Urteil des FG Münster vom 30.11.2009

FG Münster (kind, höhe, unterhalt, abzweigung, sinn und zweck der norm, eltern, unterhaltspflicht, unterkunft und verpflegung, haushalt, ermessen)

Finanzgericht Münster, 8 K 2812/09 Kg
Datum:
30.11.2009
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 K 2812/09 Kg
Sachgebiet:
Finanz- und Abgabenrecht
Tenor:
Unter Aufhebung des Bescheides vom 22.06.2009 und der
Einspruchsent-scheidung vom 14.07.2009 wird die Beklagte verpflichtet,
den Antrag der Klägerin auf Abzweigung von Kindergeld, das an den
Beigeladenen für das Kind HG gezahlt worden ist, unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig voll-
streckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die
Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Streitig ist, ob die beklagte Familienkasse (FK) zu Recht einen Antrag der Klägerin
(Klin.) auf Abzweigung von Kindergeld gemäß § 74 Einkommensteuergesetz (EStG)
abgelehnt hat.
2
Die Klin. ist die Stadt I (I). Diese leistete an Herrn HG (HG), geboren am ...1969, X-
Straße, I, fortlaufend Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) – Kapital IV –
(Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - §§ 41ff. SGB XII), zuletzt
aufgrund des Bescheides vom 10.03.2009 für den Zeitraum vom 01.04.2009 bis
31.03.2010 in Höhe von monatlich 512,09 EUR.
3
Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen:
4
Stellung gemeinsame Haushaltsführung
5
Regelsatz lfd. Leistung SGB XII 281,00 EUR
6
Mehrbedarf § 30 Abs. 1 Satz 2 SGB XII 47,77 EUR
7
Summe 328,77 EUR
8
HLU-Unterkunftskosten 183,32 EUR
9
Summe Bedarf 512,09 EUR
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Die anrechenbaren Unterkunftskosten sind wie folgt berechnet worden:
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Miete/Lasten 352,56 EUR
12
Heizkosten 78,00 EUR
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Warmwasserkosten ./.15,60 EUR
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Nebenkostenabschlag 135,00 EUR
15
Anrechenbare UK-Kosten 549,96 EUR 549,96 EUR
16
Mietanteile Dritter ./. 366,64 EUR
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Berücksichtigte Unterkunftskosten 183,32 EUR
18
Höhe 1 Mietanteil 183,32 EUR
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HG ist laut des der Stadt I vorgelegten Schwerbehindertenausweises vom 24.02.2003
(gültig bis 01/2013) schwerbehindert mit einem Grad von 100 mit den Merkzeichen G,
H,RF. HG besitzt bereits seit dem 09.08.1982 einen Schwerbehindertenausweis.
20
Er lebt im Haushalt seiner Eltern, des beigeladenen Herrn FG (FG), geboren am ...1934,
und der Frau MG (MG), geboren am ...1936.
21
FG bezieht eine Altersrente in Höhe von 1.186,91 EUR/monatlich und MG eine solche
in Höhe von 475,00 EUR/monatlich. HG erhält keine Arbeitseinkünfte (z. B. von einer
Werkstatt für Behinderte).
22
Der Beigeladene FG erhält für HG von der FK fortlaufend Kindergeld (vgl.
Kindergeldbescheid vom 28.02.2008), das in Höhe von zur Zeit 164 EUR/monatlich auf
das gemeinsame Konto der Eltern des HG ausgezahlt wird. Die monatliche Miete
zahlen die Eltern ebenfalls von ihrem gemeinsamen Konto. Weder HG noch seine
Eltern verfügen über nennenswertes Vermögen.
23
Mit Schreiben vom 09.06.2009 beantragte die Klin. bei der FK unter Berufung auf die
Bundesfinanzhof(BFH)-Urteile vom 17.12.2008 III R 6/07, BFH/NV 2009, 1001 und vom
09.02.2009 III R 37/07, BFH/NV 2009, 1015 die Abzweigung des Kindergeldes gemäß
24
§ 74 EStG an sich als örtlichen Träger der Sozialhilfe. Eine Abzweigung sei möglich,
wenn die/der Kindergeldberechtigte den Lebensunterhalt nicht mindestens in Höhe des
Kindergeldes sicherstelle, wobei die Aufnahme in den Haushalt keine
Unterhaltsleistung darstelle. Unterhaltsleistungen der/des Kindergeldberechtigten
mindestens in Höhe des Kindergeldes seien ihr nicht bekannt.
