Urteil des KG Berlin vom 13.03.2017
KG Berlin: gefahr im verzug, wohnung, bindungswirkung, durchsuchung, waffe, urkunde, betäubungsmittel, beweismittel, balkon, beweisverwertungsverbot
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Gericht:
KG Berlin 4.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(4) 1 Ss 240/09
(191/09)
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 358 Abs 1 StPO
Bindung an die Aufhebungsansicht des Revisionsgerichts
Leitsatz
1. Die aus § 358 Abs. 1 StPO folgende Bindungswirkung entfällt, wenn die erneute
Hauptverhandlung zu einer wesentlichen Änderung der Entscheidungsgrundlage geführt hat,
wenn mithin die von ergänzenden Feststellungen getragene neue Fallgestaltung von der
bisherigen Rechtsbeurteilung nicht erfasst wäre. Dies ist bei neuen Feststellungen zur
Motivlage von Polizeibeamten, die bei einer Wohnungsdurchsuchung zu Unrecht von der
Einholung einer richterlichen Anordnung abgesehen haben, nicht ohne weiteres der Fall.
2. Die Selbstbindung der Revisionsinstanz entfällt jedenfalls dann nicht, wenn eine Änderung
der Rechtsauffassung des Revisionsgerichts erst anlässlich der neuen Entscheidung in
derselben Sache erfolgen würde.
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. März
2009 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der
Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Tiergarten verurteilte den Angeklagten wegen unerlaubten Besitzes
von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum
unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer
Freiheitsstrafe von drei Jahren. Auf die Berufung des Angeklagten sprach das
Landgericht Berlin den Angeklagten mit Urteil vom 5. März 2008 frei, weil die
Durchsuchung seiner Wohnung, bei der die Betäubungsmittel gefunden worden waren,
rechtswidrig gewesen sei und die im Zusammenhang mit der Durchsuchung
gewonnenen Beweismittel einem Verwertungsverbot unterlägen. Das Landgericht nahm
an, die eingesetzten Polizeibeamten hätten einen besonders groben Verstoß gegen
Verfahrensrecht (§ 105 Abs. 1 Satz 1 StPO) begangen, der einer bewussten Missachtung
des Richtervorbehalts gleich stehe.
Der Senat hat auf die Revision der Staatsanwaltschaft Berlin diese freisprechende
Entscheidung mit Urteil vom 1. September 2008 ([4] 1 Ss 220/08 [136/08] - bei juris)
aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere
Kammer des Landgerichts zurückverwiesen. Er hat entschieden, dass unter
Berücksichtigung der in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze
(vgl. u.a. BGHSt 51, 285 ff) nach der vorzunehmenden Interessenabwägung kein
Sonderfall einer schwerwiegenden Rechtsverletzung anzunehmen sei und deshalb ein
Beweisverwertungsverbot nicht vorliege.
Nach der erneuten Berufungshauptverhandlung hat das Landgericht Berlin die Berufung
des Angeklagten nunmehr mit der Maßgabe verworfen, dass dieser unter Einbeziehung
rechtskräftig verhängter Geldstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und
acht Monaten (Einzelstrafe für die vorliegende Tat: zwei Jahre und sechs Monate)
verurteilt worden ist.
II.
