Urteil des KG Berlin vom 10.11.2008

KG Berlin: vorzeitige entlassung, politische verfolgung, freiheitsentziehung, haft, rückgriff, zuwendung, zahl, freiheitsentzug, wochenende, sammlung

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Gericht:
KG Berlin
Beschwerdesenat für
Rehabilitierungssachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 Ws 181/09 REHA
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 17a StrRehaG
Leitsatz
Eine Freiheitsentziehung ist "mindestens sechs Monate erlitten", wenn sie tatsächlich
mindestens 180 Tage gedauert hat (Anschluß an die h.M.).
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin –
Rehabilitierungskammer - vom 10. November 2008 wird verworfen.
Kosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben. Die notwendigen Auslagen
des Antragstellers trägt die Landeskasse Berlin.
Gründe
Mit dem angefochtenen Beschluß vom 10. November 2008 hat das Landgericht Berlin –
Rehabilitierungskammer – den Antrag des Betroffenen zurückgewiesen, ihm - entgegen
dem Bescheid des Antragsgegners - für die in der Zeit vom 7. Dezember 1987 bis zum
21. Dezember 1987 und vom 15. Januar 1988 bis zum 23. Juni 1988 aufgrund seiner
Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau erlittene rechtsstaatswidrige
Freiheitsentziehung die besondere Zuwendung für Haftopfer („Opferrente“) zuzubilligen.
Die Freiheitsentziehung habe nur fünf Monate und 23 Tage (insgesamt 175 Tage)
betragen. Damit erreiche sie nicht die als Anspruchsvoraussetzung in § 17a Abs. 1 Satz
1 des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern
rechtsstaatswidriger Maßnahmen im Beitrittsgebiet – Strafrechtliches
Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) - in der Fassung vom 17. Dezember 1999 (BGBl. I S.
2664), zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes vom 13. Dezember 2007 (BGBl. I
S. 2904), normierte Dauer von „mindestens sechs Monaten“. Diese Dauer sei gemäß §
31 VwVfG in Verbindung mit § 191 BGB zu berechnen und betrage mithin 180 Tage.
Mit der zulässigen Beschwerde verfolgt der Betroffene sein Anliegen weiter. Das
Landgericht habe einen falschen Maßstab gewählt. Für einen Rückgriff auf Vorschriften
des Verwaltungsverfahrensgesetzes und des Bürgerlichen Gesetzbuches gebe es keinen
Grund; denn im Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz selbst, nämlich in § 17 StrRehaG,
habe der Gesetzgeber einen – den einzigen in diesem Gesetz vorfindbaren –
Berechnungsmaßstab vorgegeben. Nach dieser Vorschrift zählt bei der Berechnung der
für rechtsstaatswidrige Freiheitsentziehung zu zahlende Kapitalentschädigung jeder
angefangene Monat wie ein vollständiger. Diesem Maßstab entsprechend habe er, der
Beschwerdeführer, eine Kapitalentschädigung für sieben Monate erhalten.
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Das Landgericht hat zu Recht eine Verbüßungsdauer
von 180 Tagen verlangt, die der Antragsteller nicht erreicht. In § 17a StrRehaG fordert
das Gesetz eine Berechnung auf der Grundlage der tatsächlich erlittenen Haftdauer und
läßt die Erreichung der Sechs-Monats-Grenze durch das Mitzählen angefangener Monate
als vollständige Monate nicht genügen.
Die Auffassung des Beschwerdeführers hat, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung
allein das Landgericht Halle in seinem Beschluß vom 27. Februar 2008 – 22 Reh (B)
8966/08 – vertreten. Diesen hat das Oberlandesgericht Naumburg mit Beschluß vom 4.
Juni 2008 – 1 Ws Reh 179/08 – (OLGSt StrRehaG § 17a Nr. 1 = NJ 2008, 375) aufgehoben
und – auf derselben Rechtsgrundlage wie das Landgericht Berlin in dem angefochtenen
Beschluß (§ 31 VwVfG in Verbindung mit § 191 BGB) - eine Mindestverbüßungsdauer von
180 Tagen verlangt. Diese Auffassung entspricht inzwischen der ganz herrschenden
Ansicht (vgl. OVG Saarland, Urteil vom 12. Januar 2010 – 3 A 325/09 –; ThürOLG Jena,
Beschlüsse vom 22. September 2009 – 1 Ws Reha 21/09 – und 16. September 2009 – 1
Ws Reha 18/09 –; HessVGH, Beschluß vom 20. August 2009 – 3 A 1852/09.Z – = DÖV
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Ws Reha 18/09 –; HessVGH, Beschluß vom 20. August 2009 – 3 A 1852/09.Z – = DÖV
2009, 1012-Ls; OVG Lüneburg, Beschluß vom 18. Mai 2009 – 4 LA 240/08 - = NdsRPfl
2009, 258; VG Ansbach, Urteile vom 4. Juli 2008 – AN 4 K 08.00399 und 19. Mai 2008 –
AN 4 K 08.00189 -; LG Potsdam ZOV 2008, 95 – sämtlich veröffentlicht in juris). Das
Oberlandesgericht Brandenburg geht hinsichtlich der zeitlichen Voraussetzungen noch
über die 180-Tagesgrenze hinaus und verlangt unter Verweis auf § 15 StrRehaG, § 43
StPO jedenfalls für zusammenhängende Haftzeiten das Erreichen von sechs
vollständigen Monaten, was im für einen Antragsteller ungünstigsten Fall (vgl. die vom
OVG Saarland aaO zu beurteilende Haftzeit) auf 184 Tage hinauslaufen kann.
