Urteil des KG Berlin vom 13.03.2017

KG Berlin: beweiswürdigung, abbiegen, kollision, kreuzung, fahrzeugführer, ampel, geschwindigkeit, sammlung, quelle, link

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Gericht:
KG Berlin 12.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 U 223/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 5 Abs 3 Nr 1 StVO, § 9 Abs 1 S
1 StVO, § 7 StVG, § 17 StVG
Haftungsabwägung bei Verkehrsunfall: Kollision eines
Überholers mit einem Linksabbieger
Leitsatz
Kommt es im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Linksabbiegen
zu einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug, spricht der Beweis des ersten
Anscheins dafür, dass der Linksabbieger seine Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 1 StVO verletzt
hat.
Der Fahrtrichtungsanzeiger ist dann "rechtzeitig" i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO betätigt, wenn
sich der Verkehr auf das Abbiegen einstellen kann: maßgeblich dafür ist weniger die
Entfernung vom Abbiegepunkt als vielmehr die Zeit zwischen Anzeigebeginn und Abbiegen
unter Berücksichtigung der Fahrgeschwindigkeit.
Eine "unklare Verkehrslage", die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO das Überholen verbietet , liegt
vor, wenn nach allen Umständen mit ungefährdetem Überholen nicht gerechnet werden darf:
sie ist insbesondere dann gegeben, wenn sich nicht sicher beurteilen lässt, was
Vorausfahrende sogleich tun werden; dies ist der Fall, wenn an einem vorausfahrenden oder
stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, dies der nachfolgende
Verkehr erkennen konnte und dem nachfolgenden überholenden Fahrzeugführer noch ein
angemessenes Reagieren - ohne Gefahrenbremsung - möglich war.
Dagegen liegt eine unklare Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende
Fahrzeug verlangsamt, selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet
haben sollte.
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522
Absatz 2 ZPO zurückzuweisen.
Gründe
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Der Senat folgt den im Wesentlichen
zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, die durch die
Berufungsbegründung nicht entkräftet worden sind. Ergänzend wird auf Folgendes
hingewiesen:
I.
Nach § 513 Absatz 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die
angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die
nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung
rechtfertigen. Beides ist nicht der Fall.
Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Landgericht die Klage in der
angefochtenen Entscheidung abgewiesen.
1. Zutreffend geht das Landgericht zu Lasten der Klägerin von einem Anscheinsbeweis
aus. Kommt es nämlich im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit
dem Linksabbiegen zu einer Kollision mit einem links überholenden Fahrzeug, spricht der
Beweis des ersten Anscheins für eine Sorgfaltspflichtverletzung des Linksabbiegers
(ständige Rechtsprechung, vgl. Senat VM 1998, 34 Nr. 43; DAR 2002, 557 = VRS 103,
403 = KGR 2003, 3 = NZV 2003, 89 = VersR 2003, 259 (Ls.) = MDR 2003,507; MDR
2005, 806 = VRS 108, 410 = KGR 2005, 665 = NZV 2005, 413).
Die hiergegen von der Klägerin vorgebrachten Argumente vermögen nicht zu
überzeugen. Eine Beweislastumkehr greift zu Lasten der Beklagten nicht ein. Der
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überzeugen. Eine Beweislastumkehr greift zu Lasten der Beklagten nicht ein. Der
Anscheinsbeweis ist Folge der besonderen Gefährlichkeit des Linksabbiegens, die sich
weder durch das prozessuale Verhalten der Beklagten noch das Aussageverhalten des
Zeugen G ändert.
2. Zutreffend geht das Landgericht davon aus, dass es der Klägerin nicht gelungen ist,
diesen Anscheinsbeweis zu entkräften. Die Beweiswürdigung durch das Landgericht ist
nicht zu beanstanden.
a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die
vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit
nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der
entscheidungserheblichen Feststellungen begründen.
Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Gericht des ersten Rechtszuges bei der
Tatsachenfeststellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO
gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht vom Ergebnis der
Beweiswürdigung abzuweichen (Senat, Urteil vom 8. Januar 2004 - 12 U 184/02 - KGR
2004, 269; Senat, Urteil vom 10. Mai 2004 – 12 U 57/03-; vgl. auch KG [22. ZS], KGR
2004, 38 = MDR 2004, 533).
§ 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden.
Das bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze
und ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im
Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf.
So darf er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder
trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung
feststellen (Zöller/Greger, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 286 Rdnr. 13; Senat, Urteil vom 24.
September 1998, - 12 U 4638/97; Senat, NZV 2004, 355; ).
Die leitenden Gründe und die wesentlichen Gesichtspunkte für seine
Überzeugungsbildung hat das Gericht nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Dabei ist es
nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen und Beweismittel ausführlich
einzugehen; es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende
Beurteilung stattgefunden hat (Thomas/Putzo, ZPO, 30. Aufl. 2009, § 286 Rdnr. 3, 5).
b) An diese Regeln der freien Beweiswürdigung hat das Landgericht sich im
angefochtenen Urteil gehalten. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht
aufgrund der Aussage des Zeugen L nicht davon überzeugt war, dass dieser Zeuge den
hohen Sorgfaltspflichten eines Linksabbiegers genügt hat. Es hat auf Seite 5f des Urteils
dargelegt, dass und warum es die Aussage dieses Zeugen nicht für ausreichend
erachtet. Dies genügt den Anforderungen an eine Beweiswürdigung.
