Urteil des KG Berlin vom 26.09.2003

KG Berlin: vorzeitige entlassung, schutzwürdiges interesse, rechtskraft, aussetzung, gutachter, freiheit, abhängigkeit, raub, prostitution, vollzug

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Gericht:
KG Berlin 5.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 AR 1472/03 - 5 Ws
560/03, 1 AR
1472/03, 5 Ws 560/03
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 454a Abs 2 StPO
Strafvollstreckung: Subsidiarität der Möglichkeit, die
Aussetzungsentscheidung aufzuheben
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts
Berlin – Strafvollstreckungskammer – vom 26. September 2003 aufgehoben.
2. a) Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluß des
Landgerichts Berlin – Strafvollstreckungskammer – vom 29. August 2003 aufgehoben.
b) Der Antrag der Verurteilten, die Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts
Berlin vom 6. Oktober 1999 zur Bewährung auszusetzen, wird abgelehnt.
3. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft zu
tragen; die Kosten ihrer eigenen sofortigen Beschwerde und die insoweit entstandenen
notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse Berlin.
Gründe
Die Verurteilte verbüßt zur Zeit eine Freiheitsstrafe wegen schweren Raubes von zwei
Jahren und fünf Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 6. Oktober 1999.
Zwei Drittel der Strafe waren am 17. August 2003 vollstreckt; das Strafende ist auf den
6. Juni 2004 notiert. Mit dem Beschluß vom 29. August 2003 setzte die
Strafvollstreckungskammer die Restfreiheitsstrafe ab dem 1. September 2003 zur
Bewährung aus. Noch vor der Entlassung wurde bekannt, daß der Justizvollzugsanstalt
gefälschte Arbeitsnachweise für den Ehemann der Verurteilten vorgelegt worden waren.
Deshalb beantragte die Staatsanwaltschaft am 1. September 2003 bei der
Strafvollstreckungskammer, diesen Beschluß nach § 454a Abs. 2 StPO wieder
aufzuheben und legte für den Fall, daß dem Antrag nicht entsprochen wird, sofortige
Beschwerde ein. Die Verurteilte wurde nicht entlassen. Durch Beschluß vom 26.
September 2003 hob die Strafvollstreckungskammer ihren Aussetzungsbeschluß auf
und lehnte die Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe ab. Hiergegen
richtet sich die sofortige Beschwerde der Verurteilten. Sowohl die sofortige Beschwerde
der Staatsanwaltschaft als auch diejenige der Verurteilten sind zulässig (§§ 454 Abs. 3
Satz 1, 311 Abs. 2 StPO) und begründet. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen
Beschlüsse und zur Ablehnung der Aussetzung der Reststrafe durch den Senat als
Beschwerdegericht (§ 309 Abs. 2 StPO).
I. Sofortige Beschwerde der Verurteilten
Das Rechtsmittel der Verurteilten gegen den Aufhebungsbeschluß des Landgerichts vom
26. September 2003 hat aus formellen Gründen Erfolg; denn die
Strafvollstreckungskammer war nicht berechtigt, auf diese Weise den noch nicht
rechtskräftigen und zudem von der Staatsanwaltschaft mit der sofortigen Beschwerde
angefochtenen Beschluß vom 29. August 2003 aufzuheben.
1. Nach § 454a Abs. 2 StPO ist die Aufhebung eines Aussetzungsbeschlusses zulässig
und geboten, wenn sich bis zur Entlassung eines Verurteilten aus der Strafhaft neue
Tatsachen ergeben, die ernsthaft daran zweifeln lassen, daß die dem
Aussetzungsbeschluß zugrunde liegende Erwartung, die Beschwerdeführerin werde
außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen (§ 57 Abs. 1 Satz 1 StGB),
noch zutrifft (vgl. KG, Beschluß vom 14. Februar 1995 – 5 Ws 25/95 –).
