Urteil des KG Berlin vom 13.03.2017

KG Berlin: betriebsgefahr, mithaftung, fahrbahn, beweiswürdigung, fahrzeug, gegenverkehr, mitverschulden, vorrecht, anhänger, quote

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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 47/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 17 StVG, § 2 StVO, § 286 ZPO
Verkehrsunfall: Erhöhung der Betriebsgefahr eines von einem
Vorfahrtberechtigten geführten Fahrzeugs wegen Benutzens
der linken Fahrbahnhälfte; Mithaftung im Verhältnis zu einem
Grundstücksausfahrer
Leitsatz
Das Rechtsfahrgebot dient nur dem Schutz der Verkehrsteilnehmer, die sich in Längsrichtung
auf derselben Fahrbahn bewegen, nicht aber auch dem Schutz derer, die erst in diese
Fahrbahn einbiegen wollen.
Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich auf die gesamte Fahrbahn der vom Vorfahrtberechtigten
genutzten Vorfahrtstraße.
Ist der Vorfahrtberechtigte nicht hinreichend weit rechts gefahren, führt dies zu einer
erhöhten Betriebsgefahr des von ihm geführten Fahrzeugs; allein diese erhöhte
Betriebsgefahr kann im Rahmen der Abwägung gem. § 17 StVG zu einer Mithaftung nach
einer Quote von ¼ führen und zwar auch im Verhältnis zu einem Grundstücksausfahrer.
Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522
Absatz 2 ZPO zurückzuweisen.
drei
Wochen
Gründe
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Senat folgt den im Wesentlichen
zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch die
Berufungsbegründung nicht entkräftet werden. Ergänzend wird auf Folgendes
hingewiesen:
Nach § 513 Absatz 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die
angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die
nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung
rechtfertigen. Beides ist nicht der Fall.
1. Die Beklagten machen auf S. 2 f. ihrer Berufungsbegründung geltend, nach ihrer
Ansicht sei nicht bewiesen, dass der Zeuge H. mit dem Lkw so weit links gefahren sei,
dass zum linken Bordstein nur wenig mehr als 1 m Abstand vorhanden gewesen sei.
Dies verhilft der Berufung nicht zum Erfolg.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht
zu beanstanden.
a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom
Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit
nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der
entscheidungserheblichen Feststellungen begründen.
Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Gericht des ersten Rechtszuges bei der
Tatsachenfeststellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO
gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht vom Ergebnis der
Beweiswürdigung abzuweichen (vgl. Senat, Urteil vom 8. Januar 2004 - 12 U 184/02 -;
vgl. auch KG [22. ZS], KGR 2004, 38 = MDR 2004, 533; Senat, Urteil vom 8. Januar 2004
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vgl. auch KG [22. ZS], KGR 2004, 38 = MDR 2004, 533; Senat, Urteil vom 8. Januar 2004
- 12 U 184/02 - KGR 2004, 269).
§ 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das
bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze und
ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess
gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. So darf
er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder trotz
mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung
feststellen (Zöller/Greger, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 286 Rn 13).
Die leitenden Gründe und die wesentlichen Gesichtspunkte für seine
Überzeugungsbildung hat das Gericht nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Dabei ist es
nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen und Beweismittel ausführlich
einzugehen; es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende
Beurteilung stattgefunden hat (Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 286 Rdnr. 3, 5).
b) An diese Regeln der freien Beweiswürdigung hat das Landgericht sich gehalten. Auf
die Erwägungen des Landgerichts auf S. 9 sowie auch schon auf S. 5-7 des
angefochtenen Urteils wird Bezug genommen.
Allein daraus, dass der Kläger selbst das Beweisergebnis anders wertet, folgt kein
Rechtsfehler des Landgerichts.
Der Senat ist hinsichtlich des Beweisergebnisses derselben Auffassung wie das
Erstgericht.
Zutreffend hat das Landgericht insbesondere hervorgehoben, dass die Angaben des
Zeugen H., der hinter dem BSR-Fahrzeug gefahren ist, den Aussagen der Zeugen P. und
T. (Fahrer des klägerischen Fahrzeugs) entspricht (UA 9).
Auch wenn Schätzungen von Entfernungen und Abständen durch Zeugen grundsätzlich
kritisch zu würdigen sind, erscheinen hier die Angaben plausibel, zumal sie
übereinstimmen.