Mit seiner Revision, deren Ziel in erster Linie seine Freisprechung ist, rügt der Angeklagte
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Mit seiner Revision, deren Ziel in erster Linie seine Freisprechung ist, rügt der Angeklagte
die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat teilweise
(vorläufigen) Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts erhielten Polizeibeamte am Samstag, dem
6. Januar 2007, zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt zwischen 7.20 Uhr und 8.00
Uhr den Auftrag, wegen einer Körperverletzung im Rahmen häuslicher Gewalt in die
L.straße in Berlin-… zu fahren. Dort angekommen, bemerkten die vier Beamten im
Treppenhaus die im Gesicht blutende Geschädigte Frau Z. und einen Treppenabsatz
höher den nur mit Boxershorts bekleideten, erheblich alkoholisierten Angeklagten. Sie
beschlossen, den Angeklagten wegen des Verdachts der Körperverletzung vorläufig
festzunehmen und zur Entnahme einer Blutprobe in die Gefangenensammelstelle zu
verbringen. Sie legten ihm Handfesseln an, setzten ihn auf die Treppe und hielten ihn
dort fest. Seine Personalien gab der Angeklagte nicht preis. Deshalb entschied sich der
Beamte PHM W., in der Wohnung des Angeklagten, auf die ein Hausbewohner
aufmerksam gemacht hatte, nach Ausweispapieren zu suchen. Über die Rechtmäßigkeit
dieser Maßnahme machte er sich keine Gedanken; er sah das alleinige Suchen nach
Ausweispapieren nicht als Durchsuchung im Rechtssinne an und wollte hierdurch eine
erkennungsdienstliche Behandlung des Angeklagten auf der Gefangenensammelstelle
vermeiden. Nachdem der Beamte W. und die Zeugin POM’in R. durch die lediglich
angelehnte Wohnungstür die Wohnung betreten hatten, entdeckte die Zeugin alsbald
auf dem Fußboden liegend eine vermeintlich zu einer scharfen Waffe gehörige Patrone.
Nach kurzer Rücksprache mit ihren noch im Treppenhaus befindlichen Kollegen
entschlossen sich die Polizeibeamten zu einer – jetzt auch von ihnen so bewerteten -
Durchsuchung der Wohnung, weil man darin nunmehr eine scharfe Waffe vermutete.
Hierzu führt das Landgericht aus: „Ohne näher darüber nachzudenken oder gar
Vorgesetzte anzurufen, nahmen PHM W. und auch POM H. Gefahr im Verzug an“. Um
eine richterliche Anordnung bemühten sich die Beamten demgemäß nicht. Bei dieser
Durchsuchung entdeckten die Beamten zwar keine Waffe, aber im Badezimmer unter
der Badewanne, versteckt hinter zwei Fliesen, 934 g eines Kokaingemisches mit einem
Wirkstoffgehalt von ca. 845,4 g (Bestimmung bei einem relativen Messfehler von +/- 5%)
sowie auf dem Balkon unter einem Karton einen Plastikbeutel mit ca. einem Kilogramm
Cannabiskraut mit einem Wirkstoffgehalt von 37,29 g THC (+/- 10%).
Später noch hinzugekommene Polizeibeamte eines Fachdezernats, die weitere – nicht
zum Auffinden relevanter Beweismittel führende - Durchsuchungsmaßnahmen
vornahmen, fertigten ein Protokoll über die gesamte Durchsuchung und
Beschlagnahmen, worin sie die Maßnahmen ohne nähere Ausführungen als nach der
Strafprozessordnung durchgeführt und mit Gefahr im Verzug begründeten.
Dem Schuldspruch liegt die Feststellung der Kammer zugrunde, dass der Angeklagte die
genannten Betäubungsmittel am 6. Januar 2007 gegen 8.00 Uhr ohne die erforderliche
Erlaubnis in dem Bewusstsein aufbewahrte, dass sie zum gewinnbringenden
Weiterverkauf durch (nicht näher bekannte) Dritte bestimmt waren. Die Untersuchung
der dem Angeklagten am selben Tage um 9.20 Uhr entnommenen Blutprobe ergab eine
Blutalkoholkonzentration von 2,11 ‰.
