Urteil des KG Berlin vom 13.04.2006

KG Berlin: haftbefehl, untersuchungshaft, anklageschrift, fortdauer, belgien, haftprüfung, haftkontrolle, beschleunigungsgebot, herbst, link

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Gericht:
KG Berlin 3.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
(3) 1 HEs 168/06 (80
- 82/06), (3) 1 HEs
168/06 (80/06), (3) 1
HEs 168/06 (81/06),
(3) 1 HEs 168/06
(82/06)
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 121 Abs 1 StPO
Untersuchungshaft über 6 Monate: Zuwarten in dem Bestreben
der Zusammenfassung aller abtrennbarer Straftatkomplexe in
einer Anklage
Tenor
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 13. April 2006 - 349 Gs
1455/06 - und die Ergänzungsbeschlüsse desselben Gerichts vom 12., 19. und 22. Mai
2006 - 349 Gs 1568/06 - werden aufgehoben.
Gründe
Die Staatsanwaltschaft Berlin legt den Angeschuldigten mit der am 5. Oktober 2006 vor
dem Landgericht Berlin erhobenen Anklage zur Last, sich in Aachen, Morsbach, dem
deutsch-belgischen Grenzgebiet und Berlin zwischen dem 28. November 2005 und dem
19. April 2006 u.a. wegen bandenmäßigen, unerlaubten Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen strafbar gemacht zu haben. Sie
sollen durch Kuriere ca. 490 Gramm Kokain (Fall I. 3.) und über 2 Kilogramm Heroin
(Fälle I. 1. und 2.) aus Belgien nach Berlin geschafft haben, um es hier gewinnbringend
C.
verstoßen, weil er in seinem Haus in Morsbach 15 scharfe Patronen des Kalibers 9mm
A.
Fahrerlaubnis schuldig (Fälle II. 1.-14.), davon in einem Fall in Tateinheit mit Fall I. 3.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anklageschrift vom 21. September 2006
Bezug genommen. Die Angeschuldigten sind am 12. April 2006 vorläufig festgenommen
worden und befinden sich seitdem ununterbrochen in Haft und zwar auf Grund des am
13. April 2006 von dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin erlassenen Haftbefehls - 349 Gs
C.
I.
Senat zur Entscheidung nach § 121 Abs. 1 StPO vorgelegt.
Dieser hebt den Haftbefehl und die Ergänzungsbeschlüsse auf und entlässt die
Angeschuldigten aus der Untersuchungshaft.
Die Angeschuldigten sind zwar der ihnen in dem Haftbefehl und den
Ergänzungsbeschlüssen bezeichneten Straftaten (Fälle I. 1. und 3.) - und nur auf diese
hat sich wegen der fehlenden Aktualisierung die vorliegende Haftprüfung zu erstrecken -
dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO), und es besteht auch Fluchtgefahr (§ 112
Abs. 2 Nr. 2 StPO). Gleichwohl sind der Haftbefehl und die ihn ergänzenden Beschlüsse
des Amtsgerichts aufzuheben, denn eine weitere Fortdauer der Untersuchungshaft über
sechs Monate hinaus erscheint nicht gerechtfertigt.
Grundsätzlich haben die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle ihnen
möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um möglichst umgehend eine
gerichtliche Entscheidung über die in dem Haftbefehl bezeichneten Straftaten
herbeizuführen [vgl. BVerfG NJW 1974, 307]. Die Ermittlungsmaßnahmen wie auch das
gesamte Verfahren unterliegen daher der permanenten Prüfung, ob sie geeignet sind,
dieses Ziel zu erreichen. Erweisen sie sich als besonders schwierig oder umfangreich, so
rechtfertigt dies nur dann die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs
Monate hinaus, wenn sie zugleich frei von vermeidbaren Verzögerungen oder
Säumnissen sind. Hierbei wachsen die an die Zügigkeit und Effizienz der Bearbeitung zu
stellenden Anforderungen in dem Maße, in dem der Freiheitsanspruch des
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stellenden Anforderungen in dem Maße, in dem der Freiheitsanspruch des
Untersuchungsgefangenen mit der Dauer der Haft an Gewicht gewinnt [vgl. BVerfG NJW
1980, 1448; KG StV 2000, 36]. Wenngleich danach die bei der ersten Haftprüfung nach §
121 Abs. 2 StPO anzulegenden Maßstäbe noch nicht so streng sind, können gleichwohl
mehrere geringere Verzögerungen zur Aufhebung eines Haftbefehles führen, sofern sie
in ihrer Summe die Erheblichkeitsschwelle überschreiten [vgl. KG, Beschluss vom 17.
