Urteil des FG Münster vom 27.04.2005
FG Münster: künstliche befruchtung, ständige kommission, belastung, heilbehandlung, zustand, krankenkasse, persönlichkeit, sicherheitsleistung, begriff, lebensgemeinschaft
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Finanzgericht Münster, 1 K 7062/01 E
27.04.2005
Finanzgericht Münster
1. Senat
Urteil
1 K 7062/01 E
Unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 21.11.2001 und
Änderung des Einkommensteuer-Bescheides vom 16.10.2000 wird die
Einkommensteuer 1999 auf 15.575 DM (7.663,37 EUR) festgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung
vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die
Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
T a t b e s t a n d
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Kosten einer künstlichen Befruchtung als
außergewöhnliche Belastungen nach § 33 Abs. 1 EStG abzugsfähig sind.
Die ledige Klägerin (Klin.) lebt seit 1987 in einer nichtehelichen
Lebensgemeinschaft mit Herrn K . Im Einspruchsverfahren gegen den
Einkommensteuer(ESt)-Bescheid 1999 vom 16.10.2000 machte sie Ausgaben im
Zusammenhang mit einer künstlichen Befruchtung in Höhe von 23.977,29 DM als
außergewöhnliche Belastungen geltend.
Die C Krankenkasse hatte die Erstattung der Kosten abgelehnt. Eine dagegen
erhobene Klage hatte das Sozialgericht ... durch Urteil vom 25.04.2002 (S 44 KR 208/01)
abgewiesen. Die eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht ... durch Urteil vom
23.10.2003 (L 5 KR 120/02) zurück. Nach § 27 a Abs. 1 Nr. 3 SGB V dürften Leistungen der
künstlichen Befruchtung nur bei miteinander verheirateten Personen zu Lasten der
gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt werden. Das Bundessozialgericht hat die
Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Landessozialgerichts durch
Beschluss vom 07.01.2005 verworfen.
In der Einspruchsentscheidung (EE) vom 21.11.2001 lehnte der Beklagte (Bekl.)
den beantragten Ansatz außergewöhnlicher Belastungen ab. Zwar habe der BFH (Urteil
vom 18. Juni 1997 III R 84/96, BFHE 183/476, BStBl II 1997, 805) den Abzug derartiger
Aufwendungen bei einem Ehepaar zugelassen, bei dem die Ehefrau empfängnisunfähig
gewesen sei. Eine nicht verheiratete Frau befände sich jedoch nicht in der selben
Zwangslage. Die Aufwendungen seien daher nicht zwangsläufig entstanden.
Zur Begründung der mit Schreiben vom 19.12.2001 erhobenen Klage trägt die
Klin. vor, die "Ständige Kommission ..." der Ärztekammer ... habe die Behandlung der Klin.
mit Schreiben vom 05.11.1998 befürwortet. Die C Krankenkasse habe die
Kostenübernahme der entstandenen Kosten rechtskräftig abgelehnt.
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Im Streitfall handele es sich ebenso wie in der BFH-Entscheidung vom
18.06.1997 um Ausgaben für eine homologe künstliche Befruchtung. Einziger Unterschied
zu dem vom BFH entschiedenen Fall sei es, dass die Klin. nicht in einer Ehe, sondern in
einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebe.
Auch bei unverheirateten Frauen gehöre das Recht, Kinder zu haben, zum
Kernbereich des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Zwangsläufigkeit
der Aufwendungen für die künstliche Befruchtung begründe sich allein durch die
mangelnde Fähigkeit einer Frau, Kinder auf natürlichem Wege mit ihrem Partner
bekommen zu können. Wenn die mangelnde Empfängnisfähigkeit bei einer verheirateten
Frau eine krankhafte Abweichung vom Normalzustand darstelle, könne für jede andere
Frau nichts anderes gelten.
Die Klin. beantragt,
unter Aufhebung der EE vom 21.11.2001 und Änderung des ESt-
Bescheides vom 16.10.2000 die ESt 1999 unter Berücksichtigung außergewöhnlicher
Belastungen nach § 33 EStG in Höhe von 23.977,29 DM niedriger festzusetzen,
im Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.
Der Bekl. beantragt,
die Klage abzuweisen,
im Fall des Unterliegens, die Revision zuzulassen.
Zur Begründung hält er an seiner im Verwaltungsverfahren vertretenen
Auffassung fest. Zur Ergänzung trägt er unter Hinweis auf die Entscheidungen der
Sozialgerichte vor, dem Gesetzgeber sei es nicht verwehrt, die Ehe auf Grund des Artikels
6 Abs. 1 GG gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen. Dieser Grundsatz gelte
auch im Steuerrecht. Nichteheliche Lebensgemeinschaften und eingetragene
Partnerschaften würden nach dem Willen des Gesetzgebers steuerlich nicht der Ehe
gleichgestellt. Daher seien die geltend gemachten Aufwendungen für die künstliche
Befruchtung im Streitfall nicht als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Beteiligten
gewechselten Schriftsätze und die Steuerakte verwiesen.
