Urteil des FG Saarland vom 06.08.2010

FG Saarbrücken: absolute verjährungsfrist, berechnung der frist, rücknahme, grobe fahrlässigkeit, abrechnung, steuerfestsetzung, rechtswidrigkeit, einspruch, rechtssicherheit, behörde

FG Saarbrücken Entscheidung vom 6.8.2010, 2 K 1207/10
Beginn der Zahlungsverjährung - Änderung einer Anrechnungsverfügung nach Ablauf der
fünfjährigen Zahlungsverjährungsfrist
Leitsätze
Bei einer überhöhten Steuererstattung entsteht der Rückzahlungsanspruch des
Finanzamts nur dann mit der Auszahlung, wenn die Steuererstattung nicht mit der
Anrechnungsverfügung übereinstimmt. Auch eine fehlerhafte und zu einer überhöhten
Steuererstattung führende Anrechnungsverfügung stellt einen rechtlichen Grund im Sinne
des § 37 S. 2 AO dar.
Tenor
Die Klage wird als unbegründet abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden den Klägern auferlegt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger wenden sich gegen die Rückzahlung zu Unrecht erstatteter Lohnsteuerbeträge.
Die Kläger waren in dem streitigen Veranlagungszeitraum 1997 verheiratet und wurden
vom Beklagten gemäß § 26b EStG zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie
bezogen jeweils Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Beklagte setzte die
Einkommensteuer 1997 mit Bescheid vom 23. Februar 1998 (Rbh-Akten I Bl. 12-14) auf
14.458 DM fest. Nach Anrechnung der einbehaltenen Lohnsteuerbeträge ergab sich
hieraus eine Einkommensteuererstattung in Höhe von 3.631 DM zuzüglich Nebenabgaben.
Mit Bescheid vom 7. Juli 1999 (Rbh-Akten I Bl. 18-20) änderte der Beklagte die
vorgenannte Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und setzte die
Einkommensteuer auf 15.116 DM fest. Nach der unveränderten Anrechnung der
Steuerabzugsbeträge und der Abrechnung mit den bereits erstatteten Beträgen ergab sich
hieraus eine Nachzahlung in Höhe von 658 DM zuzüglich Nebenabgaben. Auf den Einspruch
der Kläger vom 5. August 1999 erließ der Beklagte am 30. Juli 2002 einen abermals
geänderten, dem Einspruchsbegehren stattgebenden Einkommensteuerbescheid 1997
(Rbh-Akten Bl. 31-33), mit dem die Einkommensteuer auf 14.458 DM herabgesetzt
wurde. Wegen einer Umstellung der Datenverarbeitung des Beklagten zum 1. Januar 2000
waren zur Anfertigung des Abhilfebescheids sämtliche Eingabedaten neu zu erfassen. Bei
dieser Datenerfassung wurde die für den Kläger einbehaltene Lohnsteuer versehentlich mit
dem 10-fachen Wert (153.550 DM statt 15.355 DM) eingegeben (Rbh-Akten I Bl. 33).
Unter Einbeziehung der zutreffend eingegebenen Lohnsteuer der Klägerin und nach
Aufrundung der anzurechnenden Lohnsteuer auf volle DM-Beträge wurde auf die in dem
Änderungsbescheid festgesetzte Einkommensteuer unzutreffend einbehaltene Lohnsteuer
in einer Gesamthöhe von 156.285 DM angerechnet. Die Anrechnung von
Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer erfolgte zutreffend mit den ursprünglichen
Beträgen. Die fehlerhafte Eingabe der einbehaltenen Lohnsteuer führte nach Abrechnung
mit den bisher erstatteten bzw. gezahlten Beträgen zu einer weiteren
Einkommensteuererstattung in Höhe von 70.995 EUR und zur Festsetzung von
Erstattungszinsen nach § 233a AO in Höhe 14.182 EUR. Bei zutreffender Anrechnung der
Lohnsteuer hätte sich eine Einkommensteuererstattung in Höhe von 336 EUR sowie eine
Festsetzung von Erstattungszinsen in Höhe von 58 EUR (35 Monate x 0,5 % x 336 EUR)
ergeben. Der sich aus der fehlerhaften Anrechnung ergebende Erstattungsbetrag wurde
auf das von den Klägern in ihrer Einkommensteuererklärung 1997 angegebene Bankkonto
überwiesen.
