Urteil des FG Münster vom 12.01.2006

FG Münster: rechtshängigkeit, entschädigung, konkursverfahren, einkünfte, steuerbetrag, verwaltungsakt, anwendungsbereich, zivilprozessordnung, vollstreckbarkeit, beschränkung

Finanzgericht Münster, 12 K 1979/04 E
Datum:
12.01.2006
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 K 1979/04 E
Tenor:
Unter Aufhebung des Zinsbescheids vom 29.09.2003 und der
Einspruchsentscheidung vom 16.03.2004 wird der Beklagte verpflichtet,
für die Kläger Prozesszinsen in Höhe von 4.342,50 EUR festzusetzen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung
in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger vorläufig
vollstreckbar.
G r ü n d e :
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Zu entscheiden ist, ob das Finanzamt (FA) zu Recht die Festsetzung von Prozesszinsen
gemäß § 236 Abgabenordnung (AO) abgelehnt hat.
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Der Kläger (Kl.) war an der im Jahre 1966 gegründeten Fa. GmbH & Co. KG (KG)
beteiligt, deren Gesellschaftszweck die Errichtung des sog. in B war. Nach Baubeginn
im Jahre 1969 geriet die KG im Jahre 1974 in Liquiditätsschwierigkeiten. Im Jahre 1974
wurde über das Vermögen der KG das Konkursverfahren eröffnet. Mit der Versteigerung
des Bauobjektes am 29.09.1977 wurde das Konkursverfahren abgeschlossen. Die KG
war damit voll beendigt.
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Nach dem Feststellungsbescheid vom 30.04.1986 belief sich der Gewinn der KG für das
Kalenderjahr 1977 auf 61.404.771,00 DM. Hiervon entfiel auf den Kl. ein
Veräußerungsgewinn von 51.111,31 DM. Dementsprechend führte das FA die
Einkommensteuerveranlagung der Kl. für das Kalenderjahr 1977 durch Bescheid vom
20.01.1987 durch.
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Gegen die Gewinnfeststellung 1977 für die KG wandte sich ein anderer Kommanditist
mit dem Einspruchsverfahren und einem anschließenden Klageverfahren vor dem
Finanzgericht Berlin. Der Kl. in jenem Verfahren erreichte, dass das dortige FA seine
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Gewinnanteile an der KG für das Kalenderjahr 1977 durch Änderungsbescheid auf 0,00
DM feststellte. Die Kosten des Verfahrens vor dem Finanzgericht Berlin wurden durch
Urteil vom 03.11.1999 2 K 2074/97 dem dortigen Kl. auferlegt. Diese
Kostenentscheidung änderte der Bundesfinanzhof (BFH) im Beschwerdeverfahren über
die Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin durch
Beschluss vom 13.12.2000 IV B 33/00 dahingehend ab, dass die Kosten des Verfahrens
gegeneinander aufgehoben wurden.
Durch Feststellungsbescheid des FA für Körperschaften IV in vom 23.12.2002 wurde
auch der ursprünglich für den Kl. festgestellte Veräußerungsgewinn an der KG auf 0,00
DM abgeändert. Daraufhin änderte das FA die Einkommensteuerveranlagung der Kl. für
das Kalenderjahr 1977 durch Bescheid vom 01.08.2003. Dies führte zu einer Erstattung
von Einkommensteuer an die Kl. in Höhe von 4.512,15 EUR.
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Mit Schriftsatz vom 04.09.2003 beantragten die Kl. beim FA die Festsetzung von
Prozesszinsen gemäß § 236 AO. Diesen Antrag lehnte das FA durch Bescheid vom
29.09.2003 ab. Der hiergegen erhobene Einspruch der Kl. blieb erfolglos. In der
Einspruchsentscheidung (EE) des FA vom 16.03.2004 ist im Wesentlichen ausgeführt:
Die Voraussetzungen für die Zahlung von Prozesszinsen an die Kl. gemäß § 236 AO
seien nicht erfüllt. Aus § 236 Abs. 3 AO sei zu entnehmen, dass nur dem Beteiligten, der
die Herabsetzung der Steuer selbst eingeklagt habe, Prozesszinsen als
erfolgsqualifizierte Nebenfolge seiner Inanspruchnahme des Gerichts zustehen sollten.
Nach dieser Bestimmung knüpfe der Anspruch auf Prozesszinsen an eine auch mit dem
Kostenrisiko des § 137 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) verbundene Beteiligung im
finanzgerichtlichen Verfahren an. Beteiligter im Sinne der erwähnten Bestimmung könne
nur ein Hauptbeteiligter im Sinne des § 57 Nr. 1 FGO sein, nicht aber ein
Nebenbeteiligter im Sinne des § 57 Nr. 3 FGO oder gar ein sonstiger Dritter. Dies müsse
entsprechend auch im Anwendungsbereich des § 236 Abs. 2 Nr. 2 a AO gelten.
