Urteil des KG Berlin vom 13.03.2017
KG Berlin: dringender tatverdacht, haftbefehl, betrug, untersuchungshaft, diebstahl, gewahrsam, wegnahme, abgrenzung, täuschung, unschuldsvermutung
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Gericht:
KG Berlin 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 AR 586/07 – 1 Ws
78/07, 1 AR 586/07, 1
Ws 78/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 242 StGB, § 263 StGB, § 120
Abs 1 S 1 StPO, § 252 StGB, §
249 Abs 1 StGB
Diebstahl; Betrug; Untersuchungshaft: Abgrenzung zwischen
Diebstahl und Betrug bei Gewahrsamslockerung;
Untersuchungshaft bei nicht rechtskräftigem erstinstanzlichen
Urteil
Leitsatz
1. Zur Abgrenzung von Diebstahl zu Betrug bei Gewahrsamslockerung.
2. Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil fallen geringer ins Gewicht als vor
diesem Zeitpunkt, bis zu dem die Unschuldsvermutung in stärkerem Maße für den
Angeklagten streitet.
Tenor
Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Landgerichts Berlin vom 5.
April 2007 wird mit der Maßgabe verworfen, daß der Angeklagte des Raubes dringend
verdächtig ist.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 10. Mai 2006 wegen Besitzes von
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Betrug (in einem besonders
schweren Fall) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und zugleich die
Fortdauer der aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 13. Juli 2005
seit dem 4. August 2005 mit einer Unterbrechung von 15 Tagen Ordnungshaft
vollzogenen Untersuchungshaft angeordnet. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, da der
Angeklagte und die Staatsanwaltschaft jeweils Berufung eingelegt haben, über die das
Landgericht seit dem 31. Oktober 2006 verhandelt. Das Landgericht hat den Haftbefehl
des Amtsgerichts aufgehoben und durch den Haftbefehl vom 5. April 2007 ersetzt, mit
dem es dem Angeklagten „versuchten Betrug in Tateinheit mit räuberischem Diebstahl“
zur Last legt. Seine dagegen gerichtete Beschwerde bleibt im Ergebnis ohne Erfolg.
1. Es besteht dringender Tatverdacht. Der Verteidigung ist zwar zuzugeben, daß der
Geschehensablauf, auf dem die rechtliche Bewertung der Tat beruhen soll, im Haftbefehl
teilweise lückenhaft geschildert ist. Der Senat entnimmt ihm aber mit noch
hinreichender Deutlichkeit, daß dem Angeklagten vorgeworfen wird, er habe von dem
Zeugen S. mit einem lediglich zum Schein angebotenen Verkauf von 20 kg Marihuana
die dafür vereinbarten 62.000,00 EUR betrügerisch erlangen wollen und sich das Geld
schließlich gewaltsam verschafft, als der Geschädigte Verdacht geschöpft habe.
Soweit der Angeklagte eine Gewaltanwendung zur Erlangung des Geldes bestreitet und
im Widerspruch zur bisherigen Annahme des Landgerichts berechtigte Geldforderungen
gegen den Geschädigten behauptet, kann der Senat nicht eingreifen. Insoweit ist das
Beschwerdegericht an die vorläufige Bewertung der bisherigen Beweisergebnisse in der
laufenden Hauptverhandlung durch den Tatrichter gebunden, da es an der
Beweisaufnahme nicht teilgenommen hat und sie nicht wiederholen kann (vgl. KG,
Beschluß vom 14. März 2005 – 4 Ws 28/05 -). Eine endgültige Aufklärung des
Geschehensablaufs und die Beantwortung der Frage, ob dem Angeklagten ein
Gegenanspruch zustand und welche Auswirkungen das auf die Strafbarkeit seines
Vorgehens haben kann, muß deshalb der weiteren Hauptverhandlung vorbehalten
bleiben.