Im Rahmen einer 2008 durchgeführten Überprüfung von hohen Auszahlungsbeträgen
durch die zentrale Controlling- und Revisionsstelle des Landesamts für zentrale Dienste
wurde der Beklagte auf die unrichtige Erfassung der anzurechnenden Lohnsteuer
aufmerksam gemacht. Der Beklagte erließ daraufhin am 7. November 2008 gegenüber
den zwischenzeitlich geschiedenen Klägern als Gesamtschuldnern eine geänderte
Anrechnungsverfügung zur Einkommensteuer 1997 (Rbh-Akten II Bl. 22-27). Dabei wurde
der zu Unrecht erstattete Steuerbetrag in Höhe von 70.657,98 EUR zurückgefordert und
zum 10. Dezember 2008 fällig gestellt. Die Änderung der Abrechnung stützte der Beklagte
auf § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO. Verbunden mit der geänderten Abrechnung erfolgte eine auf §
233a Abs. 5 AO gestützte Neufestsetzung der Zinsen zur Einkommensteuer 1997. Die
Zinsen wurden hierbei auf 26.441 EUR festgesetzt, was nach Abrechnung mit den bisher
erstatteten Zinsen zu einer Nachforderung in Höhe von 40.623 EUR führte.
Mit Schreiben vom 9. bzw. 25. November 2008 legten die Kläger Einsprüche gegen die
geänderte Anrechnungsverfügung ein. Der Beklagte behandelte diese als Antrag auf
Erteilung eines Abrechnungsbescheides nach § 218 Abs. 2 AO. Mit Abrechnungsbescheid
vom 15. Juli 2009 (Rbh-Akten Bl. 62-67) stellte der Beklagte die Rechtmäßigkeit der
geänderten Anrechnungsverfügung vom 7. November 2008 fest. Den hiergegen
gerichteten Einspruch vom 16. Juli 2009 (Rbh-Akten II Bl. 68-69) wies der Beklagte mit
Einspruchsentscheidung vom 30. März 2010 (Rbh-Akten II BI. 83-90) als unbegründet
zurück.
Am 14. April 2010 haben die Kläger Klage erhoben. Sie beantragen sinngemäß (Bl. 1), die
geänderte Anrechnungsverfügung zur Einkommensteuer 1997 vom 7. November 2008
und den Abrechnungsbescheid vom 15. Juli 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung
vom 30. März 2010 aufzuheben.
Die Kläger sind der Auffassung, der Beklagte habe die Beträge zu Unrecht zurückgefordert.
Die Rücknahme der ursprünglichen Anrechnungsverfügung sei nicht fristgerecht im Sinne
des § 130 Abs. 3 AO erfolgt. Denn dem Beklagten seien bereits mit Ergehen des
Einkommensteuerbescheides 1997 am 30. Juni 2002 alle Tatsachen bekannt gewesen, die
für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes relevant gewesen seien.
Darüber hinaus habe die vorgesetzte Dienstbehörde des Beklagten bereits vor dem
Tätigwerden der zentralen Controlling- und Revisionsstelle des Landesamts für zentrale
Dienste von dem Vorfall Kenntnis erlangt. Im Übrigen sei ein etwaiger Erstattungs-
beziehungsweise Rückforderungsanspruch des Beklagten durch Zahlungsverjährung nach §
228 AO erloschen. Denn der Rückforderungsanspruch sei bereits mit seiner Entstehung in
2002 fällig geworden. Nach der neueren Rechtsprechung des BFH (BFH vom 12. Februar
2008 VII R 33/06, BStBl II 2008, 504; vom 27. Oktober 2009 VII R 51/08, BStBl II 2010,
382) stelle die in § 228 AO normierte Fünfjahresfrist eine absolute Verjährungsfrist dar.
Die Kläger sind zudem der Auffassung, dass ein auf § 37 Abs. 2 AO basierender
Erstattungsanspruch nicht der Verzinsung nach § 233a AO unterliege.
Der Beklagte beantragt, die Klage als unbegründet abzuweisen.