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Gegen diese EE haben die Kl. Klage erhoben, mit der sie weiterhin Prozesszinsen
gemäß § 236 AO geltend machen. Zur Begründung tragen sie vor: Das FA gehe bei
seiner Entscheidung davon aus, dass Erstattungszinsen gleichzeitig eine "Belohnung"
für denjenigen darstellten, der ein Prozessrisiko getragen habe. Diese Auffassung sei
jedoch abzulehnen. Zinsen seien ausschließlich eine Gegenleistung dafür, dass der
Steuerpflichtige den fraglichen Steuerbetrag vom Zeitpunkt der ursprünglichen Fälligkeit
an nicht habe nutzen können. Zinsen seien eine Folge des Prozessausganges. Für die
Dauer der Rechtshängigkeit sei der zu zahlende bzw. zu erstattende Steuerbetrag als
Ausgleich für den Gebrauch eines auf Zeit überlassenen bzw. vorenthaltenen
Geldbetrages zu verzinsen. Dies gelte gemäß § 236 Abs. 2 Nr. 2 a AO auch dann, wenn
eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder ein unanfechtbarer Verwaltungsakt,
durch den sich der Rechtsstreit erledigt habe, zur Herabsetzung der in einem
Folgebescheid festgesetzten Steuer führe. Zweck der Bestimmung sei es, dem
Gläubiger eines Erstattungsanspruches für die Vorenthaltung des Kapitals und die damit
verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine
Entschädigung zu gewähren. Das vom FA zitierte Urteil des Hessischen Finanzgerichts
vom 07.11.2002 7 K 2143/02, EFG 2003,508 stehe im Widerspruch zur überwiegenden
Literaturmeinung.
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Die Kl. beantragen,
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das FA zu verpflichten, für die Einkommensteuer 1977 Prozesszinsen in Höhe
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von 4.342,50 EUR festzusetzen,
hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.
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Das FA beantragt,
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die Klage abzuweisen,
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hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.
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Es nimmt Bezug auf die Gründe der EE vom 16.03.2004 sowie auf das Urteil des
Hessischen Finanzgerichtes vom 07.11.2002 7 K 2143/02.
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Die Klage ist begründet.
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Den Kl. stehen Prozesszinsen in der beantragten Höhe gemäß § 236 Abs. 1 i. V. m.
Abs. 2 Nr. 2 a AO zu. Nach Abs. 1 der erwähnten Bestimmung ist, wenn durch eine
rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen eine festgesetzte
Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt wird, der zu erstattende oder zu
vergütende Betrag vorbehaltlich des Abs. 3 vom Tage der Rechtshängigkeit an bis zum
Auszahlungstag zu verzinsen. Diese Bestimmung ist gemäß § 236 Abs. 2 Nr. 2 a AO
entsprechend anzuwenden, wenn eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder ein
unanfechtbarer Verwaltungsakt, durch den sich der Rechtsstreit erledigt hat, zur
Herabsetzung der in einem Folgebescheid festgesetzten Steuer führt. Bei zutreffender
Auslegung dieser Bestimmungen ist ein Anspruch auf Prozesszinsen – zumindest im
Anwendungsbereich des § 236 Abs. 2 Nr. 2 a AO – nicht nur dann gegeben, wenn der
Steuerpflichtige selbst als Kl. einen Prozess geführt hat.
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Eine entsprechende Forderung kann aus dem Wortlaut der Bestimmungen des § 236
Abs. 1 und Abs. 2 AO nicht entnommen werden. Aus dem Wortlaut dieser Vorschriften
ist nicht abzuleiten, welche Person den Rechtsstreit geführt haben muss, um
Prozesszinsen beanspruchen zu können.
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Eine Beschränkung des Anspruchs auf Prozesszinsen auf Kl. und nicht auf vom
Verfahren betroffene Personen, würde auch dem Zweck des § 236 AO nicht gerecht.
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist es Zweck des § 236 AO, dem Gläubiger
eines Erstattungsanspruches für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit
verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine
Entschädigung zu gewähren (vgl. BFH-Urteile vom 13.07.1994 I R 38/93, BStBl. II 1995,
37 und vom 16.11.2000 XI R 31/00, BStBl. II 2002, 119 m. w. H.). Im Fall einer
einheitlichen und gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen, wie auch in
diesem Fall, ist aber nicht nur der den Grundlagenbescheid anfechtende Kl., sondern
sind alle am Gegenstand der Feststellung Beteiligten betroffen. Der Zweck der
Bestimmung rechtfertigt daher eine Auslegung, die auch diesem Personenkreis einen
Anspruch auf Prozesszinsen zugesteht (vgl. Niedersächsisches FG, Urteil vom
13.5.2003 13 K 508/98, EFG 2003, 1514; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler,
AO/FGO, Kommentar, § 236 AO Rdnr. 33; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar
März 2005, § 236 AO Rdnr. 28).
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Etwas Gegenteiliges kann nicht aus § 236 Abs. 3 AO entnommen werden. Diese
Bestimmung soll nur den ungerechtfertigt das Gericht in Anspruch Nehmenden von der
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Gewährung von Prozesszinsen ausschließen (vgl. Niedersächsisches FG, Urteil vom
13.5.2003 13 K 508/98). So ist es im Streitfall aber nicht.
Hiernach können die Kl. Prozesszinsen beanspruchen. Der Grundlagenbescheid des
FA für Körperschaften IV in Berlin, mit dem die Einkünfte der Beteiligten an der KG für
das Kalenderjahr 1977 einheitlich und gesondert festgestellt wurden, wurde aufgrund
des Klageverfahrens eines anderen Kommanditisten geändert. Diese Änderung hatte
zur Folge, dass ein Veräußerungsgewinn im Rahmen der Feststellung der Einkünfte der
Beteiligten an der KG nicht mehr anzusetzen war. Die Änderung des
Grundlagenbescheides für die KG für das Kalenderjahr 1977 hat auch zur Herabsetzung
der Einkommensteuer für das Kalenderjahr 1977 für die Kl. in dem Folgebescheid vom
01.08.2003 geführt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO), die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 3 FGO i. V. m. § 709
Zivilprozessordnung.
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Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen. Die Sache hat
grundsätzliche Bedeutung. Zu der Streitfrage werden unterschiedliche Auffassungen
von Finanzgerichten vertreten. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
erfordert daher eine Entscheidung des BFH.
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