Urteil des FG Saarland vom 12.02.2009

FG Saarbrücken: sinn und zweck der norm, erlass, aufrechnung, verzinsung, gewinnausschüttung, ermessensspielraum, anfang, vollstreckung, verfügung, rechtfertigung

FG Saarbrücken Urteil vom 12.2.2009, 2 K 2058/04
Erlass von Nachzahlungszinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen
Leitsätze
Der Erlass von Nachzahlungszinsen auf eine Körperschaftsteuerschuld kann dann geboten
sein, wenn dem Fiskus aus demselben Vorgang von dem Steuerpflichtigen angemeldete
und entrichtete Kapitalertragsteuer zur Verfügung gestanden hat, die unverzinst
zurückzuzahlen war.
Tenor
Unter Aufhebung des Bescheides vom 30. Januar 2003 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 19. Januar 2004 wird der Beklagte verpflichtet, die
festgesetzten Zinsen in Höhe von 183.753 EUR wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Die Entscheidung ist hinsichtlich der erstattungsfähigen Kosten der Klägerin vorläufig
vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der
erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung
Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Erlass von Nachforderungszinsen, die gemäß § 233a AO
auf Körperschaftsteuer angefallen sind.
Die Klägerin ist eine GmbH, die am 11. November 1999 ihr Stammkapital von 2.493.050
DM um 1.500 EUR erhöht hat. Die neue Einlage wurde von der Gesellschaft für
Rücklagenmanagement X GmbH (G) für 24.802.000 DM übernommen.
Am 6. Dezember 2000 fassten die Gesellschafter der Klägerin einen
Gewinnausschüttungsbeschluss für 1999. Danach erhielt die G am 15. Dezember
desselben Jahres eine Ausschüttung i. H. v. 23.148.000 DM brutto (Bl. 22). Am 10. Januar
2001 wurden 5.787.000 DM einbehaltene Kapitalertragsteuer beim Beklagten angemeldet
und bezahlt (Bl. 9/23).
Im Körperschaftsteuerbescheid 1999 vom 9. März 2001 wurde die auf Grund der
Ausschüttung ermittelte Körperschaftsteuerminderung i. H. v. 4.860.490 DM
berücksichtigt und der Klägerin am selben Tag 3.402.512 DM an Körperschaftsteuer
erstattet (Bl. 24/Bl. 1 Zins-A).
Am 25. Juli 2001 teilte das für die G zuständige Finanzamt dem Beklagten mit, dass es
sich bei der Zahlung an die G nicht um eine Gewinnausschüttung i. S. von § 20 Abs. 1 Nr.
1 und 3 EStG handele. Dementsprechend änderte der Beklagte am 25. Juli 2002 den
Körperschaftsteuerbescheid und erhob zugleich Zinsen nach § 233a EStG für 15 Monate i.
H. v. insgesamt 183.753 EUR = 359.389,63 DM (Bl. 4 Zins-A). Der Beklagte verrechnete
die nachzuzahlende Körperschaftsteuer und die Zinsen am 11. September 2002 mit der
gezahlten und zu erstattenden Kapitalertragsteuer (Bl. 9).
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 2. August 2002, die Zinsen aus sachlichen
Billigkeitsgründen zu erlassen (Bl. 2). Diesen Antrag wies der Beklagte am 30. Januar 2003
(Bl. 30 f.) ebenso zurück, wie den dagegen eingelegten Einspruch mit
Einspruchsentscheidung vom 19. Januar 2004 (Bl. 37 ff.).
Mit der Klage vom 5. März 2004 beantragt die Klägerin (Bl. 12), den Bescheid vom 30.
Januar 2003 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Januar 2004 aufzuheben und
den Beklagten zu verpflichten, die festgesetzten Zinsen in Höhe von 183.752 EUR wegen
sachlicher Unbilligkeit zu erlassen.
Der Sachverhalt sei nicht nur als einheitlicher Lebensvorgang zu werten, es bestehe zudem
auch ein steuerrechtlicher Zusammenhang zwischen der Körperschaftsteuer und der
Kapitalertragsteuer (Bl. 15). Dem Staat sei durch die gezahlte Kapitalertragsteuer sogar
ein Liquiditätsvorteil entstanden. Zum einen seien rund 500.000 EUR mehr an
Kapitalertragsteuer abgeführt worden als die Körperschaftsteuerdifferenz betrage (Bl. 18),
zum anderen sei diese Zahlung auch noch zwei Monate früher erfolgt als die
Körperschaftsteuererstattung auf Grund der Herstellung der Ausschüttungsbelastung.