Die Möglichkeit, die Aussetzungsentscheidung nach § 454a Abs. 2 StPO aufzuheben, ist
allerdings nur dann eröffnet, wenn kein anderer Weg zu dem erstrebten Ziel führen kann
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allerdings nur dann eröffnet, wenn kein anderer Weg zu dem erstrebten Ziel führen kann
(vgl. OLG Saarbrücken NStE Nr. 4 zu § 454a StPO). Das Verfahren nach § 454a Abs. 2
Satz 1 StPO bewirkt eine Durchbrechung der Rechtskraft bei veränderter
Entscheidungsgrundlage (vgl. BVerfG ZfStrVo 2001, 251; OLG Dresden NStZ 2000, 614;
OLG Karlsruhe NStE Nr. 3 zu § 454a StPO; OLG Schleswig NStE Nr. 1 zu § 454a StPO =
NStZ 1988, 293). Bis zum Eintritt der Rechtskraft können alle für die Prognose
bedeutsamen Umstände – wie vorliegend – mit der sofortigen Beschwerde zur
Grundlage einer (neuen) Entscheidung gemacht werden. Deshalb ist das Verfahren nach
§ 454a Abs. 2 StPO bis zur Rechtskraft subsidiär. Ein schutzwürdiges Interesse daran,
dieselben Umstände zum Gegenstand eines anderen Verfahrens mit lediglich
lückenfüllender Funktion zu machen, besteht nicht. Solange eine rechtskräftige
Aussetzungsentscheidung nicht vorliegt, fehlt es an einem Bedürfnis für das
Aussetzungsverfahren (vgl. OLG Saarbrücken aaO).
§ 454a StPO soll die rechtzeitige Entlassung eines Verurteilten erleichtern. Da hierzu
eine möglichst frühzeitige Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes erwünscht
ist, steht zum Ausgleich der mit einer frühen Prognoseentscheidung verbundenen
Risiken die Korrekturmöglichkeit des Aufhebungsverfahrens nach § 454a Abs. 2 StPO zur
Verfügung. Diese Vorschrift soll sicherstellen, daß bei einer Vorverlagerung der
Aussetzungsentscheidung die Beurteilungsgrundlage bis zur Entlassung nicht
geschmälert wird (vgl. OLG Schleswig aaO). Für einen solchen Ausgleich besteht aber
dann kein Bedürfnis, wenn die Aussetzungsentscheidung noch mit der sofortigen
Beschwerde angefochten werden kann.
Ließe man das Aufhebungsverfahren nach § 454a Abs. 2 StPO bereits vor Eintritt der
Rechtskraft zu, führte dies nicht nur zu einer Umgehung des § 311 Abs. 3 StPO, wonach
das Gericht nicht berechtigt ist, mit der sofortigen Beschwerde angefochtene
Entscheidungen abzuändern, sondern auch zur gleichzeitigen Eröffnung zweier
unterschiedlicher Rechtswege. Die Strafvollstreckungskammer hätte es in der Hand,
entweder die Akten dem Beschwerdegericht zur Entscheidung zuzuleiten oder aber ihren
eigenen Beschluß aufzuheben und in der Sache selbst zu entscheiden. Ein solches
Verfahren ist der Strafprozeßordnung fremd; es verstieße gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2
GG, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf.
2. Da die Strafvollstreckungskammer nicht berechtigt war, ihren nicht rechtskräftigen
Beschluß vom 29. August 2003 aufzuheben, hat die sofortige Beschwerde der
Verurteilten gegen den Aufhebungsbeschluß vom 26. September 2003 Erfolg. Er führt
indes nicht zur vorzeitigen Entlassung der Beschwerdeführerin, da auch die sofortige
Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluß vom 29. August 2003
begründet ist.
II. Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaft erstrebt die Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses auf
rechtmäßige Weise. Da dieses Ziel nur mit der – hilfsweise – eingelegten sofortigen
Beschwerde zu erreichen ist, hat sich eine Entscheidung über diese nicht durch den
ebenfalls beantragten Aufhebungsbeschluß erledigt. Auch die sofortige Beschwerde der
Staatsanwaltschaft hat Erfolg, weil der Beschwerdeführerin die für eine vorzeitige
Entlassung aus der Strafhaft erforderliche günstige Prognose (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
StGB) nicht gestellt werden kann.