Diesen Antrag lehnte die FK mit Bescheid vom 22.06.2009 mit der Begründung ab, eine
Erstattung des Kindergeldes an die Klin. komme nicht in Betracht, weil es sich bei der
von Klin. gewährten Leistung und dem Kindergeld nicht um zweckgleiche Leistungen
handeln würde.
25
Den dagegen eingelegten Einspruch begründete die Klin. damit, aus den genannten
Urteilen des BFH gehe nicht hervor, dass es sich bei der durch die Klin. erbrachten
Leistung um eine zweckgleiche Leistung handeln müsse.
26
Die FK wies den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung – EE –
vom 14.07.2009).
27
Sie führte aus, rechtskräftige Urteile würden die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger
gemäß § 110 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) binden, soweit über den
Streitgegenstand entschieden worden sei. Erst durch eine Veröffentlichung von Urteilen
und Beschlüssen des BFH in Bundessteuerblatt (BStBl.) II könnten diese
Entscheidungen in vergleichbaren Fällen angewendet werden. Die o. a. Urteile seien
nicht veröffentlicht worden. Sie stellten also Einzelfallurteile dar, die nur die an diesen
finanzgerichtlichen Verfahren Beteiligten binden würden. Der Einspruch könne daher
keinen Erfolg haben.
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Zur Begründung der hiergegen eingelegten Klage trägt die Klin. vor, bei den
angeführten Urteilen handele es sich nicht um Einzelfallentscheidungen, sondern um
Urteile, die von der Finanzverwaltung zu beachten seien.
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Im Ergebnis sei den Ausführungen der Urteile auch zuzustimmen. Die Voraussetzungen
für eine Abzweigung des Kindergeldes lägen dem Grunde nach vor. Nach § 74 Abs. 1
EStG könne das für ein Kind nach § 66 Abs. 1 EStG festgesetzte Kindergeld auch an die
Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewähren würde, wenn
der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkomme,
mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig sei oder nur Unterhalt in Höhe eines
Betrages zu leisten brauche, der geringer sei als das für die Auszahlung in Betracht
kommende Kindergeld.
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Die Abzweigung setze voraus, dass der Kindergeldberechtigte zivilrechtlich nach
§§ 1601 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zum Unterhalt verpflichtet sei, aber keinen
Unterhalt leisten wolle, keinen Unterhalt leisten könne oder als Unterhalt nur einen
geringeren Betrag als das Kindergeld zu leisten brauche.
31
Nach § 1601 BGB seien Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu
gewähren. Unterhaltsberechtigt sei nach § 1602 BGB aber nur, wer außerstande sei,
sich selbst zu unterhalten. Der Unterhaltsanspruch umfasse nach § 1610 Abs. 2 BGB
den gesamten Lebensbedarf. Grundsicherungsleistungen seien auf einen solchen
Unterhaltsanspruch nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII anzurechnen.
32
Die FK habe rechtsfehlerhaft keine Ermessensentscheidung getroffen. Ob und in
welcher Höhe das Kindergeld an eine andere Person oder Stelle abgezweigt werde,
stehe nach § 74 Abs. 1 EStG im Ermessen der FK. Die FK habe aber überhaupt kein
Ermessen ausgeübt, da nach ihrer Auffassung die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1
EStG für eine Abzweigung nicht gegeben gewesen seien. Die FK hätte eine genaue
Prüfung des Antrages auf Abzweigung vornehmen und dann eine entsprechende
Ermessensentscheidung treffen müssen.
33
Die Klin. beantragt,
34
den Bescheid vom 22.06.2009 und die EE vom 14.07.2009 aufzuheben und die FK
zu verpflichten, über den Antrag auf Abzweigung von Kindergeld nach
pflichtgemäßem Ermessen neu zu entscheiden,
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hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.