Allerdings begegnet die rechtliche Bewertung der Tat in dem Haftbefehl durchgreifenden
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Allerdings begegnet die rechtliche Bewertung der Tat in dem Haftbefehl durchgreifenden
Bedenken. Es ist zwar nicht zu beanstanden, daß die Strafkammer annimmt, der
Angeklagte habe während der Tatausführung wegen der aus seiner Sicht
fehlgeschlagenen Täuschung sein Vorgehen geändert und sich (erst) durch die
Anwendung von Gewalt den alleinigen Gewahrsam an dem Geld verschafft, obwohl ihm
der Geschädigte schon zuvor die Tüte mit dem Geld übergeben hatte. Bei der
Abgrenzung zwischen Betrug und Diebstahl kommt es maßgeblich auf die
Willensrichtung des Geschädigten und nicht nur auf das äußere Erscheinungsbild des
Tatgeschehens an (vgl. BGH MDR 1987, 446). (Versuchter) Betrug liegt dann vor, wenn
der Getäuschte den Gewahrsam aufgrund freier und nur durch den Irrtum beeinflußter
Entschließung übertragen will. Hingegen ist von einer Wegnahme auszugehen, wenn die
Täuschung lediglich dazu dient, den eigenmächtigen Gewahrsamsbruch des Täters zu
ermöglichen oder wenigstens zu erleichtern (vgl. BGH aaO.). Hat der
Gewahrsamsinhaber, der die wahren Absichten des Täuschenden nicht erkannt hat, den
Gegenstand übergeben, ohne seinen Gewahrsam völlig preiszugeben, kommt eine
Wegnahme in Betracht, wenn der Täter die Sache nunmehr gegen den Willen des
Berechtigten in seinen oder eines Dritten Alleingewahrsam bringt (vgl. OLG Düsseldorf
NJW 1990, 923).
Das Landgericht ist aufgrund der Beweisaufnahme nach dem im Haftbefehl mitgeteilten
Sachverhalt offensichtlich zu dem Ergebnis gelangt, daß der Geschädigte dem
Angeklagten das Geld zunächst nur für kurze Zeit zum Nachzählen überlassen und
darüber endgültig als Bezahlung erst später Zug um Zug gegen Herausgabe des
Rauschgifts verfügen wollte. Diese Annahme liegt nahe, da der Angeklagte einräumt,
daß er bei einem ersten Treffen den ihm angebotenen Geldbetrag als zu niedrig
zurückgewiesen und der Zeugen S. ihm beim zweiten Treffen das Geld mit dem
Bemerken, es seien nun 62.000,00 EUR, übergeben habe, wobei das Rauschgiftgeschäft
jedoch auf Verlangen des S. an einem anderen Ort abgewickelt werden sollte. Bei einer
solchen Fallgestaltung kann der Angeklagte mit der Übergabe des Geldes allenfalls
Mitgewahrsam erlangt haben. Die freiwillige Übertragung des Mitgewahrsams ist jedoch
noch keine Vermögensverfügung; sie bewirkt noch keinen unmittelbaren
Vermögensschaden sondern lediglich eine Gewahrsamslockerung (vgl. BGH aaO).
Alleinigen Gewahrsam konnte der Angeklagte bzw. der Mitangeklagte R. demnach erst
im Verlaufe der gewaltsamen Auseinandersetzung um die Geldtüte begründen. Das ist
aber entgegen der Ansicht des Landgerichts kein räuberischer Diebstahl. Denn die
Vorschrift des § 252 StGB setzt voraus, daß die Wegnahme abgeschlossen und damit
der Diebstahl im Zeitpunkt der Gewaltanwendung bereits vollendet ist und sie nur noch
der (endgültigen) Beutesicherung und der Beendigung der Tat dient. Der Angeklagte ist
danach des Raubes (§ 249 Abs. 1 StGB) dringend verdächtig. Der Senat neigt zu der
Annahme, daß hinter diesem Verbrechenstatbestand das Vergehen des (versuchten)
Betruges zurücktritt. Er kann das hier aber offen lassen, da der für die Straferwartung
bedeutsame Schuldumfang dadurch nicht berührt wird.
2. Es besteht Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Angeklagte muß befürchten,
daß seine Berufung keinen Erfolg haben und auf das Rechtsmittel der
Staatsanwaltschaft eine noch höhere Strafe gegen ihn verhängt wird. Das gilt auch für
den Fall, daß sich das Landgericht – wie noch das Amtsgericht - nicht davon überzeugen
kann, daß der Angeklagte das zum Kauf angebotene Rauschgift ganz oder teilweise
tatsächlich besessen hatte. Eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach § 57
StGB ist schon aufgrund der erheblichen Vorstrafen des Angeklagten nicht zu erwarten.