1. Die Verurteilte verbüßt zwar zum ersten Mal Strafhaft, so daß eine allgemeine
Vermutung für sie sprechen könnte, daß der erstmalige Vollzug von Freiheitsstrafe sie
beeindruckt und seine Wirkung nicht verfehlt hat (vgl. KG, Beschluß vom 22. April 1998 –
5 Ws 197/98 –). Dieser Grundsatz gilt aber nicht uneingeschränkt und erfährt wegen der
vom Gesetzgeber in den Vordergrund gestellten Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit
eine Einschränkung, wenn besondere Umstände vorliegen. Das ist sowohl dann der Fall,
wenn ein Gewaltdelikt verübt wurde, als auch wenn bestimmte Tatsachen Zweifel an der
hinreichenden Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straffreiheit des Verurteilten begründen
(vgl. KG, Beschlüsse vom 22. September 2000 – 5 Ws 635-637/00 – und vom 23. August
2000 – 5 Ws 589/00 – und vom 23. Mai 2000 – 5 Ws 356/00 –). Eine günstige Prognose
setzt in diesem Fall das Vorhandensein von Tatsachen voraus, die es überwiegend
wahrscheinlich machen, daß die Verurteilte die kritische Probe in Freiheit wirklich besteht.
Dazu genügt nicht nur der Wille, sich künftig an Gesetze zu halten. Die Verurteilte muß
auch Tatsachen schaffen, die ihre Befähigung ausweisen, künftig Tatanreizen zu
widerstehen (vgl. KG NStZ-RR 2000, 170). Daran fehlt es hier.
Das ordnungsgemäße Vollzugsverhalten reicht hierfür nicht aus; denn daraus ergibt sich
nur, daß die Gefangene sich unter den strengen Regeln des Vollzuges
beanstandungsfrei verhalten kann. Für ihre Führung in Freiheit lassen sich allein daraus
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beanstandungsfrei verhalten kann. Für ihre Führung in Freiheit lassen sich allein daraus
keine ausreichend tragfähigen Schlüsse ziehen. Maßgeblich ist vielmehr eine günstige
Entwicklung während des Vollzuges, die von besonderem Gewicht sein muß. Dazu zählen
etwa die Beseitigung von Defiziten im Sozialverhalten, vor allem die Behebung von
tatursächlichen Persönlichkeitsmängeln, wie sie bei der Beschwerdeführerin zutage
getreten sind. Tatursächlich war dem Urteil zufolge vor allem ihre Einordnung in das
soziale Umfeld der Prostitution und die damit einhergehende Abhängigkeit von dem
kriminellen Lebenswandel anderer Männer. Auch ihren Angaben in der mündlichen
Anhörung vom 29. August 2003 zufolge hat sie den der Bestrafung zugrundeliegenden
schweren Raub aus Liebe zu ihrem damaligen, albanischen Freund, begangen.
Tatsachen für eine günstige Entwicklung im Sinne einer Abkehr von dieser auf der
Abhängigkeit krimineller Männer gründenden Lebensgestaltung liegen nicht in dem
Maße vor, das es gestattete, die Verantwortung für eine vorzeitige Entlassung zu
übernehmen.
2. Zwar hat sich die Verurteilte seit langem von dem albanischen Freund getrennt und
geht augenscheinlich auch nicht mehr der Prostitution nach. Sie hat geheiratet und ist
Mutter eines Kleinkindes, um dessen Pflege sie sich während der ihr gewährten
Vollzugslockerungen kümmert. Sie hat die Lockerungen nicht mißbraucht und strebt ein
harmonisches Familienleben an. Dem stehen aber noch belastende Umstände
entgegen, die eine vorzeitige Entlassung zum jetzigen Zeitpunkt nicht erlauben.