36
Die FK beantragt,
37
die Klage abzuweisen,
38
hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.
39
Sie meint, das Kind HG sei zu 100 % behindert und trage in seinem
Schwerbehindertenausweis die Merkzeichen G, H und RF. Das Kind HG lebe im
Haushalt der kindergeldberechtigten Eltern und werde von diesen betreut und versorgt.
HG erhalte von der Klin. Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII.
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Das für ein Kind gezahlte Kindergeld könne – wenn der Kindergeldberechtigte diesem
gegenüber seine Unterhaltspflicht nicht nachkomme – an das Kind selbst oder an
denjenigen, der dem Kind Unterhalt gewährt, ausgezahlt werden (§ 74 Abs. 1 EStG).
Materielle Voraussetzung sei, dass der tatsächlich Kindergeldberechtigte der
gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkomme. Das sei rein tatsächlich zu verstehen.
Es komme nicht darauf an, dass der Kindergeldberechtigte in seiner Person die
Voraussetzungen der Unterhaltspflicht erfülle; auf die Leistungsfähigkeit des
Berechtigten komme es folglich nicht an.
41
Im vorliegenden Fall lägen keinerlei Anhaltspunkte vor, die eine
Unterhaltspflichtverletzung seitens des Kindergeldberechtigten rechtfertigen könnten.
Das Kind lebe im Haushalt des Berechtigten und werde dort versorgt. Auch von der Klin.
selbst sei nichts Entsprechendes vorgetragen worden.
42
Weder im Abzweigungsantrag noch im Einspruchsverfahren oder in der Klageschrift sei
vorgetragen worden, dass der Kindergeldberechtigte dauerhaft seine Unterhaltspflicht
verletze. Allein die Berufung auf die BFH-Rechtsprechung lasse den Schluss einer
Unterhaltsverletzung seitens des Berechtigten nicht zu. Die fallspezifische Begründung
eines Antrags obliege der Klin. Insoweit sei daher allein die Ablehnung des
Abzweigungsantrages ermessensgerecht.
43
Im Übrigen würden die zitierten BFH-Entscheidungen andere Sachverhalte regeln und
die FK sei an die eindeutige Weisungslage gebunden. Danach sei eine
Unterhaltspflichtverletzung nicht gegeben, solange das Kind im Haushalt des
44
Berechtigten lebe.
Der Berichterstatter hat den Kindergeldberechtigten FG gemäß § 60 Abs. 3 FGO mit
Beschluss vom 29.10.2009 zum Verfahren beigeladen. Dieser hat keinen Antrag
gestellt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegten Verwaltungsvorgänge sowie
auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug
genommen.
46
Der Senat hat in diesem Verfahren am 30.11.2009 mündlich verhandelt. Auf die
Niederschrift hierüber wird verwiesen.
47
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
48
Die Klage ist begründet, da die FK ihr Ermessen nicht ausgeübt und deshalb der
Bescheid vom 22.06.2009 rechtswidrig ist.
49
Gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 EStG kann das für ein Kind festgesetzte
Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte seiner
gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht
unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der
geringer als das Kindergeld ist.
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Die Auszahlung kann nach § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG auch an die Person oder Stelle
erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt.
51
Soweit die Behörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu
entscheiden, prüft das Gericht gemäß § 102 Satz 1 FGO nur, ob der Verwaltungsakt
oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die
gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessenen in
einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht
worden ist. Die Behörde kann ihrer Ermessenserwägungen hinsichtlich des
Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen
Verfahrens ergänzen (§ 102 Satz 2 FGO). Insbesondere setzt eine fehlerfreie
Ermessensentscheidung voraus, dass die Behörde ihre Entscheidung auf der
Grundlage des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhaltes trifft und dabei
die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt, die nach Sinn und
Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (BFH-Urteil vom
22.02.1972 VII R 80/69 BStBl. II 1972, 544 und vom 22.06.1990 III R 150/85 BStBl. II
1991, 864, FG München Urteil vom 12.12.2007 10 K 4917/06 EFG 2008, 698).
