachbehandlung liefe darauf hinaus, die eindeutigen Anforderungen, wie sie sich aus Art.
12 EuAlÜbk und Kap. V Art. 5 des Zweiten Zusatzprotokolls zum Europäischen
Auslieferungsübereinkommen (2. ZP-EuAlÜbk) vom 17. März 1978 (BGBl. 1990 II S. 118;
1991 II S. 874) an die Form, den Inhalt und den Übermittlungsweg von
Auslieferungsersuchen ergeben, nicht vollständig in dem (gesetzlich) gebotenen Umfang
zu berücksichtigen. Aus demselben Grund teilt der Senat ferner nicht die ebenfalls
teilweise in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertretene Auffassung (vgl. OLG
Karlsruhe, Beschluss vom 7. September 2005 1 AK 31/04 bei juris), bei dem
Europäischen Haftbefehl handele es sich um einen Haftbefehl im Sinne des Art. 12 Abs.
2 Buchst. a EuAlÜbk, der als formale Auslieferungsgrundlage jedenfalls dann ausreiche,
wenn die Tatvorwürfe nebst rechtlicher Würdigung in ihm genügend beschrieben seien
und die eigentliche Haftgrundlage nachvollziehbar bezeichnet und wiedergegeben werde.
Die strikte Anwendung der Rechtslage, wie sie vor dem Inkrafttreten des EuHbG
bestanden hat, auf nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
eingegangene bzw. eingehende Europäische Haftbefehle und Auslieferungsersuchen ist
nicht als „auslieferungsfeindlich“ zu bewerten, zumal sie im Auslieferungsverkehr mit
den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch vor dem Inkrafttreten des
EuHbG erfolgt war und dem jeweiligen ersuchenden Staat Rechtssicherheit darüber
verschafft, welche Anforderungen nach innerstaatlichem deutschen Recht an
Auslieferungsersuchen derzeit gestellt werden.
2. Der Senat behandelt den auf justizbehördlichem Wege übermittelten Europäischen
Haftbefehl des Bezirksgerichts in (...) vom 7. September 2005 aus den vorstehend
dargelegten Gründen als Festnahmeersuchen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 EuAlÜbk, mit
dem die Vorlage eines Auslieferungsersuchens gemäß Art. 12 EuAlÜbk angekündigt
wird. Abweichend vom Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin ist deshalb zum
gegenwärtigen Zeitpunkt allein die Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft nach
den §§ 16 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG i.V. mit Art. 16 Abs. 1 EuAlÜbk zulässig.
Der Europäische Haftbefehl enthält die nach Art. 16 Abs. 2 und 3 EuAlÜbk erforderlichen
Angaben. Denn es wird mitgeteilt, dass gegen den Verfolgten der Beschluss des
Bezirksgerichts in (...) vom 13. Juni 2000 - (...) über die vorläufige Verhaftung besteht
und ihm vorgeworfen wird, sich wie folgt strafbar gemacht zu haben:
a) Zwischen dem 10. Januar und dem 26. Juli 1993 soll er in Berlin gemeinschaftlich
handelnd mit J. J., J. St., W. M. und W. J. drei Fahrzeuge der Marke Mercedes jeweils nach
Aufbrechen eines Türschlosses entwendet haben, und zwar
aa) am 10./11. Januar 1993 dem Geschädigten J. T. den Mercedes 200 E mit dem
amtlichen Kennzeichen B -–LN... 854 im Wert von etwa 40.000,00 DM - entsprechend
etwa 39.084 PLN,
bb) im selben Zeitraum dem Geschädigten H. J. K. den Mercedes 230 E, amtliches
Kennzeichen B -CP 75 ...8, im Wert von etwa 30.000,00 DM - entsprechend etwa 29.313
PLN,
cc) am 25./26. Juli 1993 dem Geschädigten M. F. den Mercedes 300 CE mit dem
amtlichen Kennzeichen B - ...LA 706 im Wert von etwa 26.000,00 DM entsprechend etwa
27.287 PLN .
b) Zwischen Januar und Juli 1993 soll der Verfolgte darüber hinaus in Berlin und Frankfurt
(Oder) gemeinschaftlich handelnd mit denselben Mittätern zum Nachteil nicht
ermittelter Geschädigter drei weitere Fahrzeuge der Marke Mercedes im Schätzwert von
insgesamt etwa 92.000,00 DM entsprechend etwa 83.323 PLN jeweils unter Aufbrechen
eines Türschlosses entwendet haben.
c) Im Zeitraum von Januar bis zum 26. Juli 1993 soll er, gemeinschaftlich handelnd mit
den vorerwähnten Mittätern, die sechs entwendeten Fahrzeuge nach Polen gebracht
haben, ohne in Slubice und Kostrzyn (Oder) die Zollgebühren und Steuern zu entrichten.