Der Senat teilt die herrschende Ansicht. Bereits der Wortlaut des § 17a StrRehaG weist
darauf hin, daß die zeitliche Berechnung anders vorgenommen werden muß als in § 17
StrRehaG. Denn der Gesetzgeber hat hier festgeschrieben, daß die Haft „erlitten“ sein
muß, was eher gegen die Anrechnung fiktiver Zeiträume spricht, die bei einer
Berücksichtigung angefangener Monate zwangsläufig anfallen würden. Das
Wortlautargument wird durch den Sinn der Vorschrift gestützt, wie er im
Gesetzgebungsverfahren deutlich geworden ist.
Mit der besonderen Zuwendung sollten solche – bedürftigen - Opfer unterstützt werden,
deren politische Verfolgung eine bestimmte Schwere erreicht hat. Gesetzentwürfe der
Fraktionen „Bündnis 90/Die Grünen“ (BT-Drs. 16/4404) und „Die Linke“ (BT-Drs.
16/4846), in denen nicht nur zeitliche Maßstäbe aufgestellt wurden, sondern auch das
individuelle Schicksal (etwa besonders belastende Verhöre, Stasi-Haft, Übergriffe des
Wachpersonals, Zersetzungsmaßnahmen) in einer Gesamtwürdigung berücksichtigt
werden sollte, haben sich parlamentarisch nicht durchgesetzt. Gesetz wurde derjenige
Vorschlag, der die Schwere allein an der zeitlichen Dauer der erlittenen Haft festmachte
(BT-Drs. 16/4842 und 16/5532). Trotz der durch diese pauschale - und durch ihre
„Fallbeilwirkung“ zur Verfassungsmäßigkeit derartiger Wirkungen, etwa in § 32 Abs. 4
Satz 2 EStG, vgl. BVerfG, Beschluß vom 6. April 2009 – 2 BvR 1874/08 -) auch rigide, bei
manchem Betroffenen verständliche Enttäuschung auslösende - Beurteilung
verursachte Ausgrenzung einzelner Opfer haben die Gerichte diese Entscheidung des
Souveräns zu beachten.
Dafür, wie diese Dauer zu berechnen ist, liefert das StrRehaG unmittelbar keine
Vorgaben (vgl. OVG Saarland aaO). Der Rückgriff auf § 17 StrRehaG verbietet sich aus
den vorgenannten Gründen. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist er auch
nicht durch das Fehlen einer anderweitigen Berechnungsregel im StrRehaG zwingend
vorgegeben. Denn beide Vorschriften sind in ihrer Struktur nicht vergleichbar. In § 17
StrRehaG dient das Abstellen auf angefangene Kalendermonate nicht der Definition
einer Anspruchsgrundlage, sondern der Zubilligung einer Rechtsfolge. Die
Kapitalentschädigung erforderte, da sie einmalig auszuzahlen ist, kein vergleichbar
großes Kostenbewußtsein wie die Zubilligung einer lebenslang zu zahlenden Rente. Der
Gesetzgeber gestaltete die Regelung des § 17 StrRehaG daher zugunsten der
Empfänger großzügig, wobei er den Verwaltungsaufwand gering hielt, weil er auf die
Berechnung taggenauer Entschädigungen verzichtete.
Anders liegt es bei § 17a StrRehaG. Diese Vorschrift öffnet für finanziell Bedürftige durch
die Erreichung der Mindesthaftzeit das Tor zu einer lebenslangen
Unterstützungsleistung. Die Begrenzung auf solche Opfer, die mindestens sechs Monate
Freiheitsentzug erlitten haben, diente der Begrenzung der Zahl der
Anspruchsberechtigten. Daraus folgt, daß es auf fiktive Haftzeiten nicht ankommen
kann.
Allein streitig ist in der Rechtsprechung nur noch, ob der herrschenden Ansicht oder dem
OLG Brandenburg zu folgen ist, sowie die Frage, wie sich bei einem zu sechs Monaten
Verurteilten, der die Strafe im Sinne der Vollzugsvorschriften voll verbüßt hat, die um ein
oder zwei Tage vorzeitige Entlassung an einem Wochenende nach Vollzugsgrundsätzen
(vgl. jetzt: § 16 Abs. 2 StVollzG) auswirkt (vgl. Sächsisches OVG, Beschluß vom 29. Juli
2009 – 2 A 102/09 -). Beide Fragen stellen sich im Streitfall nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 14 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, 25 Abs. 1 Satz 4
StrRehaG.
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