52
Ein Nachschieben von Ermessenserwägungen im Klageverfahren ist nur durch
Ergänzungen der Ermessenserwägungen möglich. Diese setzen voraus, dass solche
zuvor zumindest ansatzweise angestellt worden sind (BFH-Urteil vom 25.05.2004 VIII R
21/03 BFH/NV 2005, 171).
53
Im vorliegenden Fall geht die Klin. zu Recht davon aus, dass dem Grunde nach die
Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 74 Abs. 1 EStG erfüllt sind.
54
Der Beigeladene ist als Vater des HG diesem gegenüber gesetzlich zum Unterhalt
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verpflichtet (§§ 1601 ff. BGB), da dieser sich nicht selbst unterhalten kann.
Nach § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie verpflichtet, einander Unterhalt zu
gewähren. Unterhaltsberechtigt ist nach § 1602 BGB aber nur, wer außerstande ist, sich
selbst zu unterhalten.
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Zum unterhaltsrechtlich maßgeblichen Einkommen zählen grundsätzlich sämtliche
Einkünfte, die geeignet sind, den gegenwärtigen Lebensbedarf des
Einkommensbeziehers sicherzustellen. Dazu zählen auch Grundsicherungsleistungen,
soweit sie nicht subsidiär sind. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII bleiben
Unterhaltsansprüche des Leistungsberechtigten gegenüber ihren Eltern
unberücksichtigt, sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 des
Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) unter 100.000 EUR liegt. Daher sind im
Streitfall die Grundsicherungsleistungen für das Kind HG des Beigeladenen nicht
nachrangig und mindern den unterhaltsrechtlichen Bedarf (Urteil des
Bundesgerichtshofs - BGH – vom 20.12.2006 XII ZR 84/04, Zeitschrift für das gesamte
Familienrecht - FamRZ – 2007, 1158). Sie führen nicht zu einem gesetzlichen Übergang
der Unterhaltsansprüche der Kinder gegen ihre Eltern auf den Leistungsträger (§ 94
Abs. 1 Satz 3 Halbsatz 2 SGB XII), sondern lassen die Unterhaltspflicht der Eltern in
diesem Umfang erlöschen (Urteil des Bundessozialgerichts - BSG – vom 08.02.2007 B
9b SO 5/06 R, FamRZ 2008, 51). Da die Grundsicherungsleistungen das
Existenzminimum des Kindes sichert, braucht der Beigeladene insoweit seinem Kind
HG keinen Unterhalt zu zahlen.
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Gleichwohl bleibt der Beigeladene dem Grunde nach zum Unterhalt gegenüber seinem
Kind HG verpflichtet, auch wenn die Unterhaltsansprüche des Kindes nach § 43 Abs. 2
Satz 1 SGB XII aufgrund seiner Einkommensverhältnisse unberücksichtigt bleiben.
Würde er Unterhalt leisten, wären die Leistungen auf die Grundsicherung anzurechnen
(BGH-Urteil vom 20.12.2006 a. a. O.). Daher ist der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3
EStG (keine Unterhaltspflicht mangels Leistungsfähigkeit) erfüllt (vgl. zum Vorstehenden
BFH-Urteil vom 17.12.2008 III R 6/07 BFH/NV 2009, 1001).
58
Der Beigeladene ist dieser Unterhaltspflicht nicht nachgekommen, da er objektiv und
dauerhaft für den wesentlichen Unterhalt des HG nicht aufgekommen ist. Ob er seine
Unterhaltspflicht schuldhaft verletzt hat oder mangels Leistungsfähigkeit nicht oder nur
eingeschränkt Unterhalt leisten kann, ist gleichgültig, da § 74 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3
EStG für jede dieser Fallkonstellationen die Abzweigung in das Ermessen der FK stellt.
59
Entgegen der Auffassung der FK kommt es im vorliegenden Fall nicht entscheidend
darauf an, dass der Beigeladene durch die Aufnahme des Kindes HG in seinen
Haushalt und durch die Versorgung des Kindes gewisse Unterhaltsleistungen erbracht
hat.
