Urteil des FG Münster vom 16.03.2007

FG Münster: echte rückwirkung, widersprüchliches verhalten, pflegeverhältnis, haushalt, trennung, gesetzesänderung, wohnung, familie, taschengeld, schulklasse

Finanzgericht Münster, 9 K 4803/05 Kg
Datum:
16.03.2007
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 4803/05 Kg
Tenor:
Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 6. Oktober 2004
und die Einspruchsentscheidung vom 9. November 2005 werden
aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Die außergerichtlichen
Kos-ten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung
vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Si-
cherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsan-
spruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicher-
heit in derselben Höhe leistet.
T a t b e s t a n d
1
Streitig ist, ob ein Kind als Pflegekind beim Beigeladenen, der es in seinen Haushalt
aufgenommen hatte, oder als leibliches Kind bei der Klägerin zu berücksichtigen ist.
2
S...... (S), das am 11. Dezember 1986 geborene leibliche Kind der Klägerin, lebte
jedenfalls seit dem 13. August 2001 im Haushalt des Beigeladenen, der der Bruder der
Klägerin und der Onkel der S ist. Seit dem 31. Dezember 2004 lebt S wieder bei der
Klägerin. Die Aufnahme in den Haushalt des Beigeladenen stand in zeitlichem
Zusammenhang mit der Trennung der leiblichen Eltern der S. Die Haushalte der
Klägerin und des Beigeladenen liegen in derselben Gemeinde.
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In den Akten befindet sich die Kopie einer unter dem 16. August 2001 mit dem Namen
der Klägerin unterzeichneten Vollmachtsurkunde, in der es heißt: "Hiermit
bevollmächtige ich, (die Klägerin), bis auf Widerruf (den Beigeladenen), alle
erforderlichen schulischen Erfordernisse und sonstigen, notwendig anfallenden,
erzieherischen Tätigkeiten für meine Tochter (S) zu regeln." Die Klägerin hat bestritten,
diese Urkunde unterzeichnet zu haben; der Beigeladene hat das Original der Urkunde
im Klageverfahren trotz Aufforderung nicht vorgelegt.
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Die Klägerin erhielt bis Oktober 2003 Kindergeld für S. Mit dem angefochtenen
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Bescheid vom 6. Oktober 2004 hob der Beklagte die Festsetzung mit Wirkung ab
September 2001 auf und forderte das für September 2001 bis Oktober 2003 ausgezahlte
Kindergeld zurück. Er war der Auffassung, S sei kindergeldrechtlich nicht bei der
Klägerin, sondern als Pflegekind des Beigeladenen zu berücksichtigen. Ihren Einspruch
begründete die Klägerin ausschließlich damit, das erhaltene Kindergeld im Wege der
Verrechnung mit gegenläufigen Ansprüchen an den Beigeladenen weitergeleitet zu
haben.
Zugunsten des Beigeladenen ist Kindergeld für die Zeit von November 2003 bis
Dezember 2004 festgesetzt worden. Die für den Beigeladenen zuständige
Familienkasse (das Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen –
LBV –) ist der Auffassung, der Beigeladene habe auch für die Zeit von September 2001
bis Oktober 2003 Anspruch auf Kindergeld, will vor einer Festsetzung aber den
Abschluss des vorliegenden Verfahrens abwarten.
6
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren behauptet die Klägerin erstmals im
Klageverfahren, zwischen S und dem Beigeladenen habe kein
Pflegekindschaftsverhältnis bestanden. Vielmehr hätten die Klägerin und deren
geschiedener Ehemann sämtliche Entscheidungen über Schulbesuche, Kleidung,
Taschengeld und Urlaube getroffen. S sei gemeinsam mit ihrem Bruder B..... im Januar
2001 beim Beigeladenen untergebracht worden, um einen Schulwechsel angesichts
eines anstehenden Umzugs der Klägerin zu vermeiden. Dies sei als vorübergehende
Lösung bis zum Bezug einer geeigneten Wohnung gedacht gewesen. Erst als die
Klägerin im August 2003 gemeinsam mit ihrem neuen Ehemann den Umzug in ihre
jetzige Wohnung geplant habe, habe S sich entschieden, nicht mehr zur Klägerin
zurückzukehren. In der früheren Wohnung habe sich ein vollständig eingerichtetes
Zimmer für S befunden; S habe sich in unregelmäßigen Abständen dort aufgehalten.
Die Klägerin habe an den Klassenpflegschaftssitzungen und Elternsprechtagen
teilgenommen und in den Schuljahren 2001/2002 und 2002/2003 den gesamten
Zahlungsverkehr für eine Klassenfahrt der Schulklasse der S organisisert. Sie habe
neben dem Unterhalt auch Schulmaterial, Taschengeld, Kleidung und einen
Zweiradführerschein für S bezahlt. Familiengeburtstage sowie Weihnachten und
Silvester seien gemeinsam gefeiert worden.
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Die Klägerin beantragt,
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den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 6. Oktober 2004 sowie die
Einspruchsentscheidung vom 9. November 2005 aufzuheben.
9
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beigeladene hat schriftsätzlich zwar einen Antrag angekündigt, in der mündlichen
Verhandlung aber erklärt, dass er keinen Antrag stellen wolle.
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Er behauptet, sämtliche Entscheidungen für S getroffen, insbesondere die
Anmeldungen an den von ihr besuchten Schulen vorgenommen zu haben. Er habe an
den Elternpflegschaftssitzungen teilgenommen und sei ausschließlicher
Ansprechpartner der Schulen gewesen. Die Klägerin habe wegen des schlechten
Verhältnisses zwischen ihr und S gar nicht gewusst, welche Schule das Kind besuche.
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S sei vollkommen in seinen