Daher habe eine Verrechnungsstundungssituation bestanden, so dass die
Ermessensentscheidung des Beklagten rechtswidrig und der Ermessensspielraum auf Null
reduziert sei. Zweck des § 233a AO sei es, Liquiditätsvorteile abzuschöpfen, die vorliegend
aber gerade nicht gegeben gewesen seien. Zudem habe der Beklagte die für die
Zinsentstehung relevanten Umstände selbst mitveranlasst, da er erst nach Mitteilung des
für die G zuständigen Finanzamtes die Umqualifizierung vorgenommen habe, obwohl ihm
alle Umstände bereits zuvor bekannt gewesen seien. Die Klägerin habe - mangels
Gewinnausschüttung - mit der "Kapitalertragsteuer" gerade keine fremden Gelder
abgeführt und sei damit von Anfang an Gläubigerin des Erstattungsanspruchs gewesen (Bl.
48 ff.)
Der Beklagte beantragt (Bl. 46), die Klage als unbegründet abzuweisen.
Er ist der Auffassung, die Ermessensentscheidung sei rechtmäßig. Eine Aufrechnung sei zu
einem früheren Zeitpunkt nicht möglich gewesen, da eine Aufrechnung nach § 387 BGB
erst zulässig sei, sobald der Aufrechnende die ihm gebührende Leistung habe fordern
können. Dies sei der Zeitpunkt gewesen, in dem die Körperschaftsteuernachforderung fällig
geworden sei (Bl. 40). Der Wegfall des Rechtsgrundes ändere nicht die Art der zu Unrecht
entrichteten Steuer. Es handele sich bei dem Kapitalertragsteuererstattungsanspruch nicht
um einen Erstattungsanspruch aus dem Steuerschuldverhältnis der Klägerin, da Gläubiger
dieses Anspruchs die Gläubiger der Kapitalerträge seien (Bl. 42 ff.). Da nach § 233a AO
eine Verzinsung der Kapitalertragsteuer nicht vorgesehen sei, würde der begehrte Erlass
gegen den klaren Willen des Gesetzgebers verstoßen. Zudem habe die Klägerin dadurch,
dass sie sich der Rechtsansicht angeschlossen habe, bei der Zahlung an die G handele es
sich nicht um eine Gewinnausschüttung, deutlich gemacht, dass sie bereits zuvor gewillt
gewesen sei, das Risiko der steuerlichen Nichtanerkennung der von ihr gewählten
Konstruktion einzugehen.
Dem Senat hat 1 Band Rechtsbehelfsakte vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Beklagte hat rechtsfehlerhaft den Erlass der Zinsen
abgelehnt, obwohl bei der vorliegenden Konstellation der Erlass geboten ist und kein
Ermessensspielraum für eine andere Entscheidung verbleibt.
1.
eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nur in den von § 102 FGO gezogenen
Grenzen überprüft werden kann (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten
Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BStBl II 1972, 603).
Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob die Behörde bei
ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem
ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden
Weise Gebrauch gemacht hat. Nur ausnahmsweise kann das Gericht eine Verpflichtung
zum Erlass aussprechen (§ 101 Satz 1 i. V. m. § 121 FGO), wenn der
Ermessensspielraum derart eingeschränkt ist, dass nur eine einzige Entscheidung als
ermessensgerecht in Betracht kommt (Ermessensreduzierung auf Null; ständige
Rechtsprechung, vgl. z. B. BFH vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BStBl II 1995, 297,
vom 31. März 2004 X R 25/03, BFH/NV 2004, 1212).
Eine fehlerfreie Ermessensausübung erfordert, dass der Beklagte seiner Entscheidung den
richtigen und vollständigen Sachverhalt zugrunde legt und alle Gesichtspunkte tatsächlicher
und rechtlicher Art einbezieht, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen
einräumt, maßgeblich sind. Eine hier allein geltend gemachte und in Betracht kommende
sachliche Unbilligkeit setzt voraus, dass die Einziehung der in Frage stehenden Beträge mit
Rücksicht auf die den einschlägigen abgabenrechtlichen Vorschriften zugrunde liegenden
Zwecke nicht mehr zu rechtfertigen ist (BFH vom 13. Juli 1976 VIII R 236/72, BStBl II 1977,
125) oder dass sie den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (BFH vom 23. Mai
1985 V R 124/79, BStBl II 1985, 489). Bei der Billigkeitsprüfung müssen grundsätzlich
solche Erwägungen unbeachtet bleiben, die der Besteuerungstatbestand typischerweise
mit sich bringt (BFH vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BStBl II 1985, 489, vom 9. Mai 2007
XI R 2/06, BFH/NV 2007, 1622; Loose in Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO, § 227
AO Tz. 20, m. w. N.).