60
Nach der Rechtsprechung des BFH sind zwar bei der Ausübung des Ermessens, ob
und in welcher Höhe das Kindergeld an den – dem Kind anstelle des
Kindergeldberechtigten Unterhalt gewährenden – Sozialleistungsträger abzuzweigen
ist, auch geringe Unterhaltsleistungen der Eltern zu berücksichtigen. Sind die
Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, wird eine Abzweigung nicht als
ermessensgerecht angesehen (BFH-Urteil vom 23.02.2006 III R 65/04 BStBl. II 2008,
753 m. w. N.). Dem Beigeladenen sind durch die Aufnahme des Kindes HG in seinem
Haushalt aber keine Unterhaltsleistungen entstanden. Den Unterhalt für sein Kind hat
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die Klin. durch die Leistungen der Grundsicherung, die auch Unterkunft und Verpflegung
umfassen, erbracht (vgl. zum Vorstehenden BFH-Urteil vom 17.12.2008 III R 6/07
BFH/NV 2009, 1001).
Der Beigeladene erhält hier eine Altersrente in Höhe von 1.186,91 EUR/monatlich und
seine Ehefrau eine solche in Höhe von 400,75 EUR/monatlich. Der Beigeladene und
seine Ehefrau verfügen insoweit nur über für ihren Unterhalt notwendige finanzielle
Mittel. Es ist daher davon auszugehen, dass der Beigeladene, der sich um die Belange
seines Sohnes HG kümmert, den Unterhalt der Familie aus den erhaltenen Mitteln
(Altersrenten und Grundsicherung) bestreitet (sog. Wirtschaften aus einem Topf). Für die
Annahme, der Beigeladene könnte aus seiner Altersrente und die seiner Ehefrau für das
– über eigene Mittel verfügende – Kind HG erhebliche Leistungen erbringen, ist nichts
ersichtlich (vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 17.12.2008 VIII R 6/07 BFH/NV 2009, 1001).
62
Der Umfang, in dem der Beigeladene tatsächlich Unterhalt geleistet hat, ist bei der
Entscheidung darüber, ob und ggf. in welcher Höhe eine Abzweigung zu erfolgen hat,
von der Familienkasse zu berücksichtigen (BFH-Urteil vom 23.02.2006 III R 65/04
BStBl. II 2008, 753). Insoweit hat die FK ihre Ermessensentscheidung auf der Grundlage
eines fehlerfrei festgestellten Sachverhaltes zu treffen.
63
Im vorliegenden Fall ist der die Abzweigung zugunsten der Klin. ablehnende Bescheid
vom 22.06.2009 und die EE vom 14.07.2009 bereits mangels Ermessensausübung
entsprechend dem Zweck des § 74 Abs. 1 EStG (§ 5 AO) rechtswidrig.
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Ob und in welcher Höhe das Kindergeld an eine andere Person oder Stelle abgezweigt
wird, steht nach § 74 Abs. 1 EStG im Ermessen der FK ("kann"). Die FK hat hier aber
kein Ermessen ausgeübt, weil nach ihrer Auffassung die Voraussetzung des § 74 Abs. 1
EStG für eine Abzweigung nicht gegeben sind (sog. Ermessensunterschreitung durch
Ermessensnichtgebrauch).
65
Im Ablehnungsbescheid hat sie sich überhaupt nicht mit den Voraussetzungen des § 74
Abs. 1 EStG befasst, sondern lediglich ausgeführt, eine Erstattung des Kindergeldes an
die Klin. komme nicht in Betracht, weil es sich bei der von der Klin. gewährten Leistung
und dem Kindergeld nicht um zweckgleiche Leistungen handele. Die Entscheidung
beruhe auf § 74 Abs. 2 EStG.
66
In der EE hat sie sich auf den Standpunkt gestellt, der Klin. stehe materiell-rechtlich kein
Anspruch auf Abzweigung zu, ohne dieses weiter zu begründen. Sie hat lediglich
Ausführungen dazu gemacht, dass sie die von der Klin. zitierten BFH-Urteile vom
17.12.2008 III R 6/07 BFH/NV 2009, 1001 und vom 09.02.2009 III R 37/07 BFH/NV
2009, 101 S erst nach der Veröffentlichung im BStBl. II anwenden dürfe. Die Urteile
seien nicht veröffentlicht worden. Sie würden somit Einzelfallurteile darstellen, die
gemäß § 110 Abs. 1 FGO nur die an diesen finanzgerichtlichen Verfahren Beteiligten
binden würden.
