Urteil des KG Berlin vom 25.04.2002

KG Berlin: einwilligung des patienten, lagerung, operation, anhörung, dokumentation, behandlungsfehler, unterlassen, ausnahme, akte, gutachter

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Gericht:
KG Berlin 20.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
20 U 146/02
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 538 Abs 2 S 1 Nr 1 ZPO, § 529
ZPO
Arzthaftung: Unterlassen der Beiziehung der Krankenunterlagen
durch das Gericht als schwerer Verfahrensfehler
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das am 25. April 2002 verkündete Urteil der
Zivilkammer 9 des Landgerichts Berlin sowie teilweise das zu Grunde liegende
Verfahren, soweit der Sachverständigenbeweis betroffen ist, aufgehoben und der
Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Landgericht
zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Der Kläger begehrt von der Beklagten, in deren Krankenhaus er in der Zeit vom 12. bis
29. Mai 1997 behandelt wurde, Zahlung eines Schmerzensgeld von mindestens 50.000
DM, Ersatz materieller Schäden von 14.052,20 DM sowie die Feststellung der
Ersatzpflicht für sämtliche zukünftige materielle und immaterielle Schäden.
Er wirft der Beklagten vor, vor der Operation am 16. Mai 1997 nicht hinreichend über
Risiken aufgeklärt worden zu sein. Ferner seien eine Hautläsion sowie Nervschädigungen
schuldhaft im Zusammenhang mit der Operation verursacht worden.
Wegen des Parteivorbringens erster Instanz, der dort gestellten Anträge sowie der
erstinstanzlichen Beweisaufnahme wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils
Bezug genommen.
Das Landgericht hat durch am 25. April 2002 verkündetes Urteil die Klage abgewiesen.
Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils
verwiesen.
Mit seiner rechtzeitigen Berufung macht der Kläger geltend:
Das Landgericht habe verkannt, dass – wie er geltend gemacht habe – durch die
Lagerung verursachte Nerv- und Hautschäden typische Risiken seien und daher im
Rahmen der Risikoaufklärung über sie aufzuklären gewesen wäre. Entgegen der Ansicht
des Landgerichts sei über Wundheilungsstörungen und Phlegmonenbildung aufzuklären
gewesen, denn die Phlegmone könne zu Nervschäden führen. Hinsichtlich des Risikos
der Kriechstrombildung treffe es nicht zu, dass nur über die Risiken, die sich verwirklicht
hätten, aufzuklären gewesen wäre. Hätte er gewusst, dass eine dauerhafte Lähmung mit
Gehbehinderung Folge der Operation hätte sein können, dann hätte er nicht
zugestimmt, weil er seinen Beruf als Elektriker nicht mehr hätte ausüben können und die
Erfolgschancen der Operation ohnehin als gering eingestuft worden sein. Stattdessen
hätte er die antianginöse Medikamententherapie gewählt.
Das Landgericht habe Widersprüche zwischen dem schriftlichen Gutachten und dem
Ergebnis der Anhörung nicht geklärt. Wahrscheinlichste Ursache sei hier nach den
Ausführungen des Sachverständigen ein Lagerungsschaden. Die Phlegmone sei erst
später festgestellt worden, jedenfalls im Krankenhaus der Beklagten nicht dokumentiert
worden, während die Beeinträchtigungen schon nach der Operation aufgetreten seien,
weshalb sie nicht erst Folge der Phlegmone sein könnten. Jedenfalls sei eine Phlegmone
auch als Lagerungsschaden aufzufassen. Der Sorgfaltsmaßstab sei objektiv und könne
nicht mit Hinweis auf die Besonderheiten der Operation herabgesetzt sein. Das
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nicht mit Hinweis auf die Besonderheiten der Operation herabgesetzt sein. Das
Landgericht habe nicht geklärt, welche Möglichkeiten nach der Druckmessung des
Kompartments bestanden hätten. Das Unterlassen dieser Messung sei im Übrigen ein
grober Behandlungsfehler.
