Urteil des FG Münster vom 13.07.2005

FG Münster: option, einkünfte, defizit, finanzen, volumen, deklaration, gestaltung, ausnahme, bundesamt, erkenntnis

Finanzgericht Münster, 10 K 6837/03 E
Datum:
13.07.2005
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Vorlagebeschluss
Aktenzeichen:
10 K 6837/03 E
Tenor:
1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Dem Bundesverfassungsgericht wird gem. Art. 100 Abs. 1
Grundgesetz, § 80 Abs. 1 BVerfGG die Frage zur Entscheidung
vorgelegt, ob die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b
Einkommensteuergesetz in der für die Veranlagungszeiträume 1994 bis
1996 maßgeblichen Fassung des Einkommensteuergesetzes vom 07.
September 1990 mit Artikel 3 Grundgesetz vereinbar ist, soweit sie
bestimmt, dass Veräußerungen von Wertpapieren als
Spekulationsgeschäfte steuerlich zu erfassen sind.
Sachverhalt:
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Der Kläger tätigte in den Streitjahren 1994 bis 1996 Optionsgeschäfte an der Deutschen
Terminbörse (DTB, jetzt: EUREX). Aufgrund des Ergebnisses einer
Steuerfahndungsprüfung rechnete der Beklagte dem Kläger Gewinne aus dem Handel
mit Aktien und Optionsscheinen gemäß § 22 Nr. 2, § 23 Abs. 1 Einkommensteuergesetz
(EStG) zu. Für 1994 wurde die Höhe des Spekulationsgewinns anhand der vorgelegten
Unterlagen festgestellt. Für die Streitjahre 1995 und 1996 hatten Unterlagen nur
teilweise vorgelegen, so dass Spekulationsgewinne geschätzt wurden. Den gemäß
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§ 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) geänderten
Einkommensteuerbescheiden 1994 bis 1996 vom 12.12.2001 lag folgender Sachverhalt
zugrunde:
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Der Kläger hatte Optionen erworben bzw. eingeräumt und hierfür Prämien gezahlt oder
erhalten. Jeweils innerhalb von sechs Monaten nach Erwerb oder Einräumung der
Optionen schloss er ein sogenanntes Glattstellungsgeschäft (Gegengeschäft zum
Eröffnungsgeschäft) ab. Für dieses Gegengeschäft hatte er ebenfalls Prämien gezahlt
bzw. erhalten. Der Differenzbetrag hieraus (Spekulationsgewinn) betrug 7.506,- DM in
1994. In den Streitjahren 1995 und 1996 schätzte der Beklagte die Differenzbeträge
jeweils auf 5.000,- DM.
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Der gegen die geänderten Einkommensteuerbescheide 1994 bis 1996 erhobene
Einspruch blieb erfolglos.
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Einspruch blieb erfolglos.
Der Kläger meint, es handele sich bei den Glattstellungsgeschäften um nicht nach
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§ 23 Abs. 1 EStG steuerbare Erlöse. Es fehle an der von dieser Vorschrift
vorausgesetzten Identität zwischen angeschafftem und veräußertem Wirtschaftsgut. Die
Entscheidung des BFH vom 24. Juni 2003 (IX R 2/02, BFHE 202, 351, BStBl. II 2003,
752) übersehe, dass an der Terminbörse gehandelte Optionen nicht nur durch
Glattstellung, sondern in erster Linie durch Wahrnehmung der Option verwertet werden
könnten.
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Darüber hinaus sei der Steuertatbestand des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in
der für die Streitjahre geltenden Fassung nicht anwendbar. Das
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe in seinem Beschluss vom 09. März 2004 2
BvL 17/02
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(BStBl. II 2005, 56) die Vorschrift jedenfalls für die Veranlagungszeiträume 1997 und
1998 als verfassungswidrig und damit als nichtig angesehen.
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Der Kläger beantragt die Freistellung der Kapitaleinkünfte von der Besteuerung.
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Der Beklagte beantragt Klageabweisung, hilfsweise für den Fall des Unterliegens die
Zulassung der Revision.