Die Auffassung der Beklagten (S. 3 der Berufungsbegründung), das klägerische
Fahrzeug müsse sich noch in Bewegung befunden haben, als die Zugmaschine die
spätere Unfallstelle passierte, ist mit den Angaben aller Zeugen nicht zu vereinbaren.
Selbst der Führer des Lkw der Erstbeklagten hat dies so nicht ausgesagt, sondern vom
„stehenden VW“ gesprochen und als er „an ihm vorbeifuhr, sah ich im Rückspiegel, dass
er auf die Fahrbahn fährt und er ist dann gegen meinen Anhänger geraten“.
Abgesehen davon, dass sich aus der Aussage H. ergibt, dass er so weit links gefahren
sein muss, dass er im Rückspiegel den linken Straßenrand hat sehen können, haben alle
drei übrigen Zeugen bestätigt, dass das klägerische Fahrzeug vor oder bei der Kollision
stand.
Dies ist plausibel; denn die Version des Zeugen H. würde bedeuten, dass der Zeuge T.
quasi „sehenden Auges“ gegen den Anhänger gefahren ist, obwohl der Lastzug der
Erstbeklagten, den er im Blick haben musste noch nicht vollständig vorbeigefahren war.
Derartiges entspricht nicht der Lebenserfahrung.
2. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Abwägung der Umstände des Falles,
insbesondere der Verursachungsanteile der beteiligten Fahrzeuge gemäß § 17 Abs.1
StVG durch das Landgericht aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Die Beklagten machen auf S.1-2 ihrer Berufungsbegründung geltend, ihre Mithaftung
komme nicht in Betracht, da sich der Lkw der Erstbeklagten im fließenden Verkehr
befunden habe und das klägerische Fahrzeug aus seiner Grundstücksausfahrt
herausgefahren sei. Die Urteile, auf die sich das Landgericht bezogen habe, seien auf
den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da sie lediglich Kollisionen im
Einmündungsbereich oder Kreuzungsbereich betreffen würden. Ferner diene das
Rechtsfahrgebot gemäß § 2 StVO ausschließlich dem Schutz der Verkehrsteilnehmer,
die sich im Mit- oder Gegenverkehr bewegen würden.
Diese Hinweise rechtfertigen eine Abänderung des angefochtenen Urteils nicht.
a) Zutreffend ist zwar der Hinweis der Beklagten auf S.2 der Berufungsbegründung, dass
nach ständiger Rechtsprechung das Rechtsfahrgebot gemäß § 2 Abs.2 StVO
ausschließlich dem Schutz der Verkehrsteilnehmer dient, die sich im Mit- oder
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ausschließlich dem Schutz der Verkehrsteilnehmer dient, die sich im Mit- oder
Gegenverkehr, also in Längsrichtung auf derselben Fahrbahn bewegen.
Dieser Hinweis verhilft der Berufung jedoch nicht zum Erfolg, weil das Landgericht die
Mithaftung der Beklagten nicht auf eine Sorgfaltspflichtverletzung, also einen
schuldhaften Verstoß des Zeugen H. gegen das Rechtsfahrgebot gestützt hat. Im
Gegenteil hat das Landgericht auf S.5-8 des angefochtenen Urteils ausdrücklich
ausgeführt, dass ein Mitverschulden des Zeugen H. aus keinem rechtlichen
Gesichtspunkt in Betracht kommt. Auf S.7 f. des Urteils hat das Landgericht zutreffend
ausdrücklich betont, dass dem Zeugen H. kein Mitverschulden am Unfall dadurch trifft,
dass er ziemlich weit links gefahren sei; denn er habe darauf vertrauen dürfen, dass sein
Vorrecht von dem Wartepflichtigen beachtet werde.
b) Das Landgericht hat die Mithaftung der Beklagten zu ¼ jedoch zutreffend begründet
mit der erhöhten Betriebsgefahr des Lkw der Erstbeklagten wegen Benutzens der linken
Fahrbahnhälfte.