Allein daraus, dass die Klägerin selbst das Beweisergebnis anders wertet, folgt kein
Rechtsfehler des Landgerichts (Senat, Beschluss vom 16. November 2006 – 12 U 223/05
-).
c) Entgegen der Ansicht der Klägerin ist der Zeuge L nicht erneut zu befragen. Wenn
die Klägerin meint, dass die Vernehmung nicht ausreichend war, hätte sie dem Zeugen
in der Vernehmung vor dem Landgericht ergänzende Fragen stellen können und
müssen. Im Übrigen durfte das Landgericht aufgrund des protokollierten
Aussageverhaltens davon ausgehen, dass es diesem Zeuge nicht möglich war, zur
Dauer der Betätigung des linken Blinkers präzise Angaben zu machen.
d) Der Senat folgt der Beweiswürdigung auch in der Sache.
aa) Zu Recht geht das Landgericht davon aus, dass aufgrund der
Beweisaufnahme nicht feststeht, dass der Zeuge L der doppelten Rückschaupflicht
genügt hat. Der Zeuge hat eine Rückschau zunächst überhaupt nicht erwähnt und erst
auf Nachfrage ausgesagt, er habe “auch noch einen Schulterblick gemacht”.
bb) Entgegen den Ausführungen der Klägerin steht aufgrund der Aussage des
Zeugen L nicht fest, dass dieser den Fahrrichtungsanzeiger rechtzeitig betätigt hat. Der
Fahrtrichtungsanzeiger ist dann “rechtzeitig” i. S. d. § 9 Abs. 1 Satz 1 StVO betätigt,
wenn sich der Verkehr auf das Abbiegen einstellen kann. Maßgeblich dafür ist weniger
die Entfernung vom Abbiegepunkt als vielmehr die Zeit zwischen Anzeigebeginn und
Abbiegen unter Berücksichtigung der Fahrgeschwindigkeit. (Senat, MDR 2005, 806 =
VRS 108, 410 = KGR 2005, 665 = NZV 2005, 413). Der Aussage des Zeugen L ist aber
nicht zu entnehmen, wie lange vor dem Unfall er den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt
hat. Da der Aussage des Zeugen L auch nicht zu entnehmen ist, mit welcher
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hat. Da der Aussage des Zeugen L auch nicht zu entnehmen ist, mit welcher
Geschwindigkeit er vor dem Unfall “gerollt” ist bzw. wie lange er wegen des
Gegenverkehrs an der Kreuzung gestanden hat, lässt sich entgegen der Ansicht der
Klägerin auch aus den Angabe des Zeugen nicht die Dauer der Betätigung des
Fahrrichtungsanzeigers berechnen.
e) Die Voraussetzungen eine “unklare Verkehrslage”, die nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO
das Überholen verbietet, lagen hier deshalb nicht vor. Eine solche unklare Verkehrslage
ist nur gegeben, wenn an einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke
Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, dies der nachfolgende Verkehr erkennen konnte
und dem nachfolgenden überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes
Reagieren – ohne Gefahrenbremsung – möglich war. Dagegen liegt eine unklare
Verkehrslage nicht schon dann vor, wenn das vorausfahrende Fahrzeug verlangsamt,
selbst wenn es sich bereits etwas zur Fahrbahnmitte eingeordnet haben sollte (ständige
Rechtsprechung, vgl. Senat NJW-RR 1987, 1251; NZV 1993, 272: DAR 2002, 557 = VRS
103, 403 = KGR 2003, 3 = NZV 2003, 89 = VersR 2003, 259 (Ls.) = MDR 2003,507).
Vorliegend steht weder fest, dass der Zeuge L den Fahrtrichtungsanzeiger
rechtzeitig betätigt hat noch dass er das Fahrzeug zur Fahrbahnmitte eingeordnet hat.
Die Aussage des Zeugen, ein solches Einordnen zur Fahrbahnmitte sei in der
Bergmannstraße nicht möglich, ist unzutreffend. Es ist gerichtbekannt, dass die
Bergmannstraße in Höhe der kreuzenden Nostitzstraße ausreichend breit ist, um ein
deutliches Einordnen zur Fahrbahnmitte zu ermöglichen. Dies auch dann, wenn an
beiden Fahrbahnrändern Fahrzeuge geparkt sind. Der Abstand zwischen den geparkten
Fahrzeugen beträgt ca. 8,50 m, wie sich aus der erstinstanzlich eingereichten Anlage B1
ergibt.
f) Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich direkt vor der Kreuzung
Bergmannstraße / Nostitzstraße auf der Bergmannstraße ein ampelgeregelter
Fußgängerüberweg befindet. Dies ist gerichtsbekannt und ergibt sich im Übrigen aus der
Anlage B1. Der Zeuge L irrt deshalb, wenn er aussagt, vor der kreuzenden Nostitzstraße
befände sich keine Ampel.
II.
Im Übrigen hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung, und eine Entscheidung des
Senats zur Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung ist nicht erforderlich.
III.
Es wird daher angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.
IV.
Es ist beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf (2.725,79 + 261,95 =)
2.987,74 € festzusetzen.
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