Urteil des KG Berlin vom 13.03.2017
KG Berlin: fahrstreifen, abbiegen, mangelnde sorgfalt, fahrzeug, kreuzung, betriebsgefahr, führer, sorgfaltspflicht, gefährdung, anhänger
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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 325/02
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 17 StVG, § 9 StVO
Haftung bei Verkehrsunfall: Kollision eines linksabbiegenden
Sattelzugs durch seitliches Ausschwenken des Aufliegers nach
rechts mit einem dort vorbeifahrenden Lkw
Leitsatz
Der Führer eines Kraftfahrzeuges, welches aufgrund seiner Bauart beim Abbiegen nach links
in den rechts daneben befindlichen Fahrstreifen ausschwenkt (hier: 17 m langer Sattelzug mit
am Heck des Aufliegers um 2 m ausgezogener Ladebrücke), trifft gegenüber den diesen
Fahrstreifen benutzenden Verkehrsteilnehmern eine erhöhte Sorgfaltspflicht.
Der Führer eines derartigen Kraftfahrzeuges, der sich im linken Fahrstreifen eingeordnet hat,
muss das Abbiegen nach links solange zurückstellen bis er sicher sein kann, dass er keinen
im rechts daneben befindlichen, nachfolgenden Verkehrsteilnehmer gefährdet oder schädigt.
Ist die Zugmaschine des Sattelzuges im Bereich einer weiträumigen, ampelgeregelten
Kreuzung mit Grünpfeil bereits in der Weise nach links eingeschwenkt, dass der Fahrer den
rechts nachfolgenden Verkehr nicht mehr beobachten kann, muss er das weitere Abbiegen
nach links bis zum Aufleuchten des grünen Linksabbiegepfeils zurückstellen, da er erst dann
sicher sein kann, dass keine Fahrzeuge mehr rechts am Sattelzug vorbeifahren.
Befolgt der Fahrer des Sattelzuges diese Grundsätze nicht und kommt es beim Abbiegen
nach links infolge Ausschwenkens des Hecks in den mittleren Fahrstreifen zu einer Kollision
mit einem rechts am Sattelzug vorbeifahrenden Fahrzeug, so trägt der Eigentümer des
Sattelzuges seinen Schaden selbst.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 30. September 2002 verkündete Urteil der
Zivilkammer 24 des Landgerichts Berlin – 24 O 36/01 – teilweise abgeändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Aufgrund der Feststellungen des Landgerichts ist von folgendem Sachverhalt
auszugehen:
Der ca. 17 Meter lange Sattelzug des Klägers, dessen letzte Achse über eine Zwangs-
Mitlenkung verfügt, ist von der Linksabbiegerspur kommend, zunächst in den
Kreuzungsbereich der ampelgeregelten Kreuzung eingefahren, um nach links
abzubiegen. Eine am Heck des Aufliegers befindliche Landebrücke war um 2 Meter
ausgezogen, die Ladung überragte diese Brücke um 0,8 Meter. Im Bereich der Kreuzung
hielt er, um den Gegenverkehr passieren zu lassen, an dem ortsüblichen Haltepunkt an.
Während das klägerische Fahrzeug dort hielt, fuhren mehrere vor dem
Beklagtenfahrzeug auf dem mittleren Fahrstreifen fahrende Fahrzeuge, u. a. ein LKW
und ein BVG-Bus, rechts an dem klägerischen Fahrzeug vorbei. Erst als sich das mit 30
km/h fahrende Beklagtenfahrzeug, ein ca. 8,5 Meter langen LKW mit einem ca. 8 Meter
langen Anhänger, dem Heck des klägerischen Sattelaufliegers bis auf 15 Meter genähert
hatte, setzte das klägerische Fahrzeug seinen Linksabbiegevorgang fort, wobei das Heck
des Sattelaufliegers in den mittleren Fahrstreifen hineinschwenkte und den Anhänger
des Beklagtenfahrzeugs berührte.
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II.
Die zulässige Berufung der Beklagten hat in vollem Umfang Erfolg.
Die Klage ist abzuweisen, weil der Kläger den Unfallschaden in vollem Umfang selbst zu
tragen hat.
a) Zutreffend geht das Landgericht auf Seite 7 der angefochtenen Entscheidung davon
aus, dass der klägerische Fahrer sich verkehrswidrig verhalten hat und er den Unfall
hätte verhindern können. Er hat nicht die nach § 9 StVO unter besonderer
Berücksichtigung der Bauart des LKW gebotene Vorsorge für ein sicheres Abbiegen nach
links getroffen und hierdurch den Unfall verursacht.