Der Kläger beantragt,
1. das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und seiner Klage stattzugeben,
2. den Rechtsstreit in die erste Instanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf ihren Beweisantritt hinsichtlich einer korrekten Lagerung und der
unveränderten Lage auch während der Saphenektomie (Entnahme der Vene aus dem
rechten Unterschenkel). Ein Kriechstrom sei nicht denkbar, weil das verwandte Gerät
Veränderungen des Widerstandes registriere und mit einem Tonsignal sowie
Unterbrechung der Stromzufuhr reagiere. Die gleichzeitige Schädigung der beiden
Nerven – der Nervus tibialis könne nicht durch die Lagerung geschädigt werden – sowie
die beidseitigen Nervenbeeinträchtigungen sprächen gegen einen Lagerungsschaden.
Symptome eines Kompartmentsyndroms hätten gefehlt, weshalb auch keine
entsprechende Druckmessung geboten gewesen wäre.
Es könne durchaus sein, dass die kritische Herzkreislaufsituation, die nur durch
mehrtägige Anwendung eines Herzunterstützungssystems beherrscht werden konnte,
zu lokalisierten Ausfällen bestimmter Gefäßareale führen könne und es infolge von
Minderperfusion zu Nervenschädigungen kommen könne ("critical-illness"-Neuropathie).
Die eingetretenen Folgen seien keine typischen Risiken der Operation. Die Operation sei
gerade die Behandlungsalternative zu der unbefriedigenden medikamentösen Therapie
gewesen, die dem Kläger nicht mehr geholfen habe.
Der Kläger erwidert, dass die Parteien wohl einig seien, dass Kriechströme oder der
Elektrokauter als Ursache nicht in Betracht kämen. Es sei nicht vorstellbar, dass eine
kritische Herzleistung zu lokalisierten Ausfällen führe. Der Sachverständige habe es als
abwegig bezeichnet, die Nervschädigung auf die Notwendigkeit des
Herzunterstützungsystems zurückzuführen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen
Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Die zulässige Berufung des Klägers ist entsprechend seinem in der mündlichen
Verhandlung gestellten Antrag mit der Maßgabe begründet, dass das angegriffene Urteil
gemäß § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO aufzuheben und der Rechtsstreit zur weiteren
Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen ist.
I. Der erste Rechtszug leidet an einem – hier von Amts wegen und nicht nur auf Rüge
gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden – wesentlichen Mangel im Verfahren, der die
Anwendung des § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO rechtfertigt, weil eine weitere umfangreiche
und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich ist. Das Landgericht hat übersehen, dass
ohne eine Beiziehung der vollständigen Krankenunterlagen das
Sachverständigengutachten notwendigerweise ohne ausreichende Tatsachengrundlage
und letztlich spekulativ bleiben musste und so vom Gericht selbstverständlich nicht
akzeptiert werden darf, zumal im Arzthaftungsprozess an die Darlegungslast maßvolle
Anforderungen zu stellen sind und in gewissem Umfang von Amts wegen auf eine
vollständige Tatsachengrundlage hinzuwirken ist. Hier ist die ärztliche Dokumentation –
auch die der weiteren behandelnden Ärzte – die zentrale Tatsachengrundlage, sodass im
Regelfall ein Sachverständigengutachten ohne die verfügbaren vollständigen Unterlagen
zur Beantwortung der gestellten Beweisfragen unzureichend bleiben muss. Da das
Gericht eine tragfähige Beweiswürdigung auf ein solches unvollständiges Gutachten nicht
stützen kann, sind die Krankenunterlagen daher vom Gericht von Amts wegen
beizuziehen, andernfalls liegt ein schwerer Verfahrensfehler vor (vgl. OLG Oldenburg
NJW-RR 1997, 535; OLGR 1998, 78; vgl. auch OLG Düsseldorf MDR 1984, 1033). Dass die
Unterlagen nicht vollständig waren, wiegt hier besonders schwer, weil die Beklagte