Die Rücknahme sei innerhalb der Frist des § 130 Abs. 3 AO erfolgt. Entscheidend für den
Fristbeginn sei dabei nicht die Kenntnis der zur Rücknahme führenden Tatsachen, sondern
die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des zur Entscheidung berufenen Sachbearbeiters der
zuständigen Behörde. Im Streitfall habe der Beklagte erst am 4. August 2008 die
Rechtswidrigkeit der mit dem Steuerbescheid vom 30. Juli 2002 verbundenen
Anrechnungsverfügung erkannt. Die Änderung der Anrechnungsverfügung sei am 7.
November 2008 und damit innerhalb dieser Frist erfolgt. Im Übrigen könne die Berichtigung
der Anrechnungsverfügung auch auf die Regelung des § 129 AO gestützt werden, da die
fehlerhafte Lohnsteueranrechnung ganz zweifelsfrei auf ein mechanisches Versehen bei der
Dateneingabe zurückzuführen sei.
Der Rückforderungsanspruch sei auch nicht zahlungsverjährt. Denn eine wirksame
Entscheidung über das Bestehen des Rückerstattungsanspruchs sei erst durch die
geänderte Anrechnungsverfügung vom 7. November 2008 erfolgt. Erst diese habe die
Verjährungsfrist des § 228 AO ausgelöst.
Der Beklagte habe die geänderte Anrechnungsverfügung vom 7. November 2008 zu Recht
mit einer geänderten Zinsfestsetzung verbunden. Denn gemäß § 233a Abs. 5 AO sei die
Zinsfestsetzung zu ändern, wenn die Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen
zurückgenommen werde. Im Übrigen hätten die Kläger die geänderte Zinsfestsetzung nicht
mit Einspruch angefochten.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die beigezogenen
Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1.
Einkommensteuer 1997 und der Abrechnungsbescheid vom 15. Juli 2009 sind rechtmäßig.
Die ursprüngliche Anrechnungsverfügung konnte gemäß § 130 Abs. 2 Satz 3 Nr. 4 AO
zurückgenommen und dahingehend korrigiert werden, dass der zu Unrecht erstattete
Steuerbetrag in Höhe von 70.657,98 EUR zurückgefordert wurden. Dem hat der Beklagte
in dem angefochtenen Abrechnungsbescheid inhaltlich Rechnung getragen.
a)
2 Nr. 4 AO kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die
Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn seine Rechtswidrigkeit
dem Begünstigten bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht bekannt war.
Diese Regelung gilt auch für Anrechnungsverfügungen. Bei Anrechnungsverfügungen
handelt es sich um Verwaltungsakte, deren Außenwirkung sich nach dem Ergebnis der
Anrechnung in einem Leistungsgebot oder in einer Erstattung äußert (BFH vom 16.
Oktober 1986 VII R 159/83, BStBl II 1987, 405, 407).
Die die Kläger begünstigende Anrechnungsverfügung zur Einkommensteuer 1997 vom 30.
Juli 2002 war – wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist – unzutreffend und mithin
rechtswidrig. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Rechtswidrigkeit den Klägern
bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt war. Denn die fehlerhafte Eingabe der
einbehaltenen Lohnsteuer führte nach Abrechnung mit den bisher erstatteten bzw.
gezahlten Beträgen zu einer weiteren Einkommensteuererstattung in Höhe von 70.995
EUR, zur Festsetzung von Erstattungszinsen nach § 233a AO in Höhe 14.182 EUR und zu
einer Gutschrift dieser Beträge auf dem von den Klägern in ihrer
Einkommensteuererklärung 1997 angegebene Bankkonto. Selbst bei nur oberflächlicher
Prüfung musste den Klägern bewusst gewesen sein, dass eine Minderung der
Einkommensteuer im Rahmen des Einspruchsverfahrens in Höhe von 658 DM nicht zu
einer derartigen Erstattung führen konnte. Soweit die Klägerin vorträgt, aufgrund ihrer
seinerzeitigen familiären Situation keine Kenntnis von der Gutschrift erhalten zu haben,
muss sie sich grobe Fahrlässigkeit entgegen halten lassen.
b)
die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nur innerhalb eines
Jahres von dem Zeitpunkt an zulässig, in dem die Finanzbehörde von den die Rücknahme
rechtfertigenden Tatsachen Kenntnis erhalten hat. Maßgebend ist dabei die Erkenntnis des
zur Entscheidung berufenen Sachbearbeiters der zuständigen Behörde (vgl. BFH vom 28.