2. Die Revision führt nicht zum Freispruch. Entgegen der Auffassung des
Beschwerdeführers ist das angegriffene Urteil nicht aufzuheben, weil das Landgericht
hinsichtlich der aufgefundenen Betäubungsmittel und der sonstigen im Zusammenhang
mit der Wohnungsdurchsuchung gewonnenen Beweismittel ein Beweisverwertungsverbot
verneint hat. Der Senat hatte mit seinem Urteil vom 1. September 2008 dargelegt, dass
vorliegend aus der Rechtswidrigkeit der Wohnungsdurchsuchung kein
Beweisverwertungsverbot folgt. Auf dieser Ansicht beruhte die Aufhebung des
freisprechenden Urteils des Landgerichts. Die neu erkennende Berufungskammer war
nach § 358 Abs. 1 StPO an diese der Aufhebung zugrunde liegende rechtliche Bewertung
des Sachverhalts durch das Revisionsgericht gebunden.
a) Die aus der genannten Vorschrift folgende Bindungswirkung entfällt zwar, wenn die
erneute Hauptverhandlung zu einer wesentlichen Änderung der Entscheidungsgrundlage
geführt hat (vgl. nur Kuckein in KK-StPO 6. Aufl., § 358 Rdn. 16). Dies wäre dann der Fall,
wenn das Landgericht neue, andere Feststellungen getroffen hätte, bei deren
Zugrundelegung die Aufhebungsansicht des Senats nicht zum Tragen gekommen, die
neue Fallgestaltung von der bisherigen Rechtsbeurteilung mithin nicht erfasst wäre (vgl.
BGHSt 9, 324, 329; OLG Düsseldorf StV 1985, 274, 275 m.w.N.; Meyer-Goßner, StPO 52.
Aufl., § 358 Rdn. 9; Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess, 7. Aufl., Rdn. 596; Momsen
in SK-StPO, § 358 Rdn. 16; Temming in HK-StPO 4. Aufl., § 358 Rdn. 8; Hanack in
Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl., § 358 Rdn. 13 m.w.N.).
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Eine solche Konstellation, in der sich der zu Grunde liegende Sachverhalt in einer für die
Entscheidung erheblichen Weise geändert hätte, ist vorliegend aber nicht gegeben.
Soweit die Revision darauf hinweist, das neue tatrichterliche Urteil habe „die Motivlage
der beteiligten Polizeibeamten näher beleuchtet“, führt dieser Umstand nicht zu der
Annahme, dass der nunmehr zur Beurteilung stehende Sachverhalt von den rechtlichen
Erwägungen des Senats im Urteil vom 1. September 2008 nicht erfasst wäre. Die
ergänzenden Feststellungen runden das Bild zwar ab. Sie sind einzustellen in die
gebotene Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles; eine solche
Gesamtbetrachtung führt unter Berücksichtigung insbesondere der Art des Verbots und
dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu der
Entscheidung, ob ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen ist (vgl. zuletzt zum Fall
einer rechtswidrigen Wohnungsdurchsuchung: BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 2009 – 2
BvR 2225/08 – [juris]). Diese hiernach gebotene Gesamtwürdigung wird aber nicht nur
von den durch die Revision genannten, negativ bewerteten neuen Aspekten geprägt.
Vielmehr ist nach dem neu festgestellten Sachverhalt auf der anderen Seite ein
Gesichtspunkt zu bedenken, der das Fehlverhalten der Beamten insgesamt nicht
gewichtiger erscheinen lässt, als es sich nach den der Senatsentscheidung vom 1.
September 2008 zugrunde liegenden Feststellungen darstellte. Ausweislich der den
Senat bindenden neuen Feststellungen haben die Polizeibeamten – wenn auch im
Ergebnis zu Unrecht - Gefahr im Verzug angenommen (Urteil vom 2. März 2009, vom
UA S. 7). Dem ersten landgerichtlichen Urteil hingegen lag zugrunde, dass keiner der
Beamten solches irrtümlich angenommen hätte (Urteil vom 5. März 2008, UA S. 6), die
Beamten sich vielmehr „darüber im Klaren waren, dass kein Fall von Gefahr im Verzug
vorliegt“ (ebda. S. 7).
