Urteil des KG Berlin vom 23.11.2006

KG Berlin: anspruch auf rechtliches gehör, persönliches erscheinen, einspruch, schweigen, befreiung, link, sammlung, quelle, ordnungswidrigkeit, rüge

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Gericht:
KG Berlin 3. Senat für
Bußgeldsachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 Ss 9/07 - 3 Ws (B)
93/07, 2 Ss 9/07, 3
Ws (B) 93/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 73 Abs 2 OWiG
Bußgeldverfahren: Entscheidung über Antrag auf Entbindung
von der Erscheinungspflicht
Tenor
Auf den Antrag des Betroffenen wird die Rechtsbeschwerde gegen das
Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 23. November 2006 zugelassen.
Auf die Rechtsbeschwerde wird das genannte Urteil aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die
Kosten der Rechtsbeschwerde – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts
zurückverwiesen.
Gründe
Der Polizeipräsident in Berlin hat gegen den Betroffenen wegen verbotswidriger
Inbetriebnahme eines Lastkraftwagens unter Überschreitung des zulässigen
Gesamtgewichts (§§ 34 Abs. 3 Satz 3, 69 a Abs. 2 Nr. 4 StVZO) nach § 24 StVG eine
Geldbuße in Höhe von 125,-- Euro verhängt. Nach rechtzeitiger Einspruchseinlegung und
Anberaumung eines Hauptverhandlungstermins durch das Amtsgericht hatte der
Verteidiger des Betroffenen dessen Entbindung vom persönlichen Erscheinen in der
Hauptverhandlung mit der Begründung beantragt, dieser sei am Hauptverhandlungstag
über 100 Kilometer vom Verhandlungsort entfernt, so dass es bereits aus diesem
Grunde unverhältnismäßig sei, sein persönliches Erscheinen anzuordnen. Ferner hatte er
als abschließende Einlassung des Betroffenen zur Sache für diesen vorgetragen, dieser
sei am 9. November 2005 von der Polizei kontrolliert worden und zum Zeitpunkt der
Kontrolle verantwortlicher Fahrzeugführer des im Bußgeldbescheid aufgeführten Lkw
gewesen. Weitere Angaben werde der Betroffene zum Sachverhalt nicht machen und
sich auch nicht zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen einlassen.
Diesen Antrag hatte das Amtsgericht ohne weitere Begründung mit Beschluss vom 21.
Februar 2006 abgelehnt. Im Hauptverhandlungstermin vom 28. Februar 2006 war der
Betroffene nicht erschienen gewesen. Seinen Einspruch hatte das Amtsgericht mit Urteil
vom 28. Februar 2006 formularmäßig nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Auf den gegen
dieses Urteil gerichteten Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde
und die mit der Versagung rechtlichen Gehörs begründete Rechtsbeschwerde hat der
Senat mit Beschluss vom 2. August 2006 dem Zulassungsantrag stattgegeben, auf die
Rechtsbeschwerde das Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Im Rahmen der nunmehr am 14. und 28. September, 19. Oktober sowie 9. und 23.
November 2006 durchgeführten Hauptverhandlung hat das Amtsgericht bezüglich der
ersten vier Termine den Betroffenen auf entsprechenden Antrag seines Verteidigers hin
jeweils von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden. Nachdem bereits im
Termin am 19. Oktober 2006 vom Gericht der rechtliche Hinweis erteilt worden war, dass
auch eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Verkehrsordnungswidrigkeit in Betracht
käme, hat das Amtsgericht im Termin am 9. November 2006 die Hauptverhandlung
erneut unterbrochen, Fortsetzungstermin für den 23. November 2006 anberaumt und
für diesen Termin das persönliche Erscheinen des Betroffenen angeordnet. Mit
Schriftsätzen seines Verteidigers vom 20. und 21. November 2006 hat der Betroffene
beantragt, ihn von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung am
23. November 2006 zu entbinden und darauf hingewiesen, er werde sich in der
Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern, auch keine Fragen des Gerichts beantworten
und auch nicht auf einen etwaigen Hinweis des Gerichts, dass eine vorsätzliche
Tatbegehung in Betracht komme, antworten. Diesen Antrag hat das Amtsgericht mit
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Tatbegehung in Betracht komme, antworten. Diesen Antrag hat das Amtsgericht mit
Beschluss vom 21. November 2006 mit der Begründung abgelehnt, dass aufgrund der
im Termin vom 9. November 2006 erfolgten Bekundungen eines Polizeizeugen auch eine
Verurteilung des Betroffenen wegen vorsätzlicher Begehensweise sowie die Verhängung
einer deutlich höheren Geldbuße als im Bußgeldbescheid in Betracht komme und sich
das Gericht auf diesem Hintergrund "einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen
verschaffen" wolle. Im Hauptverhandlungstermin vom 23. November 2006 war der
Betroffene nicht erschienen. Daraufhin hat das Amtsgericht seinen Einspruch mit dem
angefochten Urteil formularmäßig nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Gegen dieses Urteil
richten sich der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde und die mit der Versagung
rechtlichen Gehörs begründete Rechtsbeschwerde.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, da es geboten ist,
das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.
Die Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe dem Antrag des Betroffenen, ihn gemäß § 73
Abs. 2 OWiG von der gesetzlichen Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, zu
Unrecht nicht entsprochen und daher durch die Verwerfung seines Einspruchs nach § 74
Abs. 2 OWiG seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, ist
ordnungsgemäß ausgeführt. Der sonst im Rahmen einer Gehörsrüge erforderlichen
Darlegung, was der Betroffene in der Hauptverhandlung vorgetragen hätte, bedarf es im
vorliegenden Fall nicht, da der Betroffene nicht rügt, dass ihm eine Stellungnahme zu
entscheidungserheblichen Tatsachen verwehrt worden sei, sondern dass das Gericht
seine Erklärung zur Sache in dem Schriftsatz, mit dem die Entbindung beantragt wurde,
nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat (vgl. Brandenburgisches OLG NZV 2003,
432).
Die Rüge ist auch begründet. Der Betroffene war vorliegend nach § 73 Abs. 2 OWiG von
seiner Anwesenheitspflicht zu entbinden. Denn nach dieser Bestimmung entbindet das
Gericht den Betroffenen von seiner Verpflichtung zum Erscheinen, wenn er sich zur
Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht äußern
werde und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des
Sachverhalts nicht erforderlich ist. Dabei ist zu beachten, dass die Entscheidung über
den Entbindungsantrag nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt ist, dieses vielmehr
verpflichtet ist, dem Antrag zu entsprechen, sofern die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2
OWiG vorliegen (vgl. Senat in ständiger Rechtsprechung; vgl. etwa VRS 111, 146 sowie
Beschlüsse vom 2. August 2006 – 3 Ws (B) 395/06 – und 9. August 2006 – 3 Ws (B)
408/06; OLG Dresden DAR 2005, 460). Hier liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor,
dass aus dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht die Anwesenheit des Betroffenen im
letzten der fünf Hauptverhandlungstermine geboten gewesen wäre, nachdem das
Amtsgericht ihn bezüglich der vorangegangenen vier Termine von der Pflicht zum
persönlichen Erscheinen befreit hatte. Nachdem der Betroffene mehrfach durch seinen
Verteidiger gegenüber dem Gericht verdeutlicht hatte, dass er sich nicht weiter zur
Sache einlassen und keine Fragen des Gerichts beantworten werde, auch nicht zur Frage
einer möglichen vorsätzlichen Begehungsweise der Verkehrsordnungswidrigkeit, bleibt
völlig unerfindlich und wird vom Amtsgericht in seiner den Entbindungsantrag
ablehnenden Entscheidung vom 21. November 2006 auch mit keinem Wort dargelegt,
wie der "persönliche Eindruck von dem Betroffenen", der sich unter den vorliegenden
Umständen auf dessen äußeres Erscheinungsbild beschränken musste, zur Aufklärung
der Ordnungswidrigkeit, der Schuldform oder auch nur der Bemessung der Höhe der
Geldbuße hätte beitragen können. Allein die theoretische Möglichkeit, der Betroffene
werde seinen Entschluss zum Schweigen in der Hauptverhandlung überdenken, reicht
nicht aus, ihm die Befreiung von der Erscheinungspflicht zu verweigern (vgl. Senat VRS
111, 429 (430)).
Danach war das angefochtene Urteil aufzuheben und erschien es angesichts des
bisherigen Verfahrensgangs geboten, die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.
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