September 1993 VII R 107/92, BFH/NV 1994, 751).
Im Streitfall hat der Beklagte als für die Durchführung der Besteuerung zuständiges
Wohnsitzfinanzamt nach § 19 Abs. 1 AO am 4. August 2008 durch einen Hinweis der
Innenrevision beim Landesamt für Zentrale Dienste die Rechtswidrigkeit der mit dem
Steuerbescheid vom 30. Juli 2002 verbundenen Anrechnungsverfügung erkannt. Dieser
Zeitpunkt der Kenntnisnahme hat die Jahresfrist des § 130 Abs. 3 AO in Gang gesetzt. Die
Änderung der Anrechnungsverfügung ist am 7. November 2008 und damit innerhalb dieser
Frist erfolgt.
Soweit die Kläger vortragen, alle anspruchsbegründenden Tatsachen seien dem Finanzamt
bereits bei Erlass der ursprünglichen Anrechnungsverfügung bekannt gewesen, ist dies für
die Berechnung der Frist unbeachtlich, da es dabei auf die Kenntnis der rechtswidrigen
Umsetzung der Tatsachen ankommt (vgl. BVerwG vom 19. Dezember 1984 GrS 1 und
2/84, NJW 1985, 819 und daran anschließend die ständige Rechtsprechung des BFH, vgl.
BFH vom 28. September 1993 VII R 107/92, BFH/NV 1994, 751, vom 21. Oktober 1999
VII B 133/99, BFH/NV 2000, 490, vom 9. Dezember 2008 VII R 43/07, BStBl II 2009,
344).
c)
Gebrauch gemacht. Dieses ist gerichtlich nur auf Ermessensfehler, das heißt daraufhin
überprüfbar, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind, oder ob von
dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise
Gebrauch gemacht wurde (§ 102 FGO).
Im Streitfall sind keine Ermessenfehler erkennbar. Besteht - wie im Streitfall - kein Grund,
das Vertrauen zu schützen, ist das Ermessen im allgemeinen im Interesse von
Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung auf eine Rücknahme reduziert (vgl.
Kruse, in: Tipke/Kruse, AO, FGO, § 130 AO, Rn. 39). Angesichts der erkennbaren
Unrichtigkeit der Steueranrechnung war die Ausübung des durch die Vorgaben des § 130
Abs. 2 Nr. 4 AO intendierten Ermessens im Streitfall nicht weiter begründungsbedürftig
(vgl. BFH vom 26. Juni 2007 VII R 35/06, BStBl II 2007, 742).
d)
AO unterliegen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis einer besonderen
Zahlungsverjährung. Die Verjährungsfrist beträgt fünf Jahre. Nach § 229 Abs. 1 AO beginnt
die Verjährung mit Ablauf des Kalenderjahres, indem der Anspruch erstmalig fällig
geworden ist. Sie beginnt jedoch nicht vor Ablauf des Kalenderjahres, in dem die
Festsetzung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis (bzw. deren Aufhebung,
Änderung oder Berichtigung) wirksam geworden ist.
Verfügungen des Finanzamts über die Abrechnung bzw. Anrechnung von entrichteten
Vorauszahlungen oder einbehaltenen Steuerabzugsbeträgen auf die im Wege der
Veranlagung festgesetzte Jahressteuerschuld gehören zum Steuererhebungsverfahren. Sie
werden nur aus Zweckmäßigkeitsgründen mit der Steuerfestsetzung in einem Bescheid
verbunden. Trotz ihrer technischen Zusammenfassung handelt es sich der Sache nach bei
dem Steuerbescheid und der Abrechnungs- (Anrechnungs-) Verfügung um zwei Bescheide,
die auch in ihrer rechtlichen Beurteilung voneinander zu trennen sind und hinsichtlich der
Bestandskraft, Rücknahme und Änderbarkeit unterschiedlichen Vorschriften unterliegen. Sie
sind demzufolge auch im Rahmen der Verjährung unterschiedlich zu behandeln.