meinte, die Unterlagen vollständig eingereicht zu haben (Schriftsatz vom 13. August
1999, S. 13 = Bd. I Bl. 68 d.A.) und auf dieser Grundlage (bspw. zur im
Anästhesieprotokoll vermerkten Lagerung, Schriftsatz vom 10. April 2001, S. 2 = Bd. I
Bl. 144 d.A.) argumentierte, obwohl die Unterlagen nicht vorlagen. Auch der
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Bl. 144 d.A.) argumentierte, obwohl die Unterlagen nicht vorlagen. Auch der
Sachverständige führt in seinem Gutachten nur die (unvollständigen) Unterlagen auf, die
der Klageschrift in Ablichtung (Bd. I Bl. 21 bis Bl. 48 d.A.) beigefügt waren, wobei die
erste Unterlage auch noch falsch mit "Krankenakte" statt Arztbrief bezeichnet ist. Er
bemängelt sodann mehrfach (schriftlich und mündlich), dass ärztliche Eintragungen
fehlten, die nach Kenntnis des Senats üblicherweise nicht in der mit der Klageschrift
auszugsweise eingereichten Pflegedokumentation, sondern an anderer Stelle zu finden
wären, von denen aber kaum anzunehmen ist, dass sie gänzlich unterblieben waren,
denn immerhin sind dem Kläger vorprozessual 217 Seiten der Krankenakte abgelichtet
worden. Dementsprechend wirkte sich der Fehler in der durchgeführten Beweisaufnahme
erheblich aus. Das schriftliche Gutachten war zudem zur Beantwortung der gestellten
Fragen nicht nachvollziehbar; hier wurden nur Ergebnisse präsentiert, ohne die Wertung
des Sachverständigen, z.B. die Einordnung von Fehlern, zu erläutern und – was zwingend
erforderlich ist – den für seine Beurteilung maßgeblichen medizinischen Sachverhalt
vollständig zu ermitteln und in seinem Gutachten der Beurteilung voranzustellen (vgl.
auch die Empfehlungen zur Abfassung von Gutachten in Arzthaftungsprozessen der
Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht der DGGG). In der mündlichen Anhörung, die – was
nicht angemessen ist – über eine bloße Erläuterung deutlich hinausging, setzte sich das
fort. Nicht nur, dass der Sachverständige von seinem schriftlichen Gutachten, ohne dies
näher zu erläutern, abwich, es finden sich auch im Anhörungsergebnis selbst
widersprüchliche Äußerungen, die zeigen, dass die gutachterlichen Äußerungen mangels
Ermittlung der Tatsachengrundlage dem Sachverhalt nicht gerecht werden können. So
führt beispielsweise der Sachverständige bei seiner Anhörung einleitend – abgesehen
von der unvollständigen Sachgrundlage – gut nachvollziehbar aus, weshalb im konkreten
Fall eine Wundheilungsstörung ausscheide (S. 2 des Sitzungsprotokolls), um sie
anschließend wiederum als mögliche Ursache zu benennen (S. 4). Auch ein kompetenter
Sachverständiger dürfte bei komplexeren Sachverhalten überfordert sein, im Termin
seiner Anhörung (ohne die bei schriftlichen Gutachten mögliche mehrmalige sorgfältige
Überprüfung) erstmals ein vollständiges in sich widerspruchsfreies Gutachten zu
erstatten, wie z.B. der Meinungswechsel zu der Möglichkeit von Kriechströmen zeigt (S.
4). Der Sachverständige bemängelt das Fehlen einer ausreichenden ärztlichen
Dokumentation, ohne zu bemerken, dass ihm die Unterlagen ganz erkennbar nur
unvollständig zur Verfügung standen. Zunächst meint der Sachverständige, er könne bei
ausreichender ärztlicher Dokumentation die Ursachen leichter zuordnen, wobei das
mögliche Ergebnis spekulativ wäre. Anschließend meint er, auch bei genauerer ärztlicher
Dokumentation würde die Zuordnung Spekulation bleiben (S. 6). Das widerspricht sich
und Letzteres ist eine – ohne Kenntnis der Akte – unbelegbare Annahme, die nur
Wahrscheinlichkeiten wertet, aber dem konkreten Sachverhalt nicht gerecht werden
kann. I.ü. ließen sich zusätzliche Erkenntnisse sicherlich auch aus den Unterlagen der
weiteren behandelnden Ärzte gewinnen, zumal beispielweise Feststellungen zur
Phlegmone das hier zwingend voraussetzen.
