Urteil des KG Berlin vom 23.10.2006
KG Berlin: drohende gefahr, verfassung, notstand, rechtfertigungsgrund, besitz, eingrenzung, cannabis, myopathie, sammlung, quelle
1
2
Gericht:
KG Berlin 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(3) 1 Ss 36/07 (20/07)
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 29a Abs 1 Nr 2 BtMG, § 34
StGB, § 267 StPO, § 354 Abs 2 S
1 StPO
Betäubungsmittelrecht: Notstandslage bei
Betäubungsmittelkonsum im Rahmen einer schmerzlindernden
Eigentherapie
Leitsatz
Wer Betäubungsmittel im Rahmen einer schmerzlindernden Eigentherapie konsumiert und
selbst anbaut, kann sich nur ausnahmsweise auf den Rechtfertigungsgrund des Notstandes
berufen. An eine solche Notstandslage sind hohe Anforderungen zu stellen.
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23.
Oktober 2006 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der
Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Angeklagten durch Urteil vom 28. April
2004 von dem Vorwurf des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben freigesprochen. Auf die
Berufung der Staatsanwaltschaft hat ihn das Landgericht am 10. Oktober 2005 wegen
unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer
Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Dieses Urteil hat der Senat auf die Revision
des Angeklagten durch Beschluss vom 27. Januar 2006 aufgehoben und die Sache zu
erneuter Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen. Diese hat am 23. Oktober 2006 die Berufung der Staatsanwaltschaft
gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 28. April 2004 verworfen. Hiergegen wendet sich
die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision und rügt die Verletzung sachlichen Rechts.
Dem Rechtsmittel kann der Erfolg nicht versagt werden.
Das Landgericht hat zwar rechtsfehlerfrei den objektiven Tatbestand des § 29a Abs. 1
Nr. 2 BtMG bejaht - zur Frage des weiteren tateinheitlichen Vorwurfs des Handeltreibens
verhält es sich nicht -, die Annahme, das Handeln des Angeklagten sei durch Notstand
gerechtfertigt, tragen jedoch die Feststellungen nicht. Wenngleich allgemein anerkannt
ist, dass sich auf den Rechtfertigungsgrund des Notstandes (§ 34 StGB) auch berufen
kann, wer Betäubungsmittel im Rahmen einer schmerzlindernden Eigentherapie
konsumiert und gegebenenfalls selbst anbaut [vgl. OLG Köln, Beschluss vom 26.2.1999
Ss 51/99-23 -in juris; OLG Karlsruhe NJW 2004, 3645; KG StV 2003, 167 und Beschluss
vom 1. November 2001 -(4) 1 Ss 39/01 (50/01)-], sind an das Vorliegen einer den Anbau
und den Konsum von Betäubungsmitteln rechtfertigenden Notstandslage so hohe
Anforderungen zu stellen, dass sie nur in besonders herausragenden Ausnahmefällen in
Betracht kommt. So ist nicht nur eingehend zu prüfen, ob die beabsichtigte Linderung
der Beschwerden auch mit anderweitiger Hilfe möglich gewesen wäre, sondern das Urteil
muss darüber hinaus erkennen lassen, dass die - hier dem Angeklagten ohne den
Konsum des Betäubungsmittels - drohende Gefahr so exorbitant und atypisch ist, dass
sie in die Erwägungen der speziellen Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes
keinen Eingang gefunden hat [vgl. OLG Köln a.a.O.]. Denn nur in diesem Fall dürfte eine
Situation vorliegen, in der das individuell beeinträchtigte Interesse das durch die
gesetzliche Spezialregelung geschützte wesentlich überwiegt. Um eine
revisionsrechtliche Prüfung zu ermöglichen, muss das Urteil daher eine präzise
Darstellung der körperlichen und seelischen Verfassung des Angeklagten zum Zeitpunkt
der Tat enthalten, die ärztlich verordnete Therapie und deren Wirkung beschreiben und
nicht nur eingehend darlegen, welche Versuche der Angeklagte unternommen hat, um
sich auf legalem Wege Linderung zu verschaffen, sondern auch mitteilen, ob und in
3
4
5
6
sich auf legalem Wege Linderung zu verschaffen, sondern auch mitteilen, ob und in
welchem Umfang der Konsum der Betäubungsmittel zu einer nicht nur unerheblichen
Verbesserung der Verfassung des Angeklagten geführt hat bzw. hätte führen können.
Sofern darüber hinaus der Konsum der Betäubungsmittel trotz unveränderter oder
schlechter gewordener körperlicher und seelischer Verfassung nach der Tat nicht mehr
fortgesetzt wurde, ist darzulegen, ob und bejahendenfalls mit welchen Mitteln und
welchem Erfolg der Angeklagte nunmehr seine Leiden zu lindern versucht und inwieweit
er sich dieser Behandlungsmöglichkeiten schon zur Tatzeit bewusst gewesen ist.
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die
Urteilsfeststellungen sind lückenhaft und legen die Annahme nahe, dass die
Strafkammer der Prüfung, ob der Besitz von Betäubungsmitteln seitens des
schwerkranken Angeklagten durch Notstand (§ 34 StGB) gerechtfertigt ist, Umstände zu
Grunde gelegt hat, die erst nach der Tat (19. November 2002) eingetreten sind.
So lassen die Urteilsausführungen weder erkennen, wann im Jahre 2002 bei dem
Angeklagten eine chronische Hepatitis C festgestellt wurde, noch weisen sie aus, ob er
seinen ersten Erlaubnisantrag bei dem Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte noch vor der verfahrensgegenständlichen Tat gestellt hat und wann
dieser abschlägig beschieden worden ist.
Soweit das Urteil die körperliche und seelische Verfassung des Angeklagten beschreibt,
bleibt unklar, welches Krankheitsbild zur Tatzeit bestanden hat und von der Strafkammer
der Beurteilung der Notstandslage zu Grunde gelegt worden ist. Denn die Feststellungen
des Urteils, dass bei dem Angeklagten „
“ diagnostiziert
worden seien, die zu einer starken Beeinträchtigung seiner Gangsicherheit, häufigen
Stürzen und Verletzungen der linken Hüfte geführt hätten (UA S. 4), gelten ersichtlich für
einen nach der Tat liegenden Zeitpunkt. Gänzlich ohne nähere zeitliche Eingrenzung
heißt es an anderer Stelle, dass „
seien und der Angeklagte unter Angst und Depressionen,
Appetitlosigkeit, Erbrechen, Schlafstörungen und Hautjucken leide (UA S. 4). Auch die
Auflistung der von dem Angeklagten eingenommenen Medikamente erfolgt ohne
zeitliche Einordnung und wann sich herausstellte, dass „
“ seien (UA S. 5), wird
gleichfalls nicht mitgeteilt. Demgegenüber läßt die Feststellung, dass der
Sachverständige „
“ habe
erkennen können (UA S. 10), besorgen, dass die Kammer ihrer Wertung Umstände zu
Grunde gelegt hat, die erst nach der Tat eingetreten sind, denn diese Beschwerden
sollen, wie das Urteil an anderer Stelle feststellt, erst vor zwei Jahren aufgetreten sein.
Angesichts dessen vermag der Senat nicht prüfen, ob sich der Angeklagte am 19.
November 2002 in einer Lage befand, in der - ungeachtet des unberücksichtigt
gebliebenen Handeltreibens - der Besitz und Konsum der Betäubungsmittel als
geeignete und erforderliche Notstandshandlungen gewertet werden können. Er hebt
daher das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache nach § 354 Abs. 2 Satz 1
StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an
eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum