Urteil des KG Berlin vom 04.07.2007

KG Berlin: drittstaat, einreise, anhörung, freiheitsentziehung, beweislast, eingriff, gerichtsbarkeit, rechtswidrigkeit, freiheitsrecht, bekanntmachung

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Gericht:
KG Berlin 1. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 W 376/07, 1 W
379/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 62 Abs 2 S 1 AufenthG, § 55
Abs 1 AsylVfG
Abschiebungshaftverfahren: Feststellungslast für die Einreise
eines Betroffenen aus einem sicheren Drittstaat
Leitsatz
Fehlt es an Verwaltungsakten oder verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zur
Ausreisepflicht des Betroffenen, trägt im Abschiebungshaftverfahren der Antragsteller die
Feststellungslast für die Einreise des Betroffenen aus einem sicheren Drittstaat.
Tenor
Unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses insoweit wird festgestellt, dass die
Haftanordnung des Amtsgerichts Schöneberg vom 4. Juli 2007 rechtswidrig war. Im
Übrigen wird die sofortige weitere Beschwerde zurückgewiesen.
Gründe
Die sofortige weitere Beschwerde ist zulässig (§§ 22 Abs.1, 27 Abs.1, 29 Abs.1 und 4
FGG i.V.m. §§ 3 S.2, 7 Abs.1 und 2 FEVG, § 106 Abs.2 AufenthG) und in dem aus der
Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen nicht begründet.
1. Die Zurückweisung der sofortigen Erstbeschwerde gegen den Beschluss des
Amtsgerichts Schöneberg vom 3. Juli 2007 beruht nicht auf einer Rechtsverletzung, auf
die die weitere Beschwerde allein mit Erfolg gestützt werden kann (§ 27 Abs.1 S.2 FGG
i.V.m. §§ 546 f. ZPO). Das Landgericht hat die Rechtswidrigkeit der nach § 11 FEVG
angeordneten einstweiligen Freiheitsentziehung rechtsfehlerfrei verneint.
Insbesondere waren nach dem maßgebenden Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der
Anordnung am 3. Juli 2007 dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass die
Voraussetzungen für die Unterbringung vorliegen, § 11 Abs.1 S.1 FEVG. Es ist rechtlich
nicht zu beanstanden, dass das Landgericht auf der Grundlage der Anhörung vom 3. Juli
2007 hinreichende Anhaltspunkte für den Haftgrund des § 62 Abs.2 S.1 Nr.1 AufenthG
bejaht hat. Der Betroffene ist nach seinen Angaben ohne Visum und Pass – mit Hilfe
eines Schleusers – in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Danach war er auf
Grund einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig, §§ 50 Abs.1, 58 Abs.2 S.1
Nr.1 i.V.m. § 14 Abs.1 Nr.1 und 2 AufenthG. Nach dem Ergebnis der vorläufigen
Anhörung vom 3. Juli 2007 war auch nicht davon auszugehen, dass dem Betroffenen der
Aufenthalt gemäß § 55 Abs.1 AsylVfG gestattet war. Im Fall der unerlaubten Einreise aus
einem sicheren Drittstaat erwirbt der Ausländer die Aufenthaltsgestattung erst mit der
Stellung eines förmlichen Asylantrags (§ 55 Abs.1 S.3 i.V.m. § 14 AsylVfG); ein formloses
Asylgesuch i.S.v. § 13 Abs.1 AsylVfG genügt nicht (BGH, NVwZ 2003, 893). Einen
förmlichen Asylantrag hatte der Betroffene (noch) nicht gestellt. Nach den bis zur
Entscheidung vom 3. Juli 2007 möglichen Ermittlungen (§ 12 FGG) waren auch dringende
Gründe für die Annahme vorhanden, der Betroffene sei aus einem sicheren Drittstaat (§
26a AsylVfG) eingereist. Der Betroffene hatte gegenüber der Polizei (in englischer
Sprache, die er zumindest in Grundzügen beherrscht) wechselnde Angaben zur
Reisedauer und zum Einreisezeitpunkt gemacht und mitgeteilt, er sei mit dem Schiff
nach Europa gereist und vom Ankunftsort aus mit dem Zug nach Deutschland gefahren.
Auch seinen Erklärungen (in englischer Sprache) vor dem Amtsgericht am 3. Juli 2007
ließ sich nicht entnehmen, dass er das Schiff in einem deutschen Hafen verlassen hatte.
War danach von einer Einreise per Zug auszugehen, musste diese aus einem sicheren
Drittstaat erfolgt sein, da die Bundesrepublik Deutschland von solchen Staaten
umgeben ist.
Das Amtsgericht und ihm folgend das Landgericht haben auf der Grundlage der
Anhörung vom 3. Juli 2007 hinreichende Anhaltspunkte für den Haftgrund des § 62 Abs.2
S.1 Nr.5 AufenthG ebenfalls rechtsfehlerfrei bejaht. Die unerlaubte Einreise mit Hilfe
eines Schleusers und das Fehlen eines festen Wohnsitzes in der Bundesrepublik
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eines Schleusers und das Fehlen eines festen Wohnsitzes in der Bundesrepublik
Deutschland begründen den Verdacht, der Betroffene wolle sich der Abschiebung
entziehen, mit der er nicht einverstanden war.
Die Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung war auch nicht unverhältnismäßig.
Insbesondere war die Haft nicht deshalb ungeeignet zur Sicherung der Abschiebung, weil
festgestanden hätte, dass die Haftvoraussetzungen noch vor Durchführung der
Abschiebung entfallen würden. Das gilt selbst dann, wenn zu erwarten war, der
Betroffene werde demnächst einen förmlichen Asylantrag stellen. Ein aus der Haft
heraus gestellter Asylantrag stand der Aufrechterhaltung der Haft jedenfalls gemäß § 14
Abs.3 S.1 Nr.5 AufenthG (zunächst) nicht entgegen. Ob die Haft gemäß § 14 Abs.3 S.3
AsylVfG vor einer Abschiebung enden würde, war nicht zu prognostizieren.
Die Annahme des Landgerichts, das mögliche Fehlen einer Bekanntmachung des
Beschlusses vom 3. Juli 2007 führe nicht zu dessen Rechtswidrigkeit, ist ebenfalls frei von
Rechtsfehlern. Es bedarf keiner Erörterung, ob durch die Verkündung des Beschlusses
und Aushändigung des Protokolls an den Betroffenen (§ 16 Abs.3 FGG) eine
hinreichende Bekanntmachung i.S.v. § 6 Abs.2 lit.a FEVG erfolgt ist. Jedenfalls ist die
Entscheidung durch die Anordnung nach § 8 Abs.1 S.2 FEVG sofort wirksam geworden.
Auch sind dem Betroffenen durch das Fehlen einer Übersetzung (in Mandingo) keine
Rechtsnachteile entstanden. Der Beschluss vom 3. Juli 2007 ist bereits durch die
endgültige Haftanordnung vom 4. Juli 2007 gegenstandslos geworden; die Anordnung
der einstweiligen Freiheitsentziehung hätte auch bei einer früheren
Rechtsmitteleinlegung durch das Beschwerdegericht nicht mehr vor Erlass der
endgültigen Haftanordnung aufgehoben werden können.
2. Die Entscheidung des Landgerichts, die Haftanordnung des Amtsgerichts Schöneberg
vom 4. Juli 2007 sei nicht rechtswidrig gewesen, beruht auf einem Rechtsfehler.
Rechtlich zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass auch ein (formloses)
Asylgesuch i.S.v. § 13 Abs.1 AsyVfG zu einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs.1 S.1
AsylVfG führt, wenn der Betroffene nicht unerlaubt aus einem sicheren Drittstaat
eingereist ist. Bereits das Amtsgericht hat die Äußerungen des Betroffenen zum Grund
seiner Einreise gegenüber den Polizeibeamten am 3. Juli 2007 rechtsfehlerfrei als
Asylgesuch i.S.v. § 13 Abs.1 AsylVfG gewertet. Dieses Asylgesuch steht – mangels
Vorliegens der Voraussetzungen des § 14 Abs.3 AsylVfG – der Abschiebungshaft
entgegen, wenn der Betroffene nicht aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Die
Aufenthaltsgestattung lässt die Ausreisepflicht i.S.v. § 62 Abs.2 S.1 Nr.1 AufenthG
entfallen. Sie verhindert auch eine Haftanordnung nach § 62 Abs.2 S.1 Nr.5 AufenthG,
da eine asylrechtliche Aufenthaltsgestattung bei sämtlichen Haftgründen zu
berücksichtigen ist (BayObLG, NVwZ 1993, 102; vgl. auch BVerfG, InfAuslR 2009, 205 ff.
zur Prüfung der Ausreisepflicht).
Das Landgericht hat zum einen angenommen, auch auf der Grundlage der Anhörung
vom 4. Juli 2007 sei von einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Betroffenen auszugehen,
da er unerlaubt aus einem sicheren Drittstaat eingereist sei; hiervon sei die Kammer
überzeugt. Gleichzeitig hat es ausgeführt, der Reiseweg des Betroffenen sei
unaufklärbar; in einem solchen Fall trage der Betroffene die materielle Beweislast für
seine Behauptung, nicht aus einem sicheren Drittstaat eingereist zu sein. Diese
Erörterungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Ihnen ist unter Verstoß
gegen § 25 FGG nicht zu entnehmen, ob das Landgericht die Einreise über einen
sicheren Drittstaat festgestellt oder eine Entscheidung nach der Feststellungslast
getroffen hat. Für letzteres spricht, dass es die Angaben des Betroffenen insgesamt für
nicht glaubhaft gehalten und mit Verfügung vom 10. Juli 2007 darauf hingewiesen hat, es
könnte u.U. nicht auszuschließen sein, dass er mit dem Schiff in Deutschland – nicht aus
einem sicheren Drittstaat – eingereist sei. Verbleiben aber nach ausreichenden
Ermittlungen und Würdigung aller wesentlichen Umstände Zweifel daran, ob der
Betroffene aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist, kann eine Haftanordnung nicht
ergehen. Denn für den Eingriff in das grundrechtlich geschützte Freiheitsrecht müssen
die gesetzlichen Haftvoraussetzungen positiv feststehen, Art. 2 Abs.2 S.2 und 3 i.V.m.
Art. 104 Abs.1 GG. Dazu gehört hier auch das Fehlen einer asylrechtlichen
Aufenthaltsgestattung als Voraussetzung für die Ausreisepflicht. Fehlt es – wie hier zum
Zeitpunkt der Haftanordnung vom 4. Juli 2007 – an Verwaltungsakten oder
verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen zur Ausreisepflicht des Betroffenen, trägt
dieser im Abschiebungshaftverfahren nicht die Feststellungslast dafür, dass er nicht aus
einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Dem steht nicht entgegen, dass der Betroffene
im Asylverfahren bei Unaufklärbarkeit des Reisewegs die materielle Beweislast für seine
Behauptung trägt, er sei ohne Berührung eines sicheren Drittstaats eingereist (vgl.
BVerwG, NVwZ 2000, 81, 83). Im hiesigen Verfahren geht es nicht um die Herleitung
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BVerwG, NVwZ 2000, 81, 83). Im hiesigen Verfahren geht es nicht um die Herleitung
einer günstigen Rechtsfolge für den Betroffenen, sondern um einen Eingriff in sein
Freiheitsrecht. Etwas Anderes folgt auch nicht aus § 82 Abs.1 AufenthG. Abgesehen
davon, dass ein Hinweis nach § 82 Abs.3 AufenthG nicht erteilt wurde, gilt die Vorschrift
für Angaben gegenüber der Ausländerbehörde und nicht für das Verfahren nach dem
Freiheitsentziehungsgesetz.