Der hier streitige Rückforderungsanspruch des Beklagten nach § 37 Abs. 2 AO ist erstmals
durch die geänderte Anrechnungsverfügung zur Einkommensteuer 1997 vom 7. November
2008 fällig geworden und nicht durch den geänderten Einkommensteuerbescheid 1997
vom 30. Juli 2002. Denn der letztgenannte Bescheid, mit dem die Einkommensteuer 1997
auf 14.458 DM festgesetzt worden war, war isoliert betrachtet nicht Grundlage des
(unrichtigen) Steuererstattungsanspruchs der Kläger. Dieser entstand nicht durch die
Steuerfestsetzung, sondern durch die aufgrund eines mechanischen Versehens
unzutreffende Anrechnungsverfügung. Weder der geänderte Einkommensteuerbescheid
1997 vom 30. Juli 2002 noch die Anrechnungsverfügung zu diesem
Einkommensteuerbescheid führten zum Entstehen des streitigen
Rückforderungsanspruchs.
Der Rückforderungsanspruch des Beklagten konnte vielmehr erst mit der nach § 130 Abs.
2 Nr. 4 AO geänderten Anrechnungsverfügung vom 7. November 2008 entstehen, da erst
zu diesem Zeitpunkt die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 37 Abs. 2 AO vorlagen.
§ 37 Abs. 2 AO setzt eine Leistung ohne rechtlichen Grund voraus. Wann dies der Fall ist,
ist umstritten (vgl. zum Theorienstreit etwa Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, FGO, § 37 AO Rn.
27 ff). Die Rechtsprechung des BFH ist uneinheitlich und zum Teil widersprüchlich. Teilweise
wird die Auffassung vertreten, der rechtliche Grund fehle, wenn nach materiellem Recht
kein entsprechender Anspruch bestehe (sog. materiellen Rechtsgrundtheorie, Nachweise
bei Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, FGO, § 37 AO Rn. 27 ff). Demgegenüber sieht die sog.
formelle Rechtsgrundtheorie in der die materiellen Rechtslage konkretisierenden
Steuerfestsetzung den Rechtsgrund für die Vermögensverschiebung. Die Tilgung einer in
einem wirksamen Steuerbescheid festgesetzten Steuer sei auch dann nicht ohne
rechtlichen Grund erfolgt, wenn der Bescheid nicht der materiellen Rechtslage entspreche
(Nachweise bei Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, FGO, § 37 AO Rn. 27 ff). Wenngleich der
Ansatz beider Theorien völlig unterschiedlich ist, kommen sie in der Praxis insoweit zu
gleichen Ergebnissen, als auch nach der materiellen Rechtsgrundtheorie der Grundsatz,
dass jeder ohne rechtlichen Grund erfüllte Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zu
erstatten ist, durch die Bestandskraft der Festsetzung dieses Anspruchs begrenzt wird. Ist
eine Zahlung nach materiellem Recht "ohne rechtlichen Grund" erfolgt, so kann der
Erstattungsanspruch nur dann mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn der
entsprechende Bescheid nach formellem Recht aufgehoben oder geändert werden kann
(vgl. etwa BFH vom 29. Oktober 2002 VII R 2/02, BStBl II 2003, 43; Drüen, in:
Tipke/Kruse, AO, FGO, § 37 AO Rn. 34). Danach entsteht ein Rückzahlungsanspruch bei
Leistungen, denen ein materiell rechtswidriger Verwaltungsakt zugrunde lag, erst mit
einem abändernden oder aufhebenden Bescheid oder einem Abrechnungsbescheid nach §
218 Abs. 2 AO.
Im Streitfall stand die (fehlerhafte) Anrechnungsverfügung vom 30. Juli 2002 dem
Rückforderungsanspruch des Beklagten nach § 37 Abs. 2 AO entgegen.
Da der Rückforderungsanspruch des Beklagten nach § 37 Abs. 2 AO nicht vor seinem
Entstehen fällig werden konnte, konnte die Frist zur Zahlungsverjährung daher gemäß §
229 Abs. 1 Satz 2 AO erst zu diesem Zeitpunkt in Gang gesetzt werden.
Diese Betrachtung widerspricht den von den Klägern zitierten Entscheidungen des BFH
(BFH vom 12. Februar 2008 VII R 33/06, BStBl II 2008, 504; vom 27. Oktober 2009 VII R
51/08, BStBl II 2010, 382) nicht. Der BFH hat in der letztgenannten Entscheidung zwar die
bis dahin bestehende Auffassung aufgegeben, wonach die festgesetzte Einkommensteuer
bei Ausweis einer zu geringen Abschlusszahlung insoweit nicht fällig werde und damit nicht
Zahlungsverjähren könne (BFH vom 18. Juli 2000 VII R 32, 33/99, BStBl II 2001, 133). In
diesem Fall stelle die in § 228 AO normierte Fünfjahresfrist eine absolute Verjährungsfrist
dar. Dies gelte nicht nur für die vom BFH mit Urteil vom 12. Februar 2008 (BFH vom 12.