Der Einwand der Beklagten, die vom Landgericht auf S.8 des angefochtenen Urteils
zitierten Urteile seien nicht einschlägig, weil sie lediglich Kollisionen an Kreuzungen und
Einmündungen betreffen würden, ist zwar einerseits richtig. Andererseits verdeutlichen
die zitierten Entscheidungen jedoch das Prinzip, dass die wegen Linksfahrens erhöhte
Betriebsgefahr zur Mithaftung des Bevorrechtigten führen kann; dieser Grundsatz ist
auch nicht auf Unfälle an Kreuzungen oder Einmündungen beschränkt, sondern gilt
allgemein immer dann, wenn die Betriebsgefahr des Fahrzeuges, welches die linke
Fahrbahnhälfte benutzt, in die Abwägung einzustellen ist (vgl. für Fußgängerunfall KG,
Urteil vom 6. Oktober 1988 - 22 U 424/88 - VM 1989, 23 Nr.26; für Unfall mit Ausfahrer
aus Grundstücksausfahrt OLG Bamberg, Urteil vom 19. November 1991 - 5 U 154/88 -
VRS 84, 203; OLG Karlsruhe, Urteil vom 27. Oktober 1989 - 10 U 125/89 - NZV 1990,
189; vgl. auch OLG Hamm, Urteil vom 20. Oktober 2005 - 27 U 37/05 - NZV 2006, 204 =
DAR 2006, 275).
Auch wenn das Rechtsfahrgebot grundsätzlich nur dem Schutz des gleichgerichteten
Verkehrs dient, schließt das nicht aus, dass sich durch die Benutzung der linken
Fahrbahnseite die Betriebsgefahr eines unfallbeteiligten Kraftfahrzeuges erhöht und
allein dadurch zur Mithaftung führt. Denn erlaubtes Tun kann eine erhöhte
Betriebsgefahr gegenüber der normalen Gefahr des Betriebes des Kraftfahrzeuges nicht
ausschließen, die Erhöhung der Betriebsgefahr muß nicht durch unerlaubtes Verhalten
des Fahrzeugführers verursacht sein. Die die normale Gefahr erhöhenden Umstände
sind solche, in denen sich das Gefahrenpotential des Kraftfahrzeuges aktualisiert, wobei
alle Gefahrenmomente des Betriebes zu berücksichtigen sind, die die Unfallfolgen
nähergerückt haben, nicht nur diejenigen die den Unfall ausgelöst haben (vgl. Booß,
Anm. in VM 1986, 34; OLG Jena, Urteil vom 9. Mai 2000 - 5 U 1346/99 - DAR 2000, 570,
571).
Da die Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeuges in der Gesamtheit der Umstände besteht,
welche - durch die Eigenart des Kraftfahrzeuges und seines Betriebes begründet -
Gefahr in den Verkehr tragen, hat der Zeuge H. durch das Nichteinhalten des rechten
Bereiches der Fahrbahnseite die bereits latent gegebene Betriebsgefahr des von ihm
geführten Kraftfahrzeuges in der konkreten Fahrsituation erhöht.
Dass aber das Befahren der linken Fahrbahnhälfte - auch wenn sich das Vorrecht auf die
gesamte Fahrbahnbreite erstreckt - die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges erhöht und
im Falle der Unfallursächlichkeit dieses Umstandes zur Mithaftung führt, entspricht
ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. schon BGH, Urteil vom 18. September
1964 - VI ZR 132/63 - VersR 1964, 1195; KG, Urteil vom 6. Oktober 1988 - 22 U 424/88 -
a.a.O.; OLG Köln, Urteil vom 15. März 1989 - 13 U 222/88 - NZV 1989, 437; Urteil vom
19. Juni 1991 - 2 U 1/91 - NZV 1991 - 429; Urteil vom 31. März 2000 - 19 U 159/99 -
VersR 2001, 1042; Senat, Urteil vom 7. Februar 1994 - 12 U 579/93 -; Urteil vom 15.
Januar 1996 - 12 U 304/95 - sowie OLG Bamberg, a.a.O. und OLG Karlsruhe, a.a.O.,
jeweils für Unfälle mit Ausfahrern aus Grundstücksausfahrten).
Die Ausführungen des Landgerichts zur Unfallursächlichkeit der Fahrweise des Zeugen
H. auf S.9 f. des angefochtenen Urteils beruhen auf den - nicht zu beanstandenden -
tatsächlichen Feststellungen über das Benutzen der linken Fahrbahnhälfte durch den
Zeugen H. (vgl. oben unter 1.).
3. Im übrigen hat die Sache weder grundsätzliche Bedeutung noch ist eine Entscheidung
des Berufungsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung erforderlich.
31 Es wird angeregt, die Fortsetzung der Berufung zu überdenken.
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