Der Senat kann entsprechend § 563 Abs.3 ZPO in der Sache selbst entscheiden, da
weitere Ermittlungen nach § 12 FGG nicht erforderlich sind. Die Haftanordnung vom 4.
Juli 2007 war – im Gegensatz zur Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung, bei
der dringende Gründe für die Annahme der Haftvoraussetzungen genügen und nur der
Erkenntnisstand vom 3. Juli 2007 zu berücksichtigen ist – rechtswidrig. Auf der Grundlage
der Anhörung vom 4. Juli 2007 ist die Einreise des Betroffenen aus einem sicheren
Drittstaat nicht (mehr) feststellbar. Sowohl aus den Angaben des
Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen als auch aus seinen persönlichen
Erklärungen vom 4. Juli 2007 ergibt sich, dass der Betroffene unmittelbar aus G. mit dem
Schiff in Deutschland eingereist sein will. Die vorangegangenen, abweichenden Angaben
des Betroffenen mögen Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellung begründen, sind
jedoch bereits wegen der Sprachschwierigkeiten des Betroffenen keine geeignete
Grundlage für eine gegenteilige Tatsachenfeststellung. Die Mitteilung des Betroffenen,
der Ankunftshafen sei so weit weg gewesen, dass er im Zug nach Berlin übernachtet
habe, lässt ebenfalls keinen hinreichenden Schluss auf die Einreise aus einem sicheren
Drittstaat zu. Mit „Übernachtung“ können auch wenige Stunden Schlaf zur Nachtzeit
gemeint sein. Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene während der Zugfahrt eine
Grenze passiert hat, bestehen nicht. Schließlich sind seine Angaben – wie auch vom
Landgericht angenommen – derart vage und widersprüchlich, dass sie zur
Überzeugungsbildung des Gerichts nicht genügen. Es kann nicht ausgeschlossen
werden, dass der Betroffene direkt nach Deutschland eingereist ist.
3. Außergerichtliche Kosten des Betroffenen sind dem Land Berlin nicht aufzuerlegen.
Die Voraussetzungen des § 16 Abs.1 S.1 FEVG sind nicht gegeben, da aus den unter Nr.
1 genannten Gründen ein begründeter Anlass zur Stellung des Haftantrags vom 3. Juli
2007 vorlag.
4. Eine Entscheidung über die Zurückweisung des Antrags auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe vom 5. Juli 2007 ist nicht veranlasst. Es ist nicht anzunehmen, dass
sich die sofortige weitere Beschwerde auch gegen die Versagung der Prozesskostenhilfe
für das Erstbeschwerdeverfahren richtet. Die Begründung der weiteren Beschwerde
verhält sich dazu nicht. Zudem wäre ein entsprechendes Rechtsmittel unzulässig.
Entscheidungen des Landgerichts in Prozesskostenhilfeverfahren der freiwilligen
Gerichtsbarkeit sind nur anfechtbar, wenn das Landgericht die (sofortige) weitere
Beschwerde im Beschluss entsprechend § 574 Abs.1 S.1 Nr.2 ZPO zugelassen hat. Die
Vorschrift gilt über § 14 FGG auch im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (BGH,
NJW-RR 2004, 1077 f.). Die Zulassung ist nicht erfolgt.
Soweit der Betroffene rügt, das Landgericht habe nicht über seine sofortige Beschwerde
gegen die Zurückweisung des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das
Verfahren vor dem Amtsgericht entschieden, ist dies ggf. durch das Landgericht
nachzuholen. Eine Entscheidung des Senats über den Prozesskostenhilfeantrag vom 4.
Juli 2007 ist aus den zuvor genannten Gründen ausgeschlossen.
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