Hinsichtlich der Nachzahlungszinsen nach § 233a EStG ist geklärt, dass sie lediglich eine
laufzeitabhängige Gegenleistung für eine mögliche Kapitalnutzung darstellen und dafür
- die Ursachen und Begleitumstände im Einzelfall unbeachtlich sind
- die reine Möglichkeit der Kapitalnutzung bzw. die bloße Verfügbarkeit eines bestimmten
Kapitalbetrages ausreicht
- die Rechtfertigung nicht nur im abstrakten Zinsvorteil des Steuerschuldners, sondern auch
in einem ebensolchen Nachteil des Steuergläubigers zu sehen
- ein Verschulden auf beiden Seiten des Steuerschuldverhältnisses prinzipiell irrelevant ist
(BFH vom 30. Oktober 2001 X B 147/01, BFH/NV 2002, 505 m. w. N.)
und ebenso, dass für einen Ausgleich in Form einer Verzinsung kein Raum ist, wenn
zweifelsfrei feststeht, dass ein Steuerpflichtiger durch die verspätete Steuerfestsetzung
keinen Vorteil erlangt hatte und festgesetzte Nachzahlungszinsen dann wegen sachlicher
Unbilligkeit zu erlassen sind (BFH vom 30. Oktober 2001 X B 147/01, a. a. O., m. w. N.).
2.
Festsetzung der Körperschaftsteuer tatsächlich kein Zinsvorteil entstanden ist.
Der Beklagte hat zwar einerseits am 11. September 2002 (Bl. 9) die
Körperschaftsteuerschuld mit dem Kapitalerstragsteuer-Erstattungs-anspruch der Klägerin
verrechnet (§ 226 AO). Andererseits hat er einen für die Prüfung der Frage des Zinsvor-
und -nachteils relevanten Gegenanspruch der Klägerin verneint, da es sich nicht um einen
eigenen Anspruch der Klägerin gehandelt habe.
Wenn aber eine Aufrechnung zulässig und möglich war, muss auch eine Aufrechnungslage
bestanden haben. Denn eine Aufrechnung setzt das Bestehen einer Aufrechnungslage
voraus, d. h. das Bestehen gegenseitiger gleichartiger Ansprüche. Der Anspruch, gegen
den aufgerechnet wird, muss rechtswirksam bestehen. Auf die Fälligkeit oder die
deklaratorische Festsetzung durch einen Steuerbescheid kommt es nicht an (Loose in
Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO § 226 AO Rdnr. 32).
Anders als der Beklagte hat der BFH im Urteil vom 14. Juli 2004 I R 100/03 (BStBl II 2005,
31) auch zur Kapitalertragsteuer festgestellt, dass nach § 37 Abs. 2 Abs. 2 AO
grundsätzlich derjenige erstattungsberechtigt ist, auf dessen Rechnung ohne rechtlichen
Grund die Zahlung der Steuer bewirkt worden ist. Die Bestimmung in § 44b Abs. 5 Satz 2
EStG führt über § 44b Abs. 4 Satz 1 und § 44 Abs. 1 Sätze 1 und 3 EStG zum
Vergütungsschuldner, der Klägerin.
Der Umstand, dass der Erstattungsanspruch geltend gemacht werden muss, ändert nichts
an dieser Beurteilung. Denn wegen des fehlenden Rechtsgrundes bestand der
Erstattungsanspruch sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach von Anfang an.
Nachdem das für die G zuständige Finanzamt auf das Nichtvorliegen von Kapitalerträgen
hingewiesen hatte, bestand sogar nicht einmal die Gefahr, dass aus formalen Gründen ein
anderer von der Kapitalertragsteuererstattung Gebrauch machen könnte.
Das Bestehen der Aufrechnungslage und die Aufrechnung sind auch nicht anders zu
beurteilen, weil der BFH inzwischen mit Urteil vom 28. Juni 2006 I R 97/05 (BFH/NV 2006,
2207) die damals von der Klägerin und der G gewählte Konstruktion in einem anderen Fall
für rechtmäßig erachtet hat. Denn die Beteiligten sind übereinstimmend davon
ausgegangen, dass keine Gewinne ausgeschüttet worden sind. Aus welchen Motiven die
Klägerin die anderslautende, vom Beklagten übernommene Rechtsauffassung des für die
G zuständigen Finanzamts akzeptiert hat, ist dafür ohne Belang.
Einem Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen steht auch nicht entgegen, dass der
Gesetzgeber eine Verzinsung der Kapitalertragsteuer nach § 233a AO nicht vorgesehen
hat. Denn vorliegend wird nicht die Verzinsung der Kapitalertragsteuer geltend gemacht,
hat. Denn vorliegend wird nicht die Verzinsung der Kapitalertragsteuer geltend gemacht,
sondern (nur) der Erlass der Zinsen, die der Klägerin für einen Betrag berechnet worden
sind, der dem Fiskus in – mehr als – gleicher Höhe im selben Zeitraum zur Verfügung
stand. Der Gesetzgeber hat unbillige Ausnahmefälle bei seinen grundsätzlichen Wertungen
gerade nicht bedacht.
Die gesamte Situation führt dazu, dass allein ein Erlass der Nachzahlungszinsen die
zutreffende Entscheidung darstellt (Ermessensreduzierung auf Null). Dementsprechend
war nicht lediglich die Entscheidung des Beklagten aufzuheben. Vielmehr war dieser zu
verpflichten, den Erlass der Zinsen auszusprechen.
3.
Lasten des Beklagten.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.
V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Für die Zulassung der Revision sah der Senat keine Veranlassung, da die Voraussetzungen
des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.