Die vom Senat im Urteil vom 1. September 2008 dargelegte rechtliche Bewertung gilt
hiernach auch für den neu festgestellten, nicht in entscheidungserheblicher Weise
modifizierten Sachverhalt. Der Senat weist lediglich ergänzend darauf hin, dass bei der
gebotenen konkreten Betrachtung diejenige Durchsuchungsmaßnahme in den Blick zu
nehmen sein dürfte, bei der die fraglichen Beweismittel gewonnen worden sind. Dies war
die gezielte Suche nach einer Waffe, nicht aber jene nach einem Ausweispapier. Denn
letztere hätte zweifellos nicht zur Ablösung der Fliesen im Bad oder zu dem Blick unter
den umgedreht auf den Balkon liegenden Karton und in die darunter verborgene
Plastiktüte geführt. Dass sich der Anlass für die schließlich vorgenommene Suche nach
einer Waffe erst nach dem unzulässigen Betreten der Wohnung darbot, änderte an der
rechtlichen Bewertung der konkreten Durchsuchungsmaßnahme im Ergebnis nichts
Entscheidendes; dies gilt ungeachtet der Frage, ob zwischen beiden Maßnahmen
möglicherweise sogar eine zeitliche und räumliche Zäsur eintrat, weil die beiden
Beamten die Wohnung zwecks Verständigung mit ihren im Hausflur verbliebenen
Kollegen verließen. Das mit dem ersten Betreten der Wohnung verbundene
Fehlverhalten findet zwar Eingang in die Gesamtbetrachtung, die stets erforderlich ist
(vgl. dazu etwa BGHSt aaO.), führt aber nicht dazu, dass der Frage, ob die Beamten für
die hier maßgebliche Durchsuchungshandlung eine richterliche Anordnung hätten
erwirken können, keinerlei Bedeutung mehr zukäme.
b) Auch der Hinweis der Revision auf einen weiteren rechtlichen Aspekt führt zu keiner
anderen Entscheidung: Eine - in der Rechtsprechung mit der Folge eines
Beweisverwertungsverbots beanstandete - Verfahrensweise, die die Missachtung des
Richtervorbehalts im Rahmen einer „langjährigen Praxis“ gleichsam als „Fehler im
System“ zur Grundlage hat (vgl. OLG Hamm StV 2009, 459, 462 [zu § 81a StPO]), ist
vorliegend gerade nicht festgestellt. Anders als im dort entschiedenen Fall hatten die
Beamten hier, wenn auch zu Unrecht, Gefahr im Verzug bejaht und sich nicht – wie dort
seit jeher unter Fortsetzung einer einmal begonnenen langjährigen rechtswidrigen Praxis
– von vornherein keinerlei Gedanken darüber gemacht.
c) Die Bindungswirkung nach § 358 Abs. 1 StPO gilt auch für das erneut mit der Sache
befasste Revisionsgericht (sog. „Selbstbindung“ der Revisionsinstanz, vgl. BVerfGE 4, 1,
5; BGHSt 51, 202ff. = NJW 2007, 853, 854; BGHR StPO § 358 Abs. 1 Bindungswirkung 3;
KG JR 1958, 268; OLG Nürnberg StV 2000, 573, 574; Hanack aaO., Rdn. 15; Kuckein
aaO., Rdn. 13; Meyer-Goßner aaO., Rdn. 10; Momsen aaO., Rdn. 2 m.w.N.) und bestimmt
damit auch die vorliegend zu treffende Entscheidung des Senats. Diese Selbstbindung
ist auch dann zu bejahen, wenn die erste Entscheidung des Revisionsgerichts fehlerhaft
gewesen (vgl. Senat, Beschluss vom 29. März 1999 – 4 Ws 41, 42/98 – m.w.N.) oder eine
Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG verletzt worden sein sollte (vgl. OLG Nürnberg StV
2000, 573; Hanack aaO.; Temming aaO., Rdn. 7). Letztere bestand hier allerdings nicht.
