Urteil des FG Münster vom 05.06.2003

FG Münster (Adv, Vollziehung, Aussetzung, Einkünfte, Kirchensteuer, Rechtsnorm, Zukunft, Interessenabwägung, Koch, Vollzug)

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Finanzgericht Münster, 7 V 2115/03 E
05.06.2003
Finanzgericht Münster
7. Senat
Beschluss
7 V 2115/03 E
Der Antrag wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Antragstellerin auferlegt
G r ü n d e :
I.
Streitig ist, ob aufgrund nachträglich erklärter Spekulations- bzw. privater
Veräußerungsgewinne festgesetzte Einkommensteuer (ESt) von der Vollziehung
auszusetzen ist.
Die Antragstellerin (Astin.), eine Ärztin, erzielte in den Streitjahren u. a. Einkünfte aus
selbständiger Arbeit, Kapitalvermögen und Vermietung und Verpachtung (VuV). Im Jahr
2001 erklärte sie Einkünfte aus Spekulations- bzw. privaten Veräußerungsgeschäften in
Höhe von 5.070 DM (1997), 2.108 DM (1998) und 7.810 DM (1999) nach. Gegen die vom
Antragsgegner (Ag.) am 28.01.2003 entsprechend geänderten ESt-Bescheide legte die
Astin. Einspruch ein und beantragte die AdV der geänderten Bescheide. Zur Begründung
führte sie die Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen an. Das
Finanzamt (FA) lehnte den Antrag auf AdV ab (Bescheid vom 25.02.2003).
Dagegen legte die Astin. Einspruch ein, der ohne Erfolg blieb (Einspruchsentscheidung -
EE- vom 25.03.2003). Die Ablehnung begründete der Ag. damit, dass
verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit einer Rechtsnorm zwar grundsätzlich
eine AdV rechtfertigen könnten. Im Hinblick auf den Geltungsanspruch eines formell
verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes müsse jedoch ein besonderes
berechtigtes Interesse des Ast. vorliegen, um eine AdV zu rechtfertigen. Im Streitfall seien
keine individuellen Rechte der Astin. ersichtlich, die die öffentlichen Belange,
insbesondere das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung, überstiegen.
Außerdem sei davon auszugehen, dass die streitigen Rechtsnormen im Fall der
Verfassungswidrigkeit nicht für nichtig erklärt würden, sondern lediglich Neuregelungen für
die Zukunft zu treffen seien.
Am 16.04.2003 hat die Astin. die AdV der ESt-Bescheide 1997 - 1999 gemäß
§ 69 Abs. 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) beantragt.
Sie ist der Ansicht, dass der Ag. die öffentlichen Belange nicht höher bewerten dürfe, als
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die individuellen Belange der Astin. Der BFH habe die Verfassungswidrigkeit der
Besteuerung der Spekulationsgewinne damit begründet, dass ein Vollzugsdefizit bei der
Durchsetzung der Norm bestehe. In einem solchen Fall könne der Ag. sich nicht auf eine
geordnete öffentliche Haushaltsführung berufen.
Die Astin. beantragt,
folgende Beträge von der Aussetzung der Vollziehung auszusetzen:
Einkommensteuer 1997
1.375,37 Euro
rk. Kirchensteuer 1997
123,78 Euro
Solidaritätszuschlag 1997
103,15 Euro
Zinsen
310,06 Euro
Einkommensteuer 1998
524,59 Euro
rk. Kirchensteuer 1998
47,22 Euro
Solidaritätszuschlag 1998
28,85 Euro
Zinsen
85,00 Euro
Einkommensteuer 1999
456,19 Euro
rk. Kirchensteuer 1999
55,80 Euro
Solidaritätszuschlag 1999
44,00 Euro
Zinsen
34,10 Euro.
Der Ag. beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Er hält an seiner in der EE vertretenen Rechtsauffassung fest.
II.
Der Antrag ist unbegründet.
Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Sätze 2, 7 FGO soll das Gericht der Hauptsache die
Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen, wenn
ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen
oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende
öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel sind zu bejahen,
wenn bei überschlägiger Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im
Aussetzungsverfahren neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen
gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die
Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit
in der Beurteilung von Tatfragen bewirken. Diese Grundsätze sind auch anzuwenden,
wenn die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes mit Bedenken gegen die
Verfassungsmäßigkeit einer dem Bescheid zugrunde liegenden Norm begründet werden
(BFH, Beschluss vom 29. März 2001, III B 79/00, BFH/NV 2001, 1244, mit weiteren
Nachweisen, BFH-Beschluss vom 27. August 2002, XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl. II
203, 18).
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Die Astin. leitet die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der auszusetzenden
Steuerbescheide aus Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 23 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 b Einkommensteuergesetz (EStG) her. Der BFH hat in seinem Beschluss vom
16. Juli 2002 (IX R 62/99, BFHE 199, 451, BStBl. II 203, 74) die Verfassungsmäßigkeit
dieser Vorschrift bereits verneint; ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der
streiterheblichen Rechtsnorm liegen somit vor (vgl. dazu Hübschmann/Hepp/Spitaler-
Birkenfeld, AO/FGO, § 69 Rdnr. 330).
Wird der Antrag auf AdV mit der Verfassungswidrigkeit einer Norm begründet, verlangt die
Rechtsprechung - der der Senat folgt - für eine AdV zusätzlich zu den sonstigen
Voraussetzungen eine zugunsten des Ast. ausfallende Interessenabwägung zwischen den
individuellen Interessen des Ast. auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und den
Belangen des Staates an einer verlässlichen Haushaltsplanung (BFH-Beschlüsse vom 21.