Februar 1008 VII R 33/06, BStBl II 2008) entschiedene Fallkonstellation der nachträglichen
Anrechnung durch Steuerabzug entrichteter Beträge und einer daraus folgenden
Verringerung der Abschlusszahlung, sondern könne auch eine Korrektur betreffen, die zu
einer Erhöhung der Abschlusszahlung führe (BFH vom 27. Oktober 2009 VII R 51/08, BStBl
II 2010, 382).
Im Streitfall ging es indessen nicht um die Fälligkeit festgesetzter Einkommensteuer,
sondern um eine aufgrund eines mechanischen Versehenes fehlerhafte
Abrechnungsverfügung, die nur in einem äußeren Zusammenhang mit der
Steuerfestsetzung stand. Anders als in dem vom BFH entschiedenen Fall erfolgte im
Streitfall eine materiell-rechtliche Prüfung des Steuererstattungsanspruchs der Kläger
erstmals – und damit konstitutiv - mit der geänderten Anrechnungsverfügung vom 7.
November 2008. Der Gedanke des BFH, wonach das Institut der Zahlungsverjährung im
Erhebungsverfahren dafür sorgen soll, dass nach Ablauf einer angemessenen Frist
endgültig Rechtssicherheit darüber einkehrt, was der Steuerpflichtige aufgrund der
Steuerfestsetzung unter Berücksichtigung anzurechnender Vorauszahlungen und
Abzugssteuern noch zu zahlen hat (BFH vom 27. Oktober 2009 VII R 51/08, BStBl II 2010,
382), kann nicht so verstanden werden, dass ein Anspruch bereits Zahlungsverjähren
kann, bevor er überhaupt entstanden ist. Abgesehen davon führte die Betrachtung des
BFH, würde sie auch für Fallkonstellationen wie diese gelten, dazu, dass die Frist des § 130
Abs. 3 AO, die ihrerseits im Rahmen der Änderungsvorschrift des § 130 AO dem Gedanken
des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit Rechnung trägt, letztlich ausgehöhlt
würde. Denn wäre der BFH so zu verstehen, dass bereits die Änderungsmöglichkeit nach §
130 AO nicht nur der dort normierten Frist unterliegt, sondern zugleich der
Zahlungsverjährungsfrist, wäre die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsakts nach Ablauf von fünf Jahren auch bei späterer Kenntnis der Finanzbehörde
nicht mehr zulässig. Eine derartige Einschränkung ist nicht nur dem Gesetz nicht zu
entnehmen, sie würde auch in unzulässiger Weise Festsetzungs- und Erhebungsverfahren
vermengen.
e)
Recht auch den Zinsbescheid geändert hat. Denn die Kläger haben nach Lage der Akten
gegen die Zinsfestsetzung keinen Einspruch eingelegt. In dem Einspruchsschreiben vom
25. November 2008 haben die Kläger ausdrücklich nur Einwendungen gegen die geänderte
Anrechnung erhoben und den Erlass eines Abrechnungsbescheids nach § 218 Abs. 2 AO
beantragt. Die mit Bescheid vom 7. November 2008 geänderte Zinsfestsetzung ist mithin
in Bestandskraft erwachsen.
2.
Der Senat hat die Revision zur Klärung der Frage zugelassen, ob die Rechtsprechung des
BFH, wonach eine Änderung der Anrechnungsverfügung nach Ablauf der
Zahlungsverjährungsfrist unzulässig sei (BFH vom 27. Oktober 2009 VII R 51/08, BStBl II
2008, 504), auch für den Fall der Rücknahme einer Anrechnungsverfügung unter
Berücksichtigung lediglich fiktiver Steueranrechnungsbeträge gilt (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).