Es ist bereits zweifelhaft, ob die Verurteilte ihre Tat hinreichend aufgearbeitet hat. Zwar
hat sie in der Hauptverhandlung ein umfassendes Geständnis abgelegt und ist damit
von ihren Angaben vor dem Haftrichter, denen zu Folge sie von einem Landsmann zur
Tat gezwungen worden sei, abgerückt. Demgegenüber kehrte sie inzwischen aber zu
ihrem die Tatschuld relativierenden Verhalten zurück. Denn dem psychiatrischen
Gutachter erzählte sie am 21. Juli 2003, sie sei von einem Albaner sowohl zur Tat als
auch zur Aussage in der Hauptverhandlung gezwungen worden. Daß ihr das Maß des
Unrechts bewußt geworden wäre, das sie mit ihrem Verbrechen dem Opfer zugefügt hat,
erschließt sich dabei nicht.
Der Kern der Tat liegt darin, daß sie unter dem Einfluß von männlichen Tatgenossen den
schweren Raub begangen hat. Eine gute Prognose ließe sich daher nur dann gewinnen,
wenn die Beschwerdeführerin inzwischen die Fähigkeit gewonnen hätte, sich von
derartigen Einflüssen frei zu halten. Daran fehlt es aber. Die Grundlage der ursprünglich
positiven und inzwischen aufgegebenen Kriminalprognose des psychiatrischen
Gutachters Dr. S bildete nämlich im wesentlichen, daß die Verurteilte einen guten
Kontakt zu ihrer in Polen lebenden Mutter hat und von einem stabilen sozialen familiären
Umfeld empfangen und gestützt wird. Genau das ist aber nicht der Fall. Denn der
Ehemann hat den der Beschwerdeführerin gewährten Hausfrauenausgang nur durch
Vorlage gefälschter Arbeitsnachweise bei der Haftanstalt bewirkt. Dies beweist, daß die
Verurteilte keineswegs in ein stabiles, sie stützendes soziales Umfeld entlassen würde,
zumal da sie ihren Ehemann im offenen Vollzug kennengelernt und dieser nach ihren
eigenen Angaben schon wieder verurteilt wurde. Diese unsichere Lage unterscheidet
sich nur graduell und nicht maßgeblich von derjenigen, die zur Tatzeit bestand. Sie
begründet die Gefahr, daß die Beschwerdeführerin erneut unter dem Einfluß eines
Partners Tatanreizen ausgesetzt wird und ihnen nicht widerstehen kann.
Unter diesen Umständen kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Verurteilte von
der Vorlage der gefälschten Belege und der teilweisen Arbeitslosigkeit ihres Ehemannes
wußte. Unabhängig davon lassen auch ihre unterschiedlichen, sich widersprechende
Angaben berechtigte Zweifel an ihrer Ahnungslosigkeit und Vereinbarungsfähigkeit
entstehen. Zeitweise hat sie angegeben, vom Arbeitgeber ihres Ehemannes eine
mündliche Einstellungszusage nach ihrer Haftentlassung zu haben, obwohl ihr Ehemann
zu dieser Zeit gar nicht mehr bei diesem Unternehmen beschäftigt war. Später teilte sie
mit, von einem anderen potentiellen Arbeitgeber in P eine Einstellungszusage zu haben.
Dem Gutachter erklärte sie, daß ihr Mann bei BMW als Schweißer arbeite und die Stelle
bei der Bank aufgegeben habe, wohingegen sie gegenüber der
Strafvollstreckungskammer behauptete, der Ehemann arbeite noch bei der Bank.
Angesichts der kriminogenen sozialen Lage, in die sie entlassen würde, kommt es aber
darauf nicht mehr an, so daß es entbehrlich ist, diesen Widersprüchen – die sich
möglicherweise zugunsten der Beschwerdeführerin aufklären ließen – nachzugehen.
Die Strafvollstreckung ist nach alledem fortzusetzen.
Die Kosten der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft gehören zu den Kosten
des Verfahrens, die die Verurteilte nach § 465 Abs. 1 StPO zu tragen hat. Von ihren
notwendigen Auslagen wird sie nicht entlastet (vgl. KG, Beschluß vom 11. Februar 2002 –
notwendigen Auslagen wird sie nicht entlastet (vgl. KG, Beschluß vom 11. Februar 2002 –
5 Ws 55/02 –). Die Kosten des Rechtsmittels der Verurteilten fallen der Landeskasse
Berlin zur Last, weil kein anderer dafür haftet. Die Auslagenentscheidung beruht insoweit
auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.
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