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Er meint, das Urteil des BFH vom 24. Juni 2003 (a.a.0.) sei auf den vorliegenden Fall
anwendbar, so dass die Differenzbeträge zu versteuern seien. Im übrigen sei im
Streitfall die Rechtslage zwar in den entscheidungserheblichen Punkten mit der für die
Veranlagungszeiträume 1997 und 1998 maßgebenden Rechtslage identisch.
Gleichwohl sei aber § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in den Streitjahren
verfassungsgemäß.
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Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung).
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat legt die aus dem Tenor ersichtliche Frage gemäß Art. 100 Abs. 1
Grundgesetz (GG), § 80 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht
(BVerfGG) dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor und setzt bis dahin das
Verfahren aus. Der Senat bewertet die vom Kläger erzielten Überschüsse aus den
Glattstellungsgeschäften als Spekulationsgewinn. Er hält die anzuwendende Vorschrift
des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in der für die Streitjahre geltenden Fassung
aber für verfassungswidrig, weil die Durchsetzung des aus dieser Norm entstehenden
Steueranspruchs wegen struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt wird.
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Die Frage ist entscheidungserheblich.
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Der Klage kann nach Auffassung des Senats nicht bereits aus anderen Gründen
stattgegeben werden.
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Nach § 22 Nr. 2 EStG in der Fassung der Streitjahre unterliegen Einkünfte aus
Spekulationsgeschäften als sonstige Einkünfte der Besteuerung des § 23 Abs. 1 Satz 1
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Nr. 1 Buchst. b EStG. Zweck dieser Vorschrift ist es, innerhalb der Spekulationsfrist
realisierte Werterhöhungen eines bestimmten Wirtschaftsgutes im Privatvermögen der
Einkommensteuer zu unterwerfen. Zu den Wirtschaftsgütern, die Gegenstand eines
Spekulationsgeschäftes sein können, zählen auch Optionen. Hierbei handelt es sich um
vermögenswerte Vorteile, die selbständig bewertbar und längerfristig nutzbar sind (vgl.
Urteil des BFH vom 24. Juni 2003 IX R 2/02, BStBl. II 2003, 752). Der Erwerber einer
Option erwirbt das Recht, vom Stillhalter jederzeit während der Laufzeit der Option oder
zu einem vorgegebenen Zeitpunkt die den Gegenstand des Optionsgeschäftes
bildenden Wertpapiere oder Rechte zum vereinbarten Preis zu kaufen oder an ihn zu
verkaufen. Die erworbenen Optionen hat der Kläger durch Gegengeschäfte veräußert.
Die an der DTB gehandelten Optionen können allerdings nicht, wie der Kläger meint, an
Dritte veräußert werden. Möglich ist lediglich - wie im Streitfall - die Glattstellung des
Geschäfts durch Verkauf einer Option der selben Serie an die DTB (vgl. Urteil des BFH
vom 24. Juni 2003 IX R 2/02, a.a.0., m.w.N.). Dieses Gegengeschäft führt sodann unter
Realisierung seines wirtschaftlichen Wertes zur Aufhebung der Option. Damit ist der
Steuertatbestand des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG verwirklicht (vgl. auch
Urteil des BFH vom 29. Juni 2004 IX R 26/03, BStBl. II 2004, 995). Der
Optionsberechtigte erhält für das Gegengeschäft eine Prämie, die von der
Kursentwicklung der den Gegenstand des Optionsgeschäfts bildenden Wertpapiere
oder Rechte abhängt und damit den Wert der Option selbst abbildet. Das
Glattstellungsgeschäft führt so zu einem Vermögenszuwachs des Steuerpflichtigen und
zu einer Steigerung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Nach diesen
Grundsätzen hat der Beklagte zu Recht einen Gewinn als Differenz der in den
Streitjahren vereinnahmten Optionsprämien (Veräußerungspreise) aus den
Glattstellungsgeschäften sowie aus den Eröffnungsgeschäften (Anschaffungskosten) als
Einkünfte aus Spekulationsgeschäften nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG
erfasst.
