Urteil des KG Berlin vom 13.03.2017
KG Berlin: strafvollstreckung, verfahrenskosten, link, quelle, sammlung, heimat, interessenabwägung, verfügung, schriftstück, zugang
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Gericht:
KG Berlin 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 VAs 2/09, 1 Zs
1465/08 - 1 VAs 2/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 28 Abs 3 GVGEG, § 456a Abs 1
StPO
Strafvollstreckung: Inhalt der Zurückweisung des Antrags eines
in Deutschland bindungslosen Ausländers auf Absehen von der
weiteren Strafvollstreckung
Leitsatz
Ein Bescheid, mit dem der Antrag des Verurteilten auf Absehen von der Vollstreckung nach §
456a StPO zurückgewiesen wird, ist aufzuheben, wenn nicht erkennbar ist, inwieweit die für ein
Absehen von der weiteren Strafvollstreckung sprechenden Umstände tatsächlich in die
gebotene Gesamtabwägung einbezogen und gewürdigt worden sind (hier: Belange eines in
Deutschland bindungslosen Ausländers).
Tenor
1. Auf den Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung wird der Bescheid der
Staatsanwaltschaft Berlin vom 2. Juni 2008 in der Gestalt des Bescheides der
Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 27. Juni 2008 aufgehoben.
2. Die Vollstreckungsbehörde wird verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Senats über den Antrag des Betroffenen auf Absehen der weiteren Vollstreckung
der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. Juni 2005 – (532) 1
Kap Js 2513/04 Ks (2/05) – erneut zu entscheiden.
Gründe
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger und verbüßt zur Zeit eine
Freiheitsstrafe von sieben Jahren, die das Landgericht Berlin mit Urteil 30. Juni 2005
gegen ihn wegen Totschlags verhängt hat. Zweidrittel der Strafe werden am 31. Juli 2009
vollstreckt sein. Das Strafende ist für den 30. November 2011 (TE) notiert. Den Antrag
des Betroffenen, von der weiteren Strafvollstreckung nach § 456a StPO abzusehen, hat
die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 2. Juni 2008 abgelehnt. Die dagegen
gerichtete Beschwerde hat die Generalstaatsanwaltschaft durch Bescheid vom 27. Juni
2008 zurückgewiesen. Dem Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung kann
ein (vorläufiger) Erfolg nicht versagt bleiben.
1. Der Antrag ist rechtzeitig gestellt. Die Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft, der am
30. Dezember 2008 eingegangene Rechtsbehelf des Betroffenen gegen den seinem
Verfahrensbevollmächtigten am 2. Juli 2008 zugegangenen Bescheid sei verspätet, trifft
nicht zu. Die Monatsfrist (§ 26 Abs. 1 EGGVG) ist mit der formlosen Übersendung des
Beschwerdebescheides nicht in Gang gesetzt worden, da das Schriftstück aufgrund der
zwingenden Vorschrift des § 26 Abs. 1 Alternative 2 EGGVG nach Maßgabe der §§ 29
Abs. 2 EGGVG, 37 Abs. 1 StPO, 166 ff ZPO hätte zugestellt werden müssen. Eine Heilung
des Zustellungsmangels im Zeitpunkt des tatsächlichen Zugang des Bescheides nach §
189 ZPO ist ausgeschlossen, da die Anwendung dieser Bestimmung einen – hier nicht
gegebenen - Zustellungswillen voraussetzt (vgl. BGH NJW 2003, 1193; Senat, Beschluß
vom 7. Februar 2008 – 1 VAs 83/07 -; BayObLG NJW 2004, 3722).
2. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat auch in der Sache (vorläufigen) Erfolg.
Die angegriffenen Bescheide sind rechtsfehlerhaft. Sie heben zwar zu Recht die Schwere
der Schuld des Betroffenen und das öffentliche Interesse an einer nachhaltigen
Strafvollstreckung hervor (vgl. KG, Beschluß vom 7. Juli 2006 – 4 VAs 48/06 -; OLG
Hamburg StV 1996, 328 mwN). Es wird aber nicht erkennbar, inwieweit die für ein
Absehen von der weiteren Strafvollstreckung sprechenden Umstände tatsächlich in die
gebotene Gesamtabwägung einbezogen und gewürdigt worden sind. Die
Staatsanwaltschaft beschränkt sich insoweit auf die Begründung, daß die „Interessen
des Verurteilten nicht als ausreichend angesehen“ werden. Welche Tatsachen die
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des Verurteilten nicht als ausreichend angesehen“ werden. Welche Tatsachen die
Vollstreckungsbehörde dabei berücksichtigt und mit welchen Überlegungen sie den
Belangen des Betroffenen gegenüber den öffentlichen Interessen ein geringeres Gewicht
beigemessen hat, ist auch dem Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft nicht zu
entnehmen, in dem hierzu lediglich auf die „zutreffenden Gründe“ der Entschließung der
Staatsanwaltschaft verwiesen wird.
Der Senat kann daher nicht prüfen, ob bei der Interessenabwägung die persönlichen
Verhältnisse des Verurteilten, der in Berlin ohne soziale Bindungen sein soll und zu
seiner Großfamilie in seine türkische Heimat zurückkehren will, genügend Beachtung
gefunden haben.
Die angegriffenen Bescheide können daher keinen Bestand haben. Eine eigene
Entscheidung über das Absehen von der weiteren Strafvollstreckung, wie vom
Betroffenen beantragt, ist dem Senat verwehrt. Er darf die nach § 456a StPO der
Vollstreckungsbehörde vorbehaltenen Ermessensabwägungen nicht durch eigene
Bewertungen und Vorstellungen ersetzen. Ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null,
bei dem nur eine Sachentscheidung zugunsten des Betroffenen in Betracht käme, ist
nicht gegeben. Die Vollstreckungsbehörde wird bei ihrer erneuten Prüfung des Antrages
den inzwischen eingetretenen Zeitablauf berücksichtigen und beachten müssen, daß mit
fortschreitender Dauer der Strafvollstreckung das öffentliche Interesse an deren
Fortsetzung gegenüber den persönlichen Belangen des Verurteilten zunehmend an
Gewicht verliert.
3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Verfahrenskosten werden nach den §§
30 Abs. 1 Satz 1 EGGVG, 130 KostO nur bei einer Verwerfung oder Zurücknahme des
Antrages auf gerichtliche Entscheidung erhoben. Für eine Erstattung der
außergerichtlichen Kosten des Betroffenen aus Billigkeitsgründen (§ 30 Abs. 3 EGGVG)
besteht kein Anlaß, da er mit seinem Antrag lediglich die Verpflichtung der
Vollstreckungsbehörde zur Neubescheidung erreicht hat.
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