II. Das Landgericht hat daher nach Beiziehung der vollständigen Krankenunterlagen
sowohl der Beklagten als auch der weiteren den Kläger vor- und nachbehandelnden
Ärzte erneut ein Gutachten – vorzugsweise eines anderen Gutachters – zu den hier
maßgeblichen Behandlungsfehlern und der konkreten Zurechnung der Folgen
einzuholen. Dabei sollte dem Gutachter zu Klarstellung ergänzend aufgegeben werden,
die möglichen Ursachen konkret herauszuarbeiten und anzugeben, mit welchem
Wahrscheinlichkeitsgrad und weshalb die mögliche Ursache für die hier jeweils
eingetretene Folge verantwortlich sein könnte oder ist und ob sowie gegebenenfalls
konkret weshalb sie bei fachgerechtem medizinischem Handeln vermeidbar gewesen
wäre. Ferner wird zu prüfen sein, ob hinsichtlich der Zuordnung der Nervschäden
ergänzend ein neurologisches Gutachten einzuholen ist.
III. Ergänzend wird Folgendes zu beachten sein:
1. Die hinsichtlich der Schädigung des Nervus peronaeus als Ursache in Betracht
kommende Lagerung wird dem Operationsgeschehen zeitlich näher zuzuordnen sein,
zumal die Verursachung einer Fehlstellung der Lagerung während der Venenentnahme
in Betracht kommt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem nicht ersichtlich ist, was der
erforderlichen Überprüfung der Lagerung – üblicherweise durch den Anästhesisten –
hätte entgegen stehen sollen. Die Beklagte hat vorzutragen, ob, wie und in welchen
zeitlichen Abständen eine Kontrolle der Lagerung erfolgte (zur Beweislastumkehr bei
Lagerungsschäden und zur Ausnahme hiervon vgl. BGH NJW 1995, 1618; 1984, 1403).
2. Hinsichtlich der Schädigung des Nervus tibialis, die wohl nicht auf der Lagerung
beruhen kann, ist zur möglichen Schädigungsursache eines Kompartmentsyndroms
auch zu klären, welche Maßnahmen zu treffen gewesen wären, wenn es diagnostiziert
worden wäre und ob die Nervschädigung durch diese Maßnahmen vermeidbar gewesen
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worden wäre und ob die Nervschädigung durch diese Maßnahmen vermeidbar gewesen
wäre.
3. Der rechtliche Ansatz des Landgerichts zur Aufklärung ist unzutreffend.
a) Eine unzureichende Aufklärung (wobei die – bezüglich Nervschäden nicht bewiesene –
mündliche Aufklärung maßgeblich ist) begründet nicht die Haftung. Vielmehr führt dies
mangels wirksamer Einwilligung des Patienten zur Rechtswidrigkeit der Behandlung und
deshalb zur Haftung der Beklagten für alle Folgen des ärztlichen Eingriffs.
b) Diese Haftung ist grundsätzlich umfassend und setzt nicht voraus, dass sich gerade
ein Risiko verwirklicht hat, über das nicht aufgeklärt wurde. Es ist daher unerheblich, ob
ein Behandlungsfehler vorliegt oder sich nur ein typisches Risiko verwirklicht hat. Eine
Beschränkung besteht lediglich, wenn sich gerade ein Risiko verwirklicht hat, über das
aufgeklärt wurde (vgl. BGH NJW 2001, 2798; BGH NJW 2000, 1784 (1786)).
c) Deshalb ist zusätzlich (über den Zusammenhang mit der Beurteilung von etwaigen
Behandlungsfehler hinaus) näher zu klären, ob Nervverletzungen typische und
aufklärungsbedürftige Risiken der Operation einschließlich der Lagerung darstellen, was
Feststellungen zur Häufigkeit und Schwere der Folgen voraussetzt.
IV. Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Eine
Sicherheitsleistung war mangels vollstreckungsfähigem Tenor der Entscheidung nicht zu
bestimmen.
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