§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG in der für die Streitjahre geltenden Fassung
verstößt nach Überzeugung des vorlegenden Senats gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist
verfassungswidrig, soweit er Veräußerungsgeschäfte bei Wertpapieren betrifft. Dabei ist,
wie schon das BVerfG in seiner Entscheidung vom 09. März 2004 2 BvL 17/02 (a.a.0.)
für die Jahre 1997 und 1998 entschieden hat, nicht die gesetzlich begründete materielle
Steuerpflicht verfassungsrechtlich zu beanstanden. Vielmehr verstößt nach Auffassung
des Senats die dem Gesetzgeber zuzurechnende mangelhafte Durchsetzung dieser
materiellen Pflicht in den Streitjahren ebenso wie in den folgenden, vom BVerfG
entschiedenen Jahren gegen das verfassungsrechtliche Gebot tatsächlich gleicher
Steuerbelastung durch gleichen Gesetzesvollzug mit der Folge, dass die materielle
Steuernorm selbst verfassungswidrig wird.
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Das BVerfG hat bereits in seinem Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89 (BStBl. II
1991, 654) festgestellt, dass dann, wenn eine Erhebungsregelung sich gegenüber
einem Besteuerungstatbestand strukturell gegenläufig in der Weise auswirkt, dass der
Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann und dieses Defizit
dem Gesetzgeber zuzurechnen ist, die dadurch bewirkte Gleichheitswidrigkeit zur
Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Steuernorm führt. Weiter heißt es in der zu §
20 EStG ergangenen Entscheidung, zwar sei im Streitjahr 1981 für private
Kapitalerträge bei Steuerpflichtigen, die ihre Zinseinkünfte ordnungsgemäß erklärt
hätten, eine erheblich ungleiche Belastung gegenüber denjenigen eingetreten, die
diese Einkünfte verschwiegen hätten und infolge mangelhafter Gestaltung des
Erhebungsverfahrens nicht zur Steuer herangezogen worden seien. Eine
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Grundrechtsverletzung sei allerdings noch nicht eingetreten. Der schon in 1981
festzustellende strukturelle Erhebungsmangel sei jedenfalls für eine Übergangszeit bis
zum 01. Januar 1993 noch hinzunehmen. Dies beruhe auf der Überlegung, dass der
Verstoß gegen die Belastungsgleichheit auf die materiell-rechtliche Grundlage für die
Steuererhebung zurückwirke und diese Rechtslage bisher nicht erkannt worden sei.
In seinem Urteil vom 09. März 2004 2 BvL 17/02 (a.a.0.) führt das BVerfG zu § 23 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG aus, dass die Gründe, die in dem in 1991 ergangenen
Zinsurteil zunächst für die Einräumung einer Übergangsfrist für gesetzgeberische
Nachbesserungen bei der ungleichen Besteuerung von Kapitaleinkünften sprachen,
nicht mehr vorliegen. Dies gelte auch dann, wenn gesicherte Kenntnisse über das
tatsächliche Ausmaß steuerlich nicht erfasster Spekulationsgewinne und
korrespondierender Steuerausfälle fehlten. Insbesondere enthielten die vom
Bundesministerium der Finanzen vorgelegten Zahlen zum Anstieg der steuerlich
erfassten Spekulationsgeschäfte in den Jahren 1995 bis 1998 keine aussagekräftigen
Informationen speziell zu den hier interessierenden Wertpapiergeschäften, obgleich
aufgrund der deutlich steigenden Börsenkurse Mitte bis gegen Ende der 1990er Jahre
eindeutige Hinweise auf tatsächliche Vollzugsdefizite bei der Besteuerung von
Spekulationsgewinnen aus der Veräußerung von Wertpapieren vorlägen. Eine in 1994
vom Landesfinanzministerium Nordrhein-Westfalen zur Überprüfung der Möglichkeiten
zur vollständigen Ausschöpfung der Steuerquellen eingesetzte Arbeitsgruppe
"Steuerausfälle" habe - wie andere Untersuchungsergebnisse auch - in ihrem
Abschlußbericht ausdrücklich festgestellt, Spekulationsgewinne nach § 23 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. b EStG würden weitgehend nicht erklärt, das Volumen sei unbekannt.