Anders als die Revision meint, steht der Ablehnung des Beweisverwertungsverbots nicht
die Ansicht des Bundesgerichtshofs entgegen, dass im hier gegebenen rechtlichen
Zusammenhang bei bewusster Missachtung des Richtervorbehalts oder
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Zusammenhang bei bewusster Missachtung des Richtervorbehalts oder
gleichgewichtiger gröblicher Verkennung einem hypothetischen rechtmäßigen
Ermittlungsverlauf keine Bedeutung zukommen könne (vgl. BGHSt 51, 285, 295f.: „bei
solcher Verkennung des Richtervorbehalts“). Denn die vom Senat vorgenommene
Gesamtschau hatte zu seiner Auffassung geführt, dass ein solcher grober Verstoß - der
Sonderfall einer besonders schwerwiegenden Rechtsverletzung - gerade nicht vorlag.
Der Senat braucht sich überdies nicht mit der umstrittenen Frage zu befassen, ob die
Bindungswirkung des § 358 Abs. 1 StPO auch für den Fall gilt, dass das Revisionsgericht
seine Rechtsauffassung ändert. Zum einen ist zu bedenken, dass vorliegend eine
Änderung der Rechtsauffassung in dem diskutierten Sinne nicht in Rede stünde. Sondern
es käme nur eine andere Bewertung der Umstände des konkreten Falles in Betracht als
diejenige, die der Senat am 1. September 2008 - auf der Grundlage der weiterhin
zutreffenden, mit der verfassungsgerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung
in Einklang stehenden Rechtsansicht - vorgenommen hatte. Zum anderen wird ein
Entfallen der Selbstbindung überwiegend erst dann in Betracht gezogen, wenn das
Revisionsgericht seine der Aufhebungsentscheidung zugrunde liegende Rechtsansicht
bereits geändert und dies bekannt gegeben hat (vgl. Gms-OBG BGHZ 60, 392, 395ff.;
OLG Düsseldorf StV 1985, 274, 275). Die Selbstbindung entfällt also nicht, wenn – nur
dies käme hier in Frage - die Änderung der Rechtsauffassung erst anlässlich der neuen
Entscheidung in derselben Sache erfolgen würde (vgl. OLG Nürnberg aaO. S. 574;
Pfeiffer, StPO 3. Aufl., § 358 Rdn. 3; so wohl auch Kuckein Rdn. 13; Dahs/Dahs Rdn. 597).
Offen bleiben kann schließlich auch, ob der für einen anderen Teil der Rechtsordnung
vertretenen Ansicht zu folgen wäre, dass eine Änderung auch dann möglich sein soll,
wenn das Revisionsgericht seine entsprechende Rechtsauffassung bei gleichzeitiger
Entscheidung über mehrere Revisionen, die dieselbe Rechtsfrage betreffen, aufgibt und
seine Rechtsprechung fortentwickelt (vgl. hierzu BFH NJW 1995, 216); denn eine solche
Konstellation liegt hier nicht vor. Mit beachtlichen Argumenten wird teilweise ohnehin
angenommen, dass die Besonderheiten des Strafverfahrens einer Einschränkung der
Bindungswirkung entgegen stehen (so Hanack aaO., Rdn. 16; in diese Richtung auch
BGHSt [GS] 33, 356, 362; ausdrücklich offen gelassen von BGHZ 60, 392, 399;
grundsätzlich gegen das Entfallen der Bindungswirkung bei Änderung der
Rechtsprechung des Revisionsgerichts etwa Meyer-Goßner aaO.; Momsen aaO. Rdn. 11,
jeweils m.w.N.; zahlreiche weitere Nachweise bei Hanack aaO. Rdn. 16 zu Fn. 37).