Mai 1992 X B 106/91, BFH/NV 1992, 721, vom 20. Juli 1990, III B 144/89, BFHE 162, 542,
BStBl. II 1991, 104, vom 12. August 2002, VIII B 69/02, BFH/NV 2002, 1579).
Zwar werden durch dieses zusätzliche Abwägungserfordernis an die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes bei behaupteter Verfassungswidrigkeit einer Norm höhere
Anforderungen gestellt als bei einem Verstoß gegen das einfache Recht (vgl. dazu
Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rdnr. 96 ff.). Dies ist jedoch gerechtfertigt, weil formell
ordnungsgemäß zustande gekommene Gesetze zunächst die Vermutung der
Verfassungsmäßigkeit für sich haben (BFH-Beschlüsse, BFH/NV 2002, 1579 und BFHE
199, 566, BStBl. II 2003, 18 und Hübschmann/Hepp/Spitaler/Birkenfeld, AO/FGO, § 69
FGO Rdnr. 3319). Erst und nur durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
kann eine Norm als mit dem Grundgesetz unvereinbar oder für nichtig erklärt werden (§ 31
Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, BVerfGG). Durch die
Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes in Form der AdV würde aber eine von den
Fachgerichten für verfassungswidrig gehaltene Norm praktisch zeitweilig außer Kraft
gesetzt, ohne dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dem die alleinige
Verwerfungskompetenz zukommt, vorliegt (vgl. dazu auch BFH-Beschluss vom 10. Februar
1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl. II 1984, 454).
Im Streitfall geht die Abwägung zwischen den Interessen der Astin. und denen des Staates
zu Lasten der Astin.
Ein berechtigtes Interesse eines Ast. an der AdV des angefochtenen Steuerbescheides
wird von der Rechtsprechung angenommen, wenn das zu versteuernde Einkommen des
Ast. so niedrig ist, dass nach Entrichtung der Steuer zur Bestreitung des Lebensunterhalts
nur ein unter dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum liegender Betrag verbleibt (BFH-
Urteile vom 29. Dezember 1991, III B 83/91, BFH/NV 1992, 246 und vom 25. Juli 1991, III B
555/90, BFHE 164, 570, BStBl. II 1991, 876 und Hübschmann/Hepp/Spitaler/Birkenfeld,
AO/FGO, § 69 Rdnr. 333) oder wenn ihm durch den Vollzug irreparabele Nachteile drohen
(Gräber/Koch, FGO, 5. Auflage, § 69 Rdnr. 113).
Die Astin., welcher es im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes obliegt, die
entscheidungserheblichen Tatsachen vorzutragen und glaubhaft zu machen (Gräber/Koch,
FGO, § 69 Rdnr. 120 ff. mit weiteren Nachweisen) hat weder derartige noch andere Gründe
vorgetragen, die ihr besonderes Interesse an der AdV der streitigen Bescheide
rechtfertigen. Auch aus den dem Senat vorliegenden Akten sind derartige Gründe nicht
ersichtlich. Die begehrte Aussetzung liegt in den Streitjahren zwischen 590 und 1.913
Euro; das zu versteuernde Einkommen der Astin. liegt zwischen 106.857 Euro und 178.800
Euro.
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Demgegenüber besteht, entgegen der Aussetzung der Astin., ein berechtigtes Interesse
des Staates am Vollzug der streitigen Steuerbescheide.
Zwar hat der Bundesfinanzhof in seinem Beschluss vom 16. Juli 2002 (BFHE 1999, 451,
BStBl. II 203, 74) die verfassungsrechtlichen Bedenken an der Vorschrift des § 23 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 b EStG mit einem Vollzugsdefizit bei der Durchsetzung der Norm begründet.
Dies führt aber nicht dazu, dass das Interesse an einer geordneten Haushaltsführung in
diesem Fall nicht schutzwürdig ist (so etwa P. Schmidt, DB 2003, 473). Das Interesse des
Staates an einer geordneten und verlässlichen Haushaltsplanung und -führung wird gerade
durch den Geltungsanspruch eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen
Gesetzes gewährleistet. Der Haushaltsgesetzgeber soll bei seiner Finanzplanung darauf
vertrauen dürfen, dass die im jährlichen Staatshaushalt berücksichtigten Einnahmen nicht
wieder herausgegeben werden müssen. Einer derartigen Haushaltsplanung würde es aber
zuwiderlaufen, wenn die Einkünfte aus Spekulationsgewinnen über die - vom BFH
festgestellten - erhebungsbedingten Defizite hinaus gänzlich entfielen.
Weiter ist bei der Entscheidung zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht bei
seinen neueren Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit von Steuergesetzen
Unvereinbarkeitserklärungen wegen des Erfordernisses einer verlässlichen
Haushaltsplanung und -sicherheit nur für die Zukunft ausgesprochen hat
(Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 25. September 1992, 2 BvL 5/91, BVErfGE
87, 153, BStBl. II 1993, 413; vom 22. Juni 1995, 2 BvR 552/91, BVErfGE 93, 165, BStBl. II
1995, 671 und vom 10. November 1998, 2 BvL 42/93, BVErfGE 99, 246, BStBl. II 1999,
174).
Auch aus diesem Grund geht nach Ansicht des Senats die Interessenabwägung zu Lasten
der Astin., welche - wie bereits dargelegt - keine berechtigten Interessen für eine AdV
vorgebracht hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Beschwerde wird gem. § 128 Abs. 3 i. V. m. § 115 Abs. 2 FGO wegen grundsätzlicher
Bedeutung zugelassen.