Zuvor soll er in Berlin, Frankfurt (Oder) und Kostrzyn (Oder) J. St., W. J. und W. M. dazu
verleitet haben, mit den entwendeten Fahrzeugen in illegaler Weise nach Polen
einzureisen.
aa) Am 11. Januar 1993 fielen in Slubice für die Einfuhr des Mercedes 200 E, amtliches
Kennzeichen B CN 854 - ..., Zollgebühren in Höhe von 7.539 PLN und Umsatzsteuer in
Höhe von 10.178 PLN 6 Groschen sowie für die Einfuhr des Mercedes 230, amtliches
Kennzeichen B CP 758- ..., Zollgebühren in Höhe von 5.258 PLN 70 Groschen und
Umsatzsteuer in Höhe von 7.099 PLN 30 Groschen an, die nicht entrichtet wurden.
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bb) Am 26. Juli 1993 fielen bei der Einfuhr des Mercedes 300 CE, amtliches Kennzeichen
B A 706 - ..., Zollgebühren in Höhe von 15.953 PLN 90 Groschen und Steuer in Höhe von
21.104 PLN an, die nicht entrichtet wurden.
cc) Darüber hinaus fielen für die Einfuhr der weiteren drei Fahrzeuge der Marke Mercedes
Zollgebühren in Höhe von 12.407 PLN 15 Groschen an, die der Verfolgte nicht
entrichtete.
3. Die Auslieferung des Verfolgten erscheint nicht von vornherein unzulässig (§ 15 Abs. 2
IRG). Bei den ihm vorgeworfenen Taten handelt es sich um auslieferungsfähige strafbare
Handlungen im Sinne von Art. 2 Abs. 1 EuAlÜbk, Kap. II Art. 2 Abs. 1 2. ZP-EuAlÜbk. Sie
sind sowohl nach dem polnischen Strafrecht (Art. 203, 208, 288 § 1, 10 § 2, 18 § 1, 58
StGB 1969/Art. 278 § 1, 294 § 1, 115 § 5, 11 § 2, 12, 18 § 1 und 2 des polnischen StGB
1997) und dem polnischen Finanzstrafrecht (Art. 80 § 1, 94 § 1, 5, 25 § 1 Nrn. 2 und 3,
58 Finanzstrafgesetzbuch 1971/Art. 7, 37 § 1 Nrn. 2 und 3, 86, 54 des derzeit geltenden
Finanzstrafgesetzbuches) als auch nach deutschem Strafrecht (§§ 242, 243 Abs. 1 Satz
2 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB, § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO i.V. mit den §§ 1 Abs. 1 Nr. 4, 21 UStG)
jeweils mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens einem Jahr bedroht.
Umstände, die der Auslieferung des Verfolgten entgegenstehen könnten, sind derzeit
nicht ersichtlich.
Der vorgelegte Europäische Haftbefehl enthält betreffend die Entwendung von drei
Kraftfahrzeugen der Marke Mercedes im Zeitraum von Januar bis Juli 1993 sowie deren
Einfuhr nach Polen ohne Entrichtung der angefallenen Zollgebühren allerdings nicht die
nach Art. 12 Abs. 2 EuAlÜbk erforderlichen Angaben zu den konkreten Tatzeiten und
Tatorten. Im Fall der Vorlage eines Auslieferungsersuchens bedarf es hierzu noch
ergänzender Angaben, um über die Zulässigkeit der Auslieferung auch insoweit
entscheiden zu können.
Soweit die Strafverfolgung nach deutschem Recht möglicherweise verjährt ist, steht dies
der Auslieferung gegenwärtig nicht entgegen, weil nach Art. 4 des Vertrages zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des
Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die
Erleichterung seiner Anwendung (BGBl. 2004 II S. 522, 1339) zur Beurteilung der
Verjährung ausschließlich das Recht der ersuchenden Vertragspartei maßgebend ist und
sich aus dem vorgelegten Beschluss des Bezirksgerichts in (...) vom 7. September 2005
über den Erlass des Europäischen Haftbefehls ergibt, dass die dem Verfolgten
angelasteten Straftaten nicht verjährt sein sollen. Die für die Verjährung maßgeblichen
polnischen Rechtsvorschriften sind bisher nicht gemäß Art. 12 Abs. 2 EuAlÜbk
übermittelt worden.
4. Die Anordnung der Auslieferungshaft ist erforderlich, weil die Gefahr besteht, dass sich
der Verfolgte, sollte er auf freien Fuß gelangen, dem Auslieferungsverfahren oder der
Durchführung der Auslieferung entziehen würde (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG). Der Verfolgte hat
im Fall seiner Verurteilung mit der Verhängung hoher, Fluchtanreiz bietender Strafen zu
rechnen. Seine persönlichen Verhältnisse können die Fluchtgefahr nicht mindern. Der
Verfolgte hat in Deutschland keinen Wohnsitz und keine persönlichen oder beruflichen
Bindungen. Es ist deshalb zu besorgen, dass er im Fall der Freilassung untertaucht oder
sich in das Ausland absetzt. Unter diesen Umständen kann der Zweck der
Auslieferungshaft nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen nach § 25 IRG
erreicht werden.
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