Aufgrund dieser ihm obliegende Vorsorgepflicht hat der Abbieger sicherzustellen, dass
eine Gefährdung (auch) des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. In besonderer
Weise gilt diese Verpflichtung für Fahrer von Fahrzeugen, deren Heck bauartbedingt
beim Linksabbiegen nach rechts ausschwenken und so den Verkehr auf dem
benachbarten Fahrstreifen gefährden können (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36.
Auflage, § 9 StVO, Rdnr. 27, 25). Das OLG Stuttgart führt in einem Urteil vom 18.
Februar 1974 (– 3 Ss 696/73 – DAR 1974, 163) hierzu aus: "Den Führer eines
Sattelzuges, dessen Ladung hinten über das Ende der Ladefläche hinausragt, trifft beim
Abbiegen nach links gegenüber nachfolgenden Verkehrsteilnehmern insbesondere dann
eine erhöhte Sorgfaltspflicht, wenn die Ladung während des Abbiegevorgangs in die
rechts nebenan befindliche Fahrspur für Geradeausfahrende oder Rechtsabbieger
ausschwenkt. Notfalls muß er einen Warnposten aufstellen." Der Senat schließt sich
diesen Ausführungen an.
Hinzu kommt, dass der klägerische Fahrer, nachdem er im Kreuzungsbereich
angehalten hatte, den Abbiegevorgang fortsetze, obwohl im mittleren Fahrstreifen
Fahrzeuge fuhren. Zwar konnte der klägerische Fahrer diese Fahrzeuge aufgrund der
Schrägstellung seiner Zugmaschine nicht sehen, ihm musste aber aufgrund der
Fahrzeuge, die bereits rechts an ihm vorbeigefahren waren, bewusst sein, dass mit
weiteren Fahrzeugen im mittleren Fahrstreifen zu rechnen war. Er hätte deshalb –
unabhängig vom Vorhandensein von Gegenverkehr – mit seinem Abbiegevorgang bis
zum Aufleuchten des Linksabbiegepfeils warten müssen. Erst zu diesem Zeitpunkt hätte
er davon ausgehen können, dass der aus seiner Fahrtrichtung kommende
Geradeausverkehr nicht mehr rechts an ihm vorbeifahren würde. Dass der klägerische
Fahrer seinen Abbiegevorgang entgegen dieser Verpflichtung vor dem Aufleuchten des
Abbiegepfeils fortsetzte, ergibt sich aus dessen eigener Zeugenaussage. Hiernach
leuchtete der Grünpfeil in dem Augenblick, in dem es zur Berührung der Fahrzeuge kam.
Nach den Feststellungen des Sachverständigen befand sich das Klägerfahrzeug in
diesem Zeitpunkt aber bereits seit 4 Sekunden in Bewegung.
b) Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist dem Beklagten zu 1) ein schuldhaftes
Verhalten nicht anzulasten. Der Vorwurf schuldhaften Verhaltens nach § 1 Abs. 2 StVO
wäre nur dann begründet, wenn festgestellt werden könnte, dass der Beklagten zu 1)
verpflichtet gewesen wäre, gegenüber dem beabsichtigten Fahrmanöver des
Sattelschleppers zurückzustehen oder diesem das Abbiegen zu ermöglichen (OLG
Hamm, Urteil vom 18. Februar 1999 – 27 U 290/98 – OLGR Hamm 1999, 273). Zwar ist
zutreffend, dass jedem Kraftfahrer und ganz besonders dem Fahrer eines großen LKW
bekannt sein muss, dass Sattelschlepper beim Abbiegen ausschwenken und dass
Lastzuganhänger keineswegs immer in der Spur des Zugfahrzeuges zu fahren pflegen.
Unzutreffend ist aber die Ansicht des Landgerichts, dem Beklagte zu 1) hätte klar sein
müssen, dass ein Ausschwenken des Hecks des Sattelanhängers unmittelbar
bevorstand, er habe deshalb nicht in die Kreuzung einfahren dürfen.
Da das klägerische Fahrzeug im Kreuzungsbereich stand und mehrere Fahrzeuge, unter
ihnen ein LKW und ein BVG-Bus, bereits rechts an diesem Fahrzeug vorbeigefahren
waren, durfte der Beklagte zu 1) davon ausgehen, dass auch ihm ein gefahrloses
Vorbeifahren möglich sein würde. Er musste nicht damit rechnen, dass das klägerische
Fahrzeug seine Fahrt ohne Rücksicht auf den im mittleren Fahrstreifen fließenden
Verkehr fortsetzen würde. Der Beklagte zu 1) war deshalb zu einer Reaktion erst
gezwungen, als der Sattelzug wieder anfuhr. Zu diesem Zeitpunkt hätte aber – wie der
Sachverständige festgestellt hat – weder eine Ausweichlenkung nach rechts noch eine
Gefahrbremsung oder eine Kombination von beidem zu einer Vermeidung des Unfalls
geführt.