3. Die Revision hat indessen mit einer anderen Verfahrensrüge in dem aus der
Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Der Angeklagte beanstandet zu Recht,
dass das Landgericht unter Verstoß gegen § 261 StPO in seiner Beweiswürdigung einer
verlesenen Urkunde einen Inhalt beigemessen hat, der im Widerspruch zu deren
Wortlaut steht (vgl. BGHSt 29, 18, 21; NStZ-RR 2003, 52). Dem liegt Folgendes
zugrunde:
a) Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung zu dem Tatvorwurf nicht geäußert.
Das Landgericht hat demgemäß – zutreffend und in zulässiger Weise – die
Niederschriften über die richterlichen Vernehmungen des Angeklagten im
Ermittlungsverfahren verlesen. Am 7. Januar 2007 war der Angeklagte anlässlich seiner
Vorführung im Bereitschaftsgericht vernommen worden und hatte u.a. erklärt:
„Ich weiß nicht, wie diese Drogen in meine Wohnung gekommen sind. Ich selbst
konsumiere keine Drogen (...) Ich gebe vielen Freunden und Bekannten meinen
Wohnungsschlüssel (...)“.
Im Rahmen einer mündlichen Haftprüfung hatte er am 18. Januar 2007 gegenüber dem
Ermittlungsrichter angegeben:
„Von dem, was unter der Badewanne gefunden wurde, hatte ich keine Kenntnis.
Ich habe für die Wohnung zwei Schlüssel. Diese gebe ich auch häufig an Freunde.
Freunde von mir, die Zeit mit ihrer Freundin verbringen wollen, halten sich dann teilweise
mit meinem Einverständnis kurzzeitig in der Wohnung auf und ich lasse sie ungestört
allein. Namen möchte ich nicht nennen. Ich hätte mich auch nicht so laut aufgeführt,
wenn ich gewusst hätte, dass sich derartige Sachen in meiner Wohnung befinden“.
b) Das Landgericht hat in seiner Beweiswürdigung ausgeführt, der Angeklagte habe in
diesen beiden Vernehmungen „jeweils bestritten, von den Betäubungsmitteln in seiner
Wohnung Kenntnis gehabt zu haben“. Weiterhin hat die Kammer angenommen, dass
drei als Zeugen vernommene Freunde des Angeklagten die Gelegenheit gehabt hätten,
dessen Wohnung allein zu nutzen. Einer dieser Zeugen hatte hiernach sogar selbst
einen Wohnungsschlüssel dauerhaft in Besitz und seinerseits die Möglichkeit, mit
Einwilligung des Angeklagten Dritten die Nutzung der Wohnung einzuräumen. Das
Landgericht hat dennoch ausgeschlossen, dass Dritte ohne Wissen des Angeklagten
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Landgericht hat dennoch ausgeschlossen, dass Dritte ohne Wissen des Angeklagten
„die Betäubungsmittel“ in der Wohnung zwischengelagert hätten. Dagegen spreche
„schon die Lagerung des Cannabiskrauts auf dem vom Wohnzimmer gut einsehbaren
Balkon“. Das Landgericht fährt fort: „Hätte ein Dritter ohne Wissen des Angeklagten die
Betäubungsmittel in der Wohnung lagern wollen, hätte er sicher auch das Cannabiskraut
– wie das Kokain – so versteckt, dass es von dem Angeklagten als Wohnungsinhaber
nicht ohne Weiteres hätte gefunden werden können. Der vermeintlich unbekannte Dritte
hätte nämlich sonst damit rechnen müssen, dass das Cannabiskraut für ihn verloren
wäre“. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
aa) Die Rüge der Verletzung des § 261 StPO ist zulässig erhoben. Dies setzt voraus,
dass mit den Mitteln des Revisionsrechts ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme der
Nachweis geführt werden kann, dass eine im Urteil getroffene Feststellung nicht durch
die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel und auch sonst nicht aus zum
Inbegriff der Hauptverhandlung gehörenden Vorgängen gewonnen worden (vgl. BGHSt
aaO.; BGH StV 1991, 549; 1993, 115; KG, Beschluss vom 16. Dezember 2002 – [3] 1 Ss
68/02 [48/02] -; BayObLG StV 1985, 226; OLG Bremen StV 1990, 536, 537; OLG Köln
NStZ 1996, 245, 246; Meyer-Goßner aaO., § 261 Rdn. 38a, § 337 Rdn. 14; Schoreit in KK-
StPO 6. Aufl., § 261 Rdn. 52 m.w.N.; s.a. BGHSt 38, 14, 16f.), etwa eine verlesene
Urkunde oder Erklärung unvollständig oder unrichtig im Urteil gewürdigt worden ist (vgl.