August 2006 - 3 Ws 398/06 -]. Dabei hat die Prüfung auch den Zeitraum - in der Regel
drei Monate (§ 122 Abs. 3 Satz 3 StPO - zu berücksichtigen, um den die Fortdauer der
Untersuchungshaft angeordnet werden soll.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist vorliegend der weitere Vollzug der
Untersuchungshaft bei keinem der Angeschuldigten mehr gerechtfertigt. Zwar haben die
Ermittlungsbehörden die Ermittlungen anfänglich mit der gebotenen Eile geführt - was
am 11. Juli 2006 zur Fertigstellung der Anklage gegen den Kurier B. geführt hat -, im
weiteren Verlauf ist es dann jedoch zu einer ersten vermeidbaren Verzögerung von
nahezu zwei Monaten gekommen. Zwar lag Mitte Juli ein erster Anklageentwurf vor. Die
Staatsanwaltschaft hat dann jedoch die weitere Bearbeitung zurückgestellt, weil sie
zunächst den Gang der Hauptverhandlung in dem gegen Al. u.a. gerichteten
Strafverfahren - (502) 69 Js 266/05 (12/06) - und die Einlassungen der dortigen
Angeklagten abwarten wollte, nach denen der Angeschuldigte C. auch die unerlaubte
Einfuhr von Betäubungsmitteln aus der Türkei nach Deutschland organisiert haben soll.
Damit sind die Ermittlungen ohne zwingende sachliche Notwendigkeit auf Bereiche
ausgedehnt worden, die außerhalb des bereits ausermittelten und anklagereifen
Straftatenkomplexes des hiesigen Verfahrens, nämlich dem Handel mit aus Belgien
eingeführten Betäubungsmitteln, lagen, und haben die Fertigstellung der Anklageschrift
bis zum 21. September 2006 verzögert. Das in dieser Vorgehensweise offenbarte
Bestreben, allen Ermittlungsansätzen in einem einzigen Ermittlungsverfahren
nachzugehen, um sämtliche Vorwürfe einer gemeinsamen Anklageerhebung
zuzuführen, ist jedoch mit dem Beschleunigungsgebot dann nicht zu vereinbaren, wenn -
wie hier - eine Abtrennung einzelner Straftatenkomplexe ohne weiteres möglich ist.
Darüber hinaus ist auch nicht nachvollziehbar, weshalb die am 21. September 2006
fertiggestellte Anklageschrift nebst Akten erst am 5. Oktober, mithin zwei Wochen später
bei der Strafkammer eingegangen ist. Gerade in Haftsachen haben die Ausfertigung und
Übersendung der Anklageschrift mit besonderer Eile zu erfolgen, um einerseits eine
durchgehende Haftkontrolle zu gewährleisten und andererseits dem Gericht frühzeitig
die Möglichkeit zu geben, rein vorsorglich etwaige Hauptverhandlungstermine zu
reservieren. Welche Relevanz dem zukommt, offenbart der Umstand, dass die für das
vorliegende Verfahren zuständige Strafkammer 38 derzeit ein Verfahren gegen 14
Angeklagte verhandelt (538-22/06) und die übrigen Sitzungstage mit vorrangig zu
erledigenden Haftsachen, u.a. 538-30/06 belegt sind. Angesichts dessen und im Hinblick
auf den Zeitaufwand, den die Übersetzung der 115-Seiten starken Anklageschrift
erfordert, und das noch durchzuführende Zwischenverfahren ist zwar nicht zu
beanstanden, dass der für den Fall der Eröffnung in Aussicht genommene Beginn der
Hauptverhandlung erst im Januar 2007 liegt, bei frühzeitigerer Anklageerhebung hätte
mit der Verhandlung jedoch bereits im Herbst diesen Jahres mithin nahezu drei Monate
früher begonnen werden können.
Damit aber fehlt es nicht nur an einem wichtigen Grund, sondern auch an dem
möglichen und gebotenen schnellen Abschluss der Ermittlungen durch die
Staatsanwaltschaft.
Der Haftbefehl und die ihn ergänzenden Beschlüsse sind aufzuheben. Da die
Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO nicht erfüllt sind, kommen andere Maßnahmen
nach § 116 StPO nicht in Betracht [vgl. KG, Beschluss vom 7. Mai 2001 - (4) 1 HEs 83/01
(41/01) -; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl., § 122 Rdn. 15].
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