Die vom Landgericht zur Begründung der 2/3-Haftung der Beklagten zitierte
Entscheidung des OLG Hamm (Urteil vom 3. Februar 1994 – 27 U 200/93 – Schaden-
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Entscheidung des OLG Hamm (Urteil vom 3. Februar 1994 – 27 U 200/93 – Schaden-
Praxis 1994, 272) betraf einen anderen Sachverhalt und ist deshalb vorliegend nicht
einschlägig. In jenem Fall hatte sich ein PKW, obwohl nur ein Fahrstreifen vorhanden
waren, ohne ausreichenden seitlichen Sicherheitsabstand ("... nur wenige Zentimeter
Platz ...") neben den Auflieger eines an einer Ampel wartenden, zum Zwecke des
Linksabbiegens links eingeordneten Sattelschlepper eingeordnet (vgl. zu ähnlichen
Sachverhalten Kammergericht, Urteil vom 24. Oktober 2002 – 12 U 50/01 – sowie LG
Itzehoe, Urteil vom 7. Oktober 2002 – 2 O 34/01 –). Ebenfalls nicht vergleichbar ist der
Sachverhalt einer Entscheidung vom 16. Dezember 1993 (-27 U 167/93 – NZV 1994,
399), in der das OLG Hamm zur einer hälftigen Schadensteilung kommt. Es hat dem
Unfallgegner des Sattelschleppers ein Verstoß gegen § 1 Absatz 2 StVO vorgeworfen,
weil dieser sich, als er selbst anfuhr, mehrere Meter hinter dem Heck des zeitgleich
anfahrenden, im Abbiegen begriffenen Sattelschleppers befand.
c) Es kann offen bleiben, ob der Beklagte zu 1) den Unabwendbarkeitsnachweis nach § 7
Abs. 2 StVG erbracht hat. Jedenfalls ergibt die nach § 17 StVG vorzunehmende
Abwägung des Maßes der beiderseitigen Unfallverursachung, dass der
Verursachungsbeitrag des klägerischen Fahrers deutlich überwiegt. Er hat durch seine
mangelnde Sorgfalt bei dem von ihm vorgenommenen, bereits aus sich heraus sehr
gefährlichen Fahrmanöver die entscheidende Ursache für den Unfall gesetzt. Der zu
Lasten der Beklagten allein zu berücksichtigenden normalen, nicht erhöhten
Betriebsgefahr ihres LKW ist demgegenüber kein haftungsbegründendes Eigengewicht
beizumessen. Der Senat hat maßgeblich berücksichtigt, dass die Betriebsgefahr des
Sattelschleppers bereits für sich ganz besonders hoch zu bewerten ist, da dieser
aufgrund seiner konstruktionsbedingten Vorrichtungen, der um 2 Meter ausgefahrenen
Ladebrücke und der überstehenden Ladung beim Linksabbiegen heckseitig ganz
erheblich nach rechts ausschwenkt, ohne den damit verbundenen Gefahren begegnen
zu können, weil dabei wegen des schon abgeschwenkten Führerhauses keine
Sichtmöglichkeit für den Fahrer auf das Fahrzeugheck besteht. Von einem solchen Lkw
geht somit bereits bei normalem Linksabbiegemanöver eine ganz erhebliche
Gefährdung für andere Verkehrsteilnehmer aus. Demgegenüber konnte der
möglicherweise zu berücksichtigenden Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten nur
ein geringeres Gewicht beigemessen werden.
Angesichts dessen hält es der Senat für richtig, den Kläger seinen Schaden allein tragen
zu lassen.
Im übrigen stehen dem Kläger die Rechtsanwaltskosten für die Einholung der
Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung in Höhe von 164,28 € unabhängig von
der Frage der Haftung der Beklagten schon deshalb nicht zu, weil diese
Schadensposition nicht unter den Schutzbereich von § 823 BGB bzw. § 7 StVG fällt (LG
Berlin, DAR 2000, 361; AG Ahaus, AnwBl 1976, 171).
Die Revision war nicht zuzulassen, da weder die Sache grundsätzliche Bedeutung hat,
noch eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung
einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 543 Absatz 1 Nr. 1, Absatz 2 ZPO
n. F.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Absatz 1 ZPO. Die weiteren prozessualen
Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m § 26 Nr. 8 EGZPO.
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