67
Erstmals im Klageverfahren hat die FK im Schriftsatz vom 28.09.2009 Ausführungen
dazu gemacht, ob unter Berücksichtigung der hier vorliegenden Umstände die
Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG vorliegen würden. Sie ist dabei zum Ergebnis
gekommen, dass bereits die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1
EStG nicht vorliegen würden. Dazu sei erforderlich, dass der tatsächlich
Kindergeldberechtigte der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkomme. Im
68
vorliegenden Fall lägen keinerlei Anhaltspunkte vor, die eine Unterhaltspflichtverletzung
des Kindergeldberechtigten rechtfertigen könnten. Das Kind lebe im Haushalt des
Berechtigten und werde dort versorgt.
Diese Auffassung ist unzutreffend. Entscheidend ist hier, dass der Beigeladene seiner
grundsätzlich bestehenden Unterhaltspflicht mangels Leistungsfähigkeit nicht
nachkommen konnte (§ 74 Abs. 1 S. 3 EStG), vgl. oben. Da hier entgegen der Meinung
der FK die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG für eine
Abzweigung erfüllt sind, hatte die FK das ihr in dieser Vorschrift eingeräumte
Rechtsfolgeermessen, ob und ggfl. in welcher Höhe das Kindergeld an die Klin.
auszuzahlen ist, auszuüben (BFH-Urteile vom 17.11.2004 VIII R 30/04 BFH/NV 2005,
692 und vom 25.05.2004 VIII R 21/03 BFH/NV 2005, 171).
69
Die FK ist als Folge ihrer Rechtsauffassung, dass der Tatbestand des § 74 Abs. 1 EStG
mangels Unterhaltspflichtverletzung des Beigeladenen nicht erfüllt sei, ihrer Pflicht zur
Ermessensausübung nicht nachgekommen (sog. Ermessensunterschreitung durch
Ermessensnichtgebrauch, vgl. dazu Kruse in Tipke/Kruse, AO/FGO-Kommentar, Stand
Sept. 2009, § 5 Rdn. 40 m. w. N.).
70
Im vorliegenden Fall war auch nicht von dem Erlass eines Bescheidungsurteils gemäß
§ 101 Satz 2 FGO abzusehen. Von der Aufhebung eines mangels Ermessensausübung
rechtswidrigen Ablehnungsbescheides kann abgesehen werden, wenn allein die
Ablehnung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduzierung auf Null).
71
Denn dann ist das Finanzgericht befugt – abweichend von § 102 FGO – seine
Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu
setzen (BFH-Urteil vom 10.10.2001 XI R 52/00 BStBl. II 2002, 201). Eine
Ermessensreduzierung auf Null liegt hier jedoch nicht vor. Bei der Ausübung des
Ermessens ist der Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§ 5 AO). Das
Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums eines Kindes und,
soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2
EStG).
72
Kein Kindergeld wird deshalb gewährt, wenn die eigenen Einkünfte und Bezüge des
Kindes den – am steuerlich zu belassenden Existenzminimum eines Erwachsenen
orientierten – Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG übersteigen. In einem
solchen Fall sind die Eltern in der Regel wirtschaftlich nicht mehr in einer Weise
belastet, die eine Entlastung im Wege des Familienleistungsausgleichs erfordert. Bei
Einkünften und Bezügen des Kindes bis zur Höhe des Jahresgrenzbetrages wird
dagegen typisierend eine Belastung der Eltern mit Unterhaltsaufwendungen unterstellt
und daher unter den weiteren Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG Kindergeld
gewährt.