Der danach verbleibende Strafrest von voraussichtlich noch über einem Jahr bietet ihm
einen starken Anreiz, sich im Falle seiner Freilassung dem weiteren Verfahren zu
entziehen. Besondere Umstände, die der Fluchtgefahr entgegenstehen oder sie
entscheidend mindern könnten, liegen nicht vor. Die Einkommensquellen des
Beschwerdeführers sind undurchsichtig. Er hat unter der letzten Meldeanschrift bei
seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau nicht gewohnt und sich in Kenntnis der gegen
ihn eingeleiteten Ermittlungen verborgen gehalten, so daß er erst nach aufwendigen
Fahndungsmaßnahmen festgenommen werden konnte. Er verfügt zudem noch über
Kontakte in sein Herkunftsland Türkei, in das er sich absetzen könnte. Danach sind auch
mildere Maßnahmen (§ 116 StPO) als der Vollzug von Untersuchungshaft nicht geeignet,
deren Zweck in gleicher Weise zu erfüllen.
3. Die Untersuchungshaft ist trotz ihrer bisherigen Dauer angesichts der Bedeutung der
Sache und der zu erwartenden Strafe weiterhin verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1
StPO). Das Beschleunigungsgebot ist weitgehend beachtet worden. Dabei ist auch zu
berücksichtigen, daß Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil geringer ins
Gewicht fallen als vor diesem Zeitpunkt, bis zu dem die Unschuldsvermutung in
stärkerem Maße für den Angeklagten streitet (vgl. KG, Beschluß vom 31. Oktober 2002 –
5 Ws 551/02 -).
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Das Verfahren vor dem Amtsgericht ist insgesamt zügig durchgeführt und nach 20
Verhandlungstagen mit dem Urteil vom 10. Mai 2006 abgeschlossen worden. Das
beanstandet die Verteidigung auch nicht. Das Landgericht hat nach dem Eingang der
am 10. August 2006 vorgelegten Akten mit der Hauptverhandlung am 31. Oktober 2006
begonnen, was angesichts des umfangreichen Prozeßstoffes und der erforderlichen
Terminsabsprachen mit den Verfahrensbeteiligten noch vertretbar ist. Die Strafkammer
hat bisher 22 Zeugen vernommen sowie mehrere Verfahrensanträge der Verteidiger
beschieden. Soweit der Angeklagte bemängelt, daß der rechtliche Hinweis auf die dem
neuen Haftbefehl zugrunde gelegte Bewertung der Tat erst am 30. März 2007 ergangen
sei, ist nicht zu besorgen, daß dadurch eine erhebliche Verzögerung eintreten wird. Die
gewaltsame Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten
nahm von Anfang an einen breiten Raum der Ermittlungen ein, ist in der Anklageschrift
erwähnt und wird auch in dem Urteil des Amtsgerichts ausführlich geschildert. Soweit die
Verteidigung bisher auf eine Befragung der Tatzeugen zu diesem Punkt verzichten zu
können glaubte und sie deshalb ihre erneute Vernehmung fordert, bedarf es für die
ergänzende Beweisaufnahme nur eines überschaubaren Zeitaufwandes. Zu einer
erneuten Befragung des Zeugen S. ist es bisher deshalb nicht gekommen, weil seiner
am 3. Mai 2005 vorgesehenen Vernehmung die Verteidigung mit Anträgen
widersprochen hat. Der Ausfall von fünf bereits terminierten Verhandlungstagen beruhte
in erster Linie auf Erkrankungen einer Schöffin und nicht auf Versäumnissen des
Gerichts.
Ungeachtet dessen lassen die dem Senat vorliegenden Akten nicht durchweg erkennen,
daß die Strafkammer bei den mitunter großen zeitlichen Abstände zwischen den
einzelnen Sitzungstagen immer alle ihr zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um
durch eine straffe Terminierung der bisherigen Haftdauer angemessen Rechnung zu
tragen (vgl. KG, Beschluß vom 27. Dezember 2006 – 4 Ws 215/06 -). An den zügigen
Fortgang des Verfahrens sind aber bei längerer Untersuchungshaft besonders strenge
Anforderungen zu stellen. Es müssen dann auch geringere Verzögerungen vermieden
werden, weil der Freiheitsanspruch (Art. 2 GG) eines noch nicht rechtskräftig verurteilten
Gefangenen gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung
mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft ein immer stärkeres Gewicht gewinnt
(vgl. BVerfG NJW 2006, 1336; KG, Beschluß vom 17. August 2006 – 3 Ws 398/06 -). Das
Landgericht wird daher für eine dichtere Abfolge der Hauptverhandlungstermine als
bisher Sorge tragen müssen, wenn es den Bestand des Haftbefehls nicht gefährden will.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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