BGH StV 1993, 459). So liegt es hier bei der verlesenen Niederschrift über eine
richterliche Beschuldigtenvernehmung des Angeklagten (vgl. BGH StV 1991, 548 =
BGHR § 261 StPO Inbegriff der Verhandlung 25). Die Revision hat ferner unter Mitteilung
der notwendigen Aktenteile ausreichend dargelegt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), dass sich
der Angeklagte sonst im Verfahren nicht geäußert hat und in der Hauptverhandlung
auch keine Vernehmungspersonen zu den in Rede stehenden Niederschriften als
Zeugen gehört worden sind.
bb) Die Verfahrensbeschwerde ist auch begründet. Die Niederschrift über die richterliche
Vernehmung des Angeklagten vom 18. Januar 2007 hat einen anderen Inhalt, als in den
Urteilsgründen zugrunde gelegt. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe in
beiden Vernehmungen bestritten, von „den Betäubungsmitteln“ in seiner Wohnung
Kenntnis gehabt zu haben, ist vom Wortlaut der Niederschrift vom 18. Januar 2007 nicht
gedeckt. In der zweiten richterlichen Vernehmung hat sich der Angeklagte - durch seinen
nunmehr anwesenden Verteidiger - explizit (lediglich) zu dem „unter der Badewanne“
Aufgefundenen geäußert. Dies war das Kokaingemisch. Angesichts dieser – ersichtlich
bewusst gewählten – Differenzierung, die später Ausdruck finden sollte in dem in beiden
Berufungshauptverhandlungen gestellten Hilfsantrag der Verteidigung, den Angeklagten
allenfalls wegen Besitzes des Cannabiskrauts (zu einer Geldstrafe bzw. geringen
Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung) zu verurteilen, hätte sich das
Landgericht mit dem unterschiedlichen Inhalt der Einlassungen und der Änderung des
Aussageverhaltens auseinandersetzen müssen. Entgegen der Bewertung durch die
Generalstaatsanwaltschaft Berlin ist es nicht zulässig, aus dem Gebrauch des Plurals bei
der Wendung „Sachen“ den nicht zweideutigen Inhalt der Einlassung vom 18. Januar
2007 zu relativieren. Eine solche Relativierung wäre nicht nur mit dem Sinngehalt der
Aussage nicht in Einklang zu bringen. Sie ist auch deshalb nicht zulässig, weil zu
bedenken ist, dass – dies ist gerichtsbekannt - im Zusammenhang mit Drogen nicht
selten von „Sachen“ gesprochen wird, auch wenn keine Mehrzahl verschiedener
Rauschgifte, sondern etwa nur eine größere Menge eines Vorrats einer Droge gemeint
ist.
Das Landgericht ist bei seinen Feststellungen von dem tatsächlichen Inhalt des
Vernehmungsprotokolls abgewichen. Es hat nicht etwa den Sinn der verlesenen Urkunde
im Wege der Beweiswürdigung - in begründeter Form - anders ausgelegt oder lediglich
aus dem Inhalt der Urkunde Schlüsse zuungunsten des Angeklagten gezogen, was allein
revisionsrechtlich nicht angreifbar wäre. Sondern es hat den Widerspruch zwischen
Urkundenlage und Urteilsfeststellung übersehen und diesen deshalb ungeklärt gelassen.