73
Hiervon abweichend hängt der Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges behindertes
Kind davon ab, dass das Kind außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 EStG). Es wird typisierend davon ausgegangen, dass den Eltern
Unterhaltsaufwendungen für das Kind entstehen, wenn dessen eigene finanzielle Mittel
nicht seinen gesamten Lebensbedarf abdecken. Der Lebensbedarf eines behinderten
Kindes besteht aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) in Höhe des
Existenzminimums eines Erwachsenen, zu dem z. B. auch Kontakte zur Familie,
Teilnahme am kulturellen Leben und Erholung gehören und dem individuellen
74
behinderungsbedingten Mehrbedarf, der auch ergänzende persönliche
Betreuungsleistungen der Eltern und Fahrtkosten umfasst (vgl. BFH-Urteil vom
15.10.1999 VI R 40/98 BStBl. II 2000, 75 und vom 21.07.2000 VI R 153/99 BStBl. II
2000, 566).
Da das Kindergeld die finanzielle Belastung der Eltern durch den Unterhalt für das Kind
ausgleichen soll, hängt die Entscheidung über die Abzweigung davon ab, ob und in
welcher Höhe ihnen – den Grund- und den behinderungsbedingten Mehrbedarf
betreffende – Aufwendungen für das Kind entstanden sind. Dabei sind auch im
Verhältnis zu den Kosten des Sozialleistungsträgers geringe Aufwendungen für das
Kind mit einzubeziehen, nicht aber fiktive Kosten für die Betreuung des Kindes. Zu
berücksichtigen sind nur die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem
Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten
Aufwendungen (vgl. zum Vorstehenden BFH-Urteil vom 09.02.2009 III R 37/07 BFH/NV
2009, 1015).
75
Entstehen dem Kindergeldberechtigten Aufwendungen für das volljährige behinderte
Kind mindestens in Höhe des Kindergeldes, kommt eine Abzweigung an den
Sozialleistungsträger nicht in Betracht. Dies folgt mittelbar aus § 74 Abs. 1 Satz 3
Alternative 2 EStG. Danach kann Kindergeld auch abgezweigt werden, wenn der
Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht oder nur in Höhe eines unter
dem Kindergeld liegenden Betrages unterhaltspflichtig ist. Eine Abzweigung ist somit
ermessensfehlerhaft, wenn der Kindergeldberechtigte Unterhalt in Höhe des
Kindergeldes oder darüber hinaus leistet (BFH-Urteil vom 23.02.2006 III R 65/04 BStBl.
II 2008, 753 und vom 09.02.2009 III R 37/07 BFH/NV 2009, 1015).
76
Da somit keine fiktiven Kosten (z. B. in Höhe des halben Kindergeldes) für die
Betreuung des HG anzusetzen sind, ist zweifelhaft, ob die durch die FK im Einzelnen
nicht ermittelten evtl. Aufwendungen des Beigeladenen mindestens so hoch wie das
Kindergeld sind. Die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null waren
daher nicht gegeben.
77
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Revision war nicht zuzulassen, weil die hierfür erforderlichen Voraussetzungen des
§ 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen, insbesondere hat die Rechtssache keine
grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
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Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO,
wenn eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, an deren Beantwortung ein allgemeines
Interesse besteht, weil ihre Klärung das Interesse der Allgemeinheit an der
Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Es muss sich um eine aus
rechtssystematischen Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche
Rechtsanwendung wichtige Frage handeln. Eine durch den BFH bereits geklärte
Rechtsfrage ist regelmäßig nicht mehr klärungsbedürftig und kann somit keine
grundsätzliche Bedeutung mehr haben. Eine Ausnahme von dieser Regel gilt dann,
wenn gewichtige neue rechtliche Gesichtspunkte in der Rechtsprechung oder in der
Literatur vorgetragen worden sind, die der BFH noch nicht geprüft hat (vgl. BFH-
Beschluss vom 23.01.1992 II B 64/91, BFH/NV 1992, 676 m. w. N.).
80
Die grundsätzliche Bedeutung ist hier schon deshalb nicht gegeben, weil die streitige
81
Rechtsfrage geklärt ist. Die FK meint, eine Abzweigung des Kindergeldes gemäß § 74
Abs. 1 EStG komme nur in Betracht, wenn der Unterhaltsverpflichtete seine
Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nicht nachkomme. Eine
Unterhaltspflichtverletzung ist nach Auffassung der FK nicht gegeben, solange das Kind
im Haushalt des Berechtigten lebe.