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Der vorlegende Senat geht anhand dieser Erkenntnisse davon aus, dass sich an dem
bereits für 1981 festgestellten und für die Jahre 1997 und 1998 bestätigten strukturellen
Vollzugsdefizit der §§ 20, 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG auch in den Streitjahren
1994 bis 1996 nichts geändert hat. Andere, über die Begründungen des BVerfG
hinausreichende Erkenntnisse liegen dem Senat nicht vor und sind vom Beklagten auch
nicht vorgetragen. Das Entdeckungsrisiko bei mangelhafter Deklaration der in den
Streitjahren 1994 bis 1996 erzielten Spekulationsgewinne war deshalb im Regelfall des
Besteuerungsverfahrens gering. Im regulären Besteuerungsverfahren bestand für eine
Veranlagungsstelle des Beklagten kein konkreter Anlass, steuerbare Einkünfte aus
privaten Wertpapiergeschäften zu ermitteln. Eine nachträgliche Überprüfung war mit
Ausnahme der Geschäftskonten buchführungspflichtiger Steuerpflichtiger nicht
vorgesehen. Andere Prüfungsmöglichkeiten standen der Finanzverwaltung allenfalls
eingeschränkt (Kontrollmitteilungen, Sammelauskunftsersuchen, Mitteilungen von
Kreditinstituten an das Bundesamt für Finanzen) zur Verfügung. Auch die bis 1996
abzugebenden Vermögensteuererklärungen ließen nur mittelbar Rückschlüsse auf
Kapitalerträge zu. Dementsprechend war das Verfahrensrecht für die hier zu
beurteilenden Veranlagungszeiträume im Regelfall des Besteuerungsverfahrens nicht
geeignet, das "normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten
Rechts" (Urteil des BVerfG vom 09. März 2004 2 BvL 17/02, a.a.0., C.II.1) zu beseitigen.
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Die gleichheitswidrige Umsetzung des in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG
enthaltenen Vollzugsbefehls in der Praxis des Erhebungsverfahrens für die
Veranlagungszeiträume 1994 bis 1996 ist dem Gesetzgeber zuzurechnen. Dem
Gesetzgeber musste nach der Entscheidung des BVerfG vom 27. Juni 1991 (a.a.0.) sich
bereits für das Jahr 1993 die Erkenntnis aufdrängen, dass ohne Änderung des
Besteuerungsverfahrens der Kapitaleinkünfte das von der Verfassung vorgegebene Ziel
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der Gleichheit im Belastungserfolg grundsätzlich nicht zu erreichen sein würde.
Gleichwohl hat er an den steuerlichen Regelungen im wesentlichen festgehalten und
keinen Anlass für eine Beseitigung der durch die Erhebungsform der Einkommensteuer
auf private Veräußerungsgewinne bei Wertpapieren, Bankenerlass und fehlende
Kontrollmöglichkeiten verursachten Rechtsunsicherheiten gesehen.
Der erkennende Senat hält die Überprüfung des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG
durch das Bundesverfassungsgericht für das Streitjahr 1994 auch nicht deshalb für
entbehrlich, weil der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung vom 29. Juni 2004 IX R
26/03 (BStBl. II 2004, 995) zwar ein mit den Jahren 1997 und 1998 vergleichbares
Vollzugsdefizit der Norm festgestellt hat, wegen der für diese Vorschrift aber erst später
in der Fachwelt aufgeworfenen Frage eines gleichheitswidrigen Vollzugsdefizits den
Ansatz einer längeren, den Veranlagungszeitraum 1994 einschließenden
Übergangszeit als sicher unterstellt. Da die Erwägungen, die das
Bundesverfassungsgericht in seinem Zinsurteil über das bestehende, mit Art. 3 Abs. 1
GG unvereinbare Vollzugsdefizit angestellt hat, gleichermaßen für die Frage der
Besteuerung von Kapitaleinkünften (§ 20 EStG) wie auch der Besteuerung der
Spekulationsgewinne aus Wertpapieren (§ 23 EStG) gelten und es dem Gesetzgeber
lediglich eine Frist bis zum 01. Januar 1993 zur Beseitigung der verfassungswidrigen
Rechtslage eingeräumt hatte, ist wie für die Jahre 1997 und 1998 auch für die Streitjahre
von einem nicht mehr hinzunehmenden Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG auszugehen.
Ob das Bundesverfassungsgericht von der Möglichkeit Gebrauch machen wird, für § 23
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b EStG noch eine die Streitjahre umfassende
Übergangsregelung festzusetzen, unterliegt nicht der Entscheidungskompetenz des
erkennenden Senats.
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