Damit hat die Strafkammer eine Urkunde mit anderem Inhalt gewürdigt, so dass dem
inneren Vorgang ihrer Überzeugungsbildung die äußere Grundlage fehlt (vgl. BGHSt 29,
18, 21; BGH bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1987, 18 Nr. 11; OLG Köln aaO.; Meyer-Goßner
aaO.); die Überzeugungsbildung beruht in diesem Punkt nicht auf dem Inbegriff der
Hauptverhandlung, womit ein Verstoß gegen § 261 StPO vorliegt.
Auf diesem Verfahrensfehler beruht die angefochtene Entscheidung (§ 337 Abs. 1 StPO).
Das Landgericht hat bei seiner Annahme, der Angeklagte habe von beiden
Rauschgiftmengen in seiner Wohnung gewusst, als ausschlaggebend erachtet, dass er
von dem Cannabiskraut auf dem Balkon angesichts dessen Art der Lagerung Kenntnis
hatte, weil ein möglicher Dritter dieses anders, besser – ebenso wie das Kokain – vor den
Blicken (auch) des Angeklagten verborgen hätte. Aus der Tatsache, dass der Angeklagte
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Blicken (auch) des Angeklagten verborgen hätte. Aus der Tatsache, dass der Angeklagte
also Kenntnis von dem Cannabiskraut hatte, hat die Kammer nach dem
Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe darauf geschlossen, dass er auch um die
Existenz des Kokains wusste. Eine Differenzierung dahin, dass die Kenntnis von der
Existenz des einen nicht zwangsläufig auch das Bewusstsein vom Vorhandensein des
anderen Rauschgiftes bedeuten muss, hat die Kammer, weil sie den Umstand einer
unterschiedlichen Einlassung zu den beiden Rauschgiftmengen oder zumindest die
Möglichkeit einer solchen Unterscheidung nicht bedacht hat, nicht vorgenommen.
Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei Zugrundelegung
unterschiedlicher Einlassungen des Angeklagten das Ergebnis der Beweisaufnahme
abweichend gewürdigt hätte. Ob eine andere Beurteilung tatsächlich geboten gewesen
wäre, oder ob es - etwa nach Vernehmung des Ermittlungsrichters zu dessen
Einschätzung von der Glaubhaftigkeit der zweiten Einlassung – zu derselben Ansicht
gelangt wäre, ist nicht maßgeblich. Denn die bloße Möglichkeit, dass das Urteil auf dem
Fehler beruht, reicht aus (vgl. Meyer-Goßner aaO., § 337 Rdn. 37 m.w.N.).
4. Nach allem war das angefochtene Urteil gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und
die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des
Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO). Der neue Tatrichter wird sich nicht
nur mit der Plausibilität des Aussagewechsels befassen müssen. Er wird auch
Feststellungen dazu zu treffen haben, ob das Versteck des Kokains etwa auffällig, leicht
zu entdecken war (in diesem Sinne verhält sich das erstinstanzliche Urteil, UA Seite 7),
so dass angenommen werden könnte, es wäre für Nutzer des Bades gleichsam als
„Blickfang“ anzusehen gewesen mit der Schlussfolgerung, dass ein mutmaßlicher Dritter
das erheblich wertvolle Rauschgift somit ohne weiteres der Entdeckung – auch und
insbesondere durch den Angeklagten - preisgegeben hätte. Das Landgericht wird sich im
Falle einer Schuldfeststellung angesichts der festgestellten Blutalkoholkonzentration
jedenfalls mit der Frage der Schuldfähigkeit beschäftigen müssen; es wird überdies bei
der Strafzumessung nunmehr auch die Verfahrensdauer in den Blick nehmen.
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