Diese Auffassung hat das Bundeszentralamt für Steuern in seiner Anweisung
(Newsletter 1/2005) bereits früher vertreten. Diese Auffassung hat der BFH jedoch im
Urteil vom 17.12.2008 III R 6/07, BFH/NV 2009, 1001, in dessen Sachverhalt auf diesen
Newsletter hingewiesen worden ist, als unzutreffend angesehen. Der BFH hat dazu
ausgeführt, dass das Finanzgericht zutreffend davon ausgegangen ist, dass der Beigl.
durch die Aufnahme der Kinder in den elterlichen Haushalt keine Unterhaltsleistungen
mindestens in Höhe des Kindergeldes erbracht habe, die eine Abzweigung an die Klin.
ausschließen würde.
82
Der Senat hält diese Auffassung des BFH für zutreffend und legt bei seiner
Entscheidung die Rechtsgrundsätze zugrunde, die der BFH seinem Urteil vom
17.12.2008 a. a. O. zugrunde gelegt hat.
83
Allein wegen der Tatsache, dass die Finanzverwaltung – hier die FK – nicht die vom
BFH entwickelten Rechtsgrundsätze anwenden will, solange dieses BFH-Urteil noch
nicht im BStBl. Teil II veröffentlicht worden ist, kann einer Rechtssache keine
grundsätzliche Bedeutung zukommen.
84
Einer Rechtssache kann zwar grundsätzliche Bedeutung zukommen, weil die
Finanzverwaltung bei einem gleichen Sachverhalt nicht nach den vom BFH
entwickelten Rechtsgrundsätzen verfährt (BFH-Beschluss vom 21.01.1999 IX B 74/98,
BFH/NV 1999, 749 unter Hinweis auf BFH-Beschluss vom 09.08.1968 VI B 46/68,
BStBl. II 1968, 779 m. w. N.). Es liegt hier aber kein Sachverhalt vor, wonach das
Bundesministerium der Finanzen im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden
der Länder die Rechtsprechung des BFH im BFH-Urteil vom 17.12.2008 a. a. O. in Form
eines Nichtanwendungserlasses nicht anwenden will. Ein derartiger Erlass liegt (noch)
nicht vor.
85
Der Vertreter der FK hat in der mündlichen Verhandlung am 30.11.2009 lediglich darauf
hingewiesen, dass die Weisung vom 07.04.2005 (Newsletterausgabe I/2005) des
Bundeszentralamtes für Steuern weiter gelten würde.
86
Ein derartiger Hinweis der FK – selbst wenn dieser aufgrund einer mündlichen Weisung
aus dem Bundeszentralamt für Steuern erfolgt sein sollte – macht die Rechtssache nicht
zu einer von grundsätzlicher Bedeutung.
87
Es ist zum einen in diesem Zwischenstadium, in dem nicht abschließend geklärt ist, ob
ein Nichtanwendungserlass zu den o. a. BFH-Urteil vom 17.12.2008 erfolgen wird,
davon auszugehen, dass sie Finanzverwaltung ebenfalls die Rechtsgrundsätze des
BFH-Urteils vom 17.12.2008 anwenden wird, da sog. Nichtanwendungserlasse zur
BFH-Rechtsprechung nur in Ausnahmefällen erlassen werden.
88
Zum anderen hat hier die FK bisher nicht die grundsätzliche Bedeutung schlüssig
dargelegt (vgl. dazu im BFH-Beschluss vom 17.03.1998 VIII B 67/97, BFH/NV 1998,
1066 m. w. N.). Die FK hat keine beachtlichen vom BFH bei seinem Urteil vom
89
17.12.2008 a. a. O. nicht berücksichtigten Gesichtspunkte vorgebracht, so dass es an
der erforderlichen Klärungsbedürftigkeit auch insoweit fehlt (vgl. dazu BFH-Beschluss
vom 27.08.2003 I B 186/02, BFH/NV 2003, 1581).