Der Senat hat am 27.04.2005 mündlich verhandelt. Auf das Protokoll wird Bezug
genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
Die Klage ist begründet.
Der Bekl. hat die geltend gemachten Aufwendungen für die von der Ärztekammer
... befürwortete künstliche Befruchtung zu Unrecht nicht als Krankheitskosten im Rahmen
der außergewöhnlichen Belastungen nach § 33 Abs. 1 EStG berücksichtigt.
Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn
einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden
Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse und
gleichen Familienstandes erwachsen. Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen
zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen
nicht entziehen kann, soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und
einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Krankheitskosten entstehen regelmäßig aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig,
wenn sie entweder der Heilung oder dem Zweck dienen, die Krankheit erträglich zu
machen und ihre Folgen zu lindern (BFH, Urteil vom 04. Juli 2002 III R 58/98, BFH/NV
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2002, 1527 m.w.N.). Der Begriff der Heilbehandlung umfasst alle Eingriffe und andere
Behandlungen, die nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde Krankheiten,
Leiden und körperliche Beschwerden oder seelische Störungen verhüten, erkennen, heilen
oder lindern (BFH, Urteil vom 18. Mai 1999 III R 46/97, BFHE 188, 566, BStBl II 1999, 761).
Aufwendungen für eine Heilbehandlung im eigentlichen Sinne sind typisierend als
außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen, ohne dass es im Einzelfall der
grundsätzlich nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit der
Aufwendungen dem Grunde und der Höhe nach bedarf (BFH, Urteil vom 03. Dezember
1998 III R 5/98, BFHE 187, 503, BStBl II 1999, 227 m.w.N.).
Der Begriff Krankheit setzt einen anormalen, regelwidrigen (körperlichen,
geistigen, seelischen) Zustand voraus, erschöpft sich darin jedoch nicht. Wesentlich für das
Vorliegen einer Krankheit ist vielmehr auch die Auffassung der Gesellschaft und der
jeweiligen Rechtskultur, die regelwidrige Zustände oder Erscheinungen in einer unter
Umständen dem geschichtlichen Wandel unterworfenen Weise unterschiedlich bewertet.
Entscheidend für die Annahme einer Krankheit ist, ob es sich um einen allenfalls als
missliebig anzusehenden Zustand handelt oder um einen anormalen Zustand, der
Störungen oder Behinderungen in der Ausübung normaler psychischer oder körperlicher
Funktionen von solchem Gewicht zur Folge hat, dass er nach herrschender Auffassung
einer medizinischen Behandlung bedarf. Ein krankhafter Zustand ist dabei
einkommensteuerrechtlich um so eher anzunehmen, je stärker die freie Entfaltung der
Persönlichkeit in ihrem wesentlichen Kernbereich betroffen ist (BFH, Urteil vom 18. Juni
1997 III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 993).
Auf dieser Grundlage hat der BFH im Urteil vom 18. Juni 1997 (III R 84/96, BFHE
183, 476, BStBl II 1997, 993) die Empfängnisunfähigkeit einer verheirateten Frau als
Krankheit, als einen Defekt, den hinzunehmen oder im Bereich der steuerrechtlich
irrelevanten, rein privaten Einkommensverwendung zu bewältigen, das ESt-Recht dem
Steuerpflichtigen nicht abverlangt.
Nichts anderes kann in dem Fall gelten, in dem eine - wie im Streitfall - nicht
verheiratete Frau biologisch unfähig ist, ein Kind zu empfangen. Für die Entscheidung der
Frage, ob eine Krankheit vorliegt, kann es auf den Familienstand der betroffenen Person
nicht ankommen (FG Münster, Urteil vom 17. April 2003, 12 K 6611/01 E, EFG 2003, 1311,
Rev. anhängig unter dem BFH-Aktenzeichen III R 30/03; FG Berlin, Urteil vom 30.
September 2003, 5 K 5349/02, EFG 2004, 199, Rev. anhängig unter dem BFH-
Aktenzeichen III R 68/03; Sievers, Anmerkung zu FG Münster, Urteil vom 17. April 2003, 12
K 6611/01 E, EFG 2003, 1312; Rüsken, Künstliche Befruchtung als Heilbehandlung, NJW
1998, 1745). Die Empfängnisunfähigkeit hat bei einer ledigen Frau ebenso Krankheitswert
wie bei einer verheirateten Frau. Das Recht, Nachkommen zu gebären, gehört zum
Kernbereich des Grundrechts der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). Es
steht dem einzelnen Menschen zu und kann daher nicht nur von der verheirateten, sondern
auch von der unverheirateten Frau in Anspruch genommen werden.
Dieses Recht wird tatsächlich in nicht unerheblichem, steigenden Umfang
außerhalb der Ehe wahrgenommen. Im Mai 2003 gab es in Deutschland 747.000 nicht
eheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern, im April 1991 waren es 378.000
(Statistisches Jahrbuch 2004 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 46).
Eine abweichende Bewertung der Empfängnisunfähigkeit nicht verheirateter
Frauen ist nicht im Lichte von Art. 6 Abs. 1 GG geboten. Art. 6 Abs. 1 erschöpft sich nicht
darin, die Ehe in ihrer wesentlichen Struktur zu gewährleisten, sondern gebietet als
verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie
betreffenden privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen Schutz durch die
staatliche Ordnung. Um dem Schutzauftrag Genüge zu tun, ist es insbesondere Aufgabe
des Staates, einerseits alles zu unterlassen, was die Ehe schädigt oder sonst
beeinträchtigt, und sie andererseits durch geeignete Maßnahmen zu fördern. Aus Art. 6
Abs. 1 GG lässt sich jedoch kein Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der
Ehe zu benachteiligen (BVerfG, Urteil vom 17. Juli 2002, 1 BvF 1/01, 1 BvF 2/01, NJW
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2002, 2543 m.w.N.).
Eine empfängnisunfähige ledige Frau, die Kinder gebären möchte, unterliegt zwar
nicht dem besonderen Schutz nach Art. 6 Abs. 1 GG. Das heißt jedoch nicht, dass die
Empfängnisunfähigkeit nur im Rahmen der Ehe eine Krankheit im
einkommensteuerrechtlichen Sinne ist. Kinder zu haben und aufzuziehen bedeutet nicht
nur für verheiratete, sondern auch für viele unverheiratete Menschen eine zentrale
Lebensaufgabe, so dass die ungewollte Kinderlosigkeit als schwere Belastung erlebt
werden kann (vgl. Rüsken, Künstliche Befruchtung als Heilbehandlung, NJW 1998, 1745),
die dazu führt, dass Betroffene den Weg einer Sterilitätsbehandlung auf sich zu nehmen.
Der Senat ist nicht gehalten, unter dem Gesichtspunkt der Einheit der
Rechtsordnung die Kosten der künstlichen Befruchtung nur bei Eheleuten als
außergewöhnliche Belastung anzusehen. § 27 a Abs. 1 Nr. 3 SGB V beschränkt die
Erstattungsfähigkeit dieser Kosten gegenüber gesetzlichen Krankenkassen auf
entsprechende Maßnahmen bei Personen, die miteinander verheiratet sind. Das
Sozialgericht Leipzig (Vorlagebeschluss vom 28. März 2003, S 8 KR 87/02, juris-Nr.:
KSRE093011218) hat dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob diese
gesetzliche Regelung verfassungsgemäß ist. Unabhängig vom Ausgang der
verfassungsgerichtlichen Prüfung hat die ausdrückliche gesetzliche Beschränkung der
Kostenerstattung in § 27 a Abs. 1 Nr. 3 SGB 5 keine Rückwirkung auf die Auslegung des §
33 EStG. Im sozialgerichtlichen Verfahren geht es um das verfassungsrechtliche Problem,
ob der Gesetzgeber unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG befugt war, den
Kostenerstattungsanspruch bei künstlicher Befruchtung vom Bestehen einer Ehe abhängig
zu machen. Steuerrechtlich stellt sich die Frage, ob Art. 6 Abs. 1 GG eine entsprechende
Eingrenzung auf in der Ehe entstandene Aufwendungen verlangt.
Die dem Grunde und der (unbestrittenen) Höhe nach zwangsläufig entstandenen
Kosten sind in vollem Umfang als außergewöhnliche Belastung nach § 33 Abs. 1 EStG zu
berücksichtigen. Die C Krankenkasse hatte die Kostenübernahme rechtskräftig abgelehnt.
Die ESt 1999 ist wie folgt zu ermitteln:
z.v.E. lt. Bescheid vom 16.10.2000 82.090 DM
Aufwendungen künstl. Befruchtung 23.977 DM
Zumutbare Belastung
6 % von 88.670 DM 5.320 DM 18.657 DM
z.v.E. lt. Urteil 63.433 DM
ESt 1999 (Grundtabelle) 15.575 DM
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO
zugelassen.