Urteil des KG Berlin vom 27.11.2003

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Gericht:
KG Berlin 3. Senat für
Bußgeldsachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 Ws (B) 116/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 37 Abs 2 Nr 1 StVO, § 49 Abs 3
Nr 3 StVO, § 267 StPO
Verurteilung wegen vorsätzlichen Rotlichtverstoßes:
Anforderungen an die Urteilsfeststellungen
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in
Berlin vom 27. November 2003 dahin abgeändert, daß der Betroffene der fahrlässigen
Zuwiderhandlung gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO schuldig ist, er
deshalb zu einer Geldbuße von 50,– Euro verurteilt wird und das Fahrverbot entfällt.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Betroffenen durch dasselbe entstandenen
notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse Berlin.
Gründe
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher
Zuwiderhandlung gegen §§ 37 Abs. 2 Nr. 1 (zu ergänzen: Satz 7), 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO
nach § 24 StVG zu einer Geldbuße von 150,– Euro verurteilt, gegen ihn nach § 25 StVG
ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet und eine Bestimmung über das
Wirksamwerden desselben getroffen. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des
Betroffenen, mit der er statt des vom Amtsgericht angenommenen vorsätzlichen
sogenannten qualifizierten Rotlichtverstoßes im Wege der Sachbeschwerde die
Verurteilung wegen fahrlässig begangenen sogenannten einfachen Rotlichtverstoßes
erstrebt, hat Erfolg.
Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat zu dem Rechtsmittel wie folgt Stellung
genommen:
"1. Die Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen eines einfachen
Rotlichtverstoßes. Sie weisen aus, daß der Betroffene am 10. Juli 2003 gegen 10.45 Uhr
als Fahrer des VW Vento, amtliches Kennzeichen ..., die Friedrichstraße in Berlin-Mitte in
südlicher Richtung befuhr und an der Kreuzung Friedrichstraße/Oranienburger Straße die
Haltlinie überfuhr, obwohl die dort befindliche Lichtzeichenanlage bereits rotes
Ampellicht abstrahlte (UA S. 2). Die auch insoweit bestreitende Einlassung des
Betroffenen hat das Amtsgericht ersichtlich durch die Angaben der Zeugen ... und ..., die
gezielt zur Überwachung von Rotlichtverstößen an der betreffenden Kreuzung eingesetzt
waren, als widerlegt angesehen. Dies ist nicht zu beanstanden.
Die Annahme vorsätzlichen Handelns wird jedoch von den Feststellungen nicht getragen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Kammergerichts (vgl. u.a. Beschluß vom 7. April
1997 – 3 Ws (B) 54/97 –) setzt die Verurteilung wegen eines vorsätzlichen
Rotlichtverstoßes die Feststellung voraus, mit welcher Geschwindigkeit sich der
Betroffene der Haltelinie genähert hat und in welcher Entfernung er das dem Rotlicht
vorausgehende Gelblicht bemerkt hat, damit entschieden werden kann, ob er im
Zeitpunkt des Tatentschlusses überhaupt in der Lage gewesen wäre, rechtzeitig
anzuhalten. An den erforderlichen Feststellungen fehlt es hier.
Soweit das Amtsgericht festgestellt hat, der Betroffene sei mit einer Geschwindigkeit von
50 km/h gefahren (UA S. 2, 4), und daraus geschlossen hat, daß er bei der –
allgemeinkundigen – Dauer der Gelblichtphase von drei Sekunden ausreichend
Gelegenheit gehabt hätte, das von ihm geführte Fahrzeug zum Stehen zu bringen (UA
S. 4), hat es nicht dargelegt, worauf die Feststellung der Geschwindigkeit beruht. Wann
der Betroffene das dem Rotlicht vorausgehende Gelblicht bemerkt hat, läßt sich den
Feststellungen ebenfalls nicht entnehmen. Soweit das Amtsgericht aus fehlenden
Vorbelastungen des Betroffenen trotz langjähriger Verkehrsteilnahme auf eine
vorsätzliche Begehung schließt und hierzu ausführt, es handele sich mithin bei dem
Betroffenen um einen grundsätzlich umsichtigen Kraftfahrer, bei dem zu unterstellen sei,
daß er ein rotes Ampellicht nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich mißachtet habe, wenn
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daß er ein rotes Ampellicht nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich mißachtet habe, wenn
dies wie hier einmal geschehe, zumal die Rotlichtdauer mehr als eine Sekunde betragen
habe (UA S. 4), gibt es keinen ... Erfahrungssatz, daß ein sonst rechtstreuer
Verkehrsteilnehmer stets vorsätzlich handele, wenn er ausnahmsweise den
Verkehrsvorschriften zuwider handelt; denn auch einem ansonsten rechtstreuen Fahrer
kann aufgrund einer momentanen Unaufmerksamkeit ein Verkehrsverstoß unterlaufen".
Der Senat fügt hinzu, daß es sich wahrhaftig um eine Unterstellung, letztlich nicht mehr
als eine bloße Vermutung des Amtsgerichts handelt. Weiter heißt es in der
Stellungnahme:
"Auch die von dem Amtsgericht angeführte Dauer des Rotlichts von mehr als einer
Sekunde trägt die Verurteilung wegen vorsätzlichen Handelns nicht. Denn abgesehen
davon, daß die Rotlichtdauer – wie noch auszuführen sein wird – nicht rechtsfehlerfrei
festgestellt ist, kann auch bei einer längeren Rotlichtdauer ein Rot- bzw. Gelblicht infolge
Unaufmerksamkeit des Fahrzeugführers so spät bemerkt werden, daß ein rechtzeitiges
Anhalten nicht mehr möglich ist.
Dieser Fehler des Schuldspruchs nötigt indes nicht zur Zurückverweisung der Sache an
das Amtsgericht. Das Rechtsbeschwerdegericht kann gemäß § 79 Abs. 6 OWiG die
erforderliche Schuldspruchberichtigung selbst vornehmen. Es ist auszuschließen, daß in
einer erneuten Hauptverhandlung Feststellungen zum Nachweis einer Vorsatztat
getroffen können; denn der Betroffene hat den Rotlichtverstoß bestritten und objektive
Anhaltspunkte dafür, ob und gegebenenfalls wann er das Rotlicht wahrgenommen hat,
sind nicht ersichtlich. Die Zeugen ... und ... werden hierzu auch in einer neuen
Hauptverhandlung keine Angaben machen können.
2. Der Rechtsfolgenausspruch kann bereits infolge der Schuldspruchberichtigung keinen
Bestand haben. Überdies enthält er einen weiteren Rechtsfehler; denn die
Urteilsfeststellungen vermögen die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes nach
Nr. 132.2 BKat, d.h. bei einer länger als eine Sekunde andauernden Rotlichtphase, nicht
zu belegen.
Die Urteilsgründe sind insoweit bereits in sich widersprüchlich. Denn das Amtsgericht
stellt einerseits fest, daß die Lichtzeichenanlage im Augenblick des Überfahrens der
Haltelinie mehr als Sekunden rotes Licht abgestrahlt habe (UA S. 2). Andererseits
führt es im Rahmen der Beweiswürdigung aus, daß, wenn man von der von dem Zeugen
... ermittelten Rotlichtdauer von mehr als Sekunde ausginge, auch nach Abzug
eines Sicherheitsabzuges von einer Sekunde noch immer eine dem Betroffenen
vorzuwerfende Rotlichtdauer von mehr als Sekunde verbliebe (UA S. 3/4). Selbst
wenn es sich bei den letztgenannten Ausführungen um einen Schreibfehler handeln
würde, und der Tatrichter – entsprechend den festgestellten Angaben des Zeugen ...
(UA S. 3) – den Abzug von einem Wert von mehr als zwei Sekunden vorgenommen hat,
verbleibt der Widerspruch zu der zuvor getroffenen Feststellung, die Dauer der
Rotlichtphase habe mehr als zwei Sekunden betragen.
Ferner ergeben sich aus den Urteilsgründen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür,
daß die Zeitmessung anhand der privaten Armbanduhr des Zeugen ... (UA S. 2), die mit
einem sekundenweise weiterspringenden Sekundenzeiger ausgestattet ist (UA S. 3),
zuverlässig war. Zwar ist die Messung nicht schon wegen der fehlenden Eichung der
Armbanduhr generell unverwertbar (vgl. KG, Beschluß vom 6. März 2000 – 3 Ws (B)
54/00 –). Die Messung mit einer handelsüblichen Armbanduhr ist jedoch mit erheblichen
Fehlerquellen verbunden, insbesondere wenn von ihr – wie hier – nur volle Sekunden
abgelesen werden können. Denn die Überwachung eines einzelnen Rotlichtverstoßes
besteht in diesem Fall aus mehreren sehr rasch hintereinander zu vollziehenden
Beobachtungsvorgängen, die zusammen ein erhebliches Maß an Konzentrations-,
Reaktions- und Koordinationsfähigkeit des eingesetzten Beamten erfordern. Beim
Umschalten auf Rot muß er den Blick sofort von der Ampel auf seine Armbanduhr
richten, dort auf die Sekunde genau den Beginn der Rotphase registrieren, anschließend
auf die Haltelinie sehen und im Zeitpunkt ihres Überfahrens durch einen
Verkehrsteilnehmer blitzschnell auf die Armbanduhr zurückblicken, um nunmehr zum
zweiten Mal die Position des Sekundenzeigers festzustellen. Erst aus dem Vergleich der
Zeigerstellungen ergibt sich dann die Dauer des Rotlichts. Ein derartiges Meßverfahren
birgt nicht nur die Möglichkeit von Reaktionsverzögerungen des überwachenden
Beamten in sich, wie sie auch bei der Zeitnahme mit einer geeichten Stoppuhr in
Rechnung zu stellen ist und dort nach der Rechtsprechung zu einem Sicherheitsabzug
von 0,3 Sekunden führt (vgl. KG, Beschluß vom 7. April 1997 – 3 Ws (B) 54/97 –);
vielmehr ist zu bedenken, daß darüber hinaus beim Ablesen und Vergleichen der
Zeigerstellung Fehler unterlaufen können, die im Hinblick auf die menschliche
Unzulänglichkeit kaum auszuschließen sind. Bei einer Armbanduhr, auf der nur volle
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Unzulänglichkeit kaum auszuschließen sind. Bei einer Armbanduhr, auf der nur volle
Sekunden abgelesen werden können, hätte jeder Ablesefehler notwendigerweise zur
Folge, daß das Meßergebnis um mindestens eine Sekunde verfälscht wird, und zwar
möglicherweise zum Nachteil des betroffenen Verkehrsteilnehmers (vgl. KG VRS 89, 296;
KG, Beschluß vom 7. April 1997 – 3 Ws (B) 54/97 –). Mit einem solchen Fehlerrisiko ist die
Zeitmessung für den hier in Rede stehenden Meßbereich von zwei Sekunden oder
geringfügig darüber nicht exakt genug um zu unterscheiden, ob nur ein "einfacher" oder
ein "qualifizierter" Rotlichtverstoß vorliegt (vgl. KG VRS 89, 296; Beschlüsse vom 7. April
1997 – 3 Ws (B) 54/97 – und vom 6. März 2000 – 3 Ws (B) 54/00 –). Der von dem
Amtsgericht vorgenommene Abzug von einer Sekunde genügt aus den angeführten
Gründen nicht und die Rechtsbeschwerde weist zudem zutreffend darauf hin, daß in dem
Fall, daß der Zeuge ... zwei Sekunden von seiner Armbanduhr abgelesen hätte, bei
einem Sicherheitsabzug von einer Sekunde jedenfalls nicht ein Wert von als einer
Sekunde erreicht werden konnte, der für die Annahme eines qualifizierten
Rotlichtverstoßes nach dem Bußgeldkatalog erforderlich ist. Nach den Feststellungen zur
Beschaffenheit der Armbanduhr kann auch nur von einer Ablesung von vollen Sekunden
ausgegangen werden, so daß nur eine abgelesene Zeitspanne von drei Sekunden bei
einem Abzug von einer Sekunde zu einer Rotlichtdauer von mehr als einer Sekunde
geführt hätte. Daß der Zeuge eine Zeitspanne von drei Sekunden abgelesen hat, ist den
Feststellungen jedoch nicht zu entnehmen. An alledem ändert auch nichts, daß der
Zeuge nach den Feststellungen bekundet hat, die Angabe in der Anzeige von "ca. zwei
Sekunden" sei dahingehend zu verstehen, daß sich der Betroffene mit Sicherheit einer
länger andauernden Rotlichtüberschreitung schuldig gemacht und die Rotlichtdauer über
zwei Sekunden gedauert habe (UA S. 3). Denn der Zeuge konnte ersichtlich nicht mehr
angeben, wie viele Sekunden er tatsächlich von seiner Armbanduhr abgelesen hat. Eine
derartige Angabe wäre jedoch erforderlich, um von der Zuverlässigkeit seiner
Bekundung, es seien mit Sicherheit mehr als zwei Sekunden gewesen, die gerade zu
überprüfen war, auszugehen.
Auch dieser Rechtsfehler nötigt nicht zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruches. Das
Rechtsbeschwerdegericht kann auch insoweit gemäß § 79 Abs. 6 OWiG selbst
entscheiden. Es ist nicht zu erwarten, daß der Zeuge ... in einer neuen
Hauptverhandlung noch Angaben machen kann, welchen Wert er tatsächlich von seiner
Armbanduhr abgelesen hat; denn aus seinen festgestellten Bekundungen ergibt sich,
daß er hierzu ersichtlich keine Angaben machen konnte. Es steht auch nicht zu
erwarten, daß sich noch exakt bestimmen ließe, wie weit sich der Betroffene noch von
der Haltelinie bei Rotlichtbeginn entfernt befand und mit welcher Geschwindigkeit er sich
ihr näherte, so daß sich errechnen ließe, welche Zeit er ab Rotlichtbeginn bis zum
Erreichen der Haltelinie benötigte. Daher ist auszuschließen, daß in einer neuen
Hauptverhandlung noch Feststellungen getroffen werden könnten, die zur Annahme
eines Rotlichtverstoßes bei über einer Sekunde andauerndem Rotlicht führen könnten.
Angesicht der Unvorbelastetheit des Betroffenen, erscheint die Verhängung der
Regelgeldbuße wegen eines einfachen Rotlichtverstoßes gemäß Nr. 132 BKat von 50,00
Euro tat- und schuldangemessen."
Der Senat macht sich die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft zu
eigen. Er entscheidet deshalb wie beantragt.
3. Die Kostenentscheidung des Senats beruht auf §§ 46 Abs. 1 OWiG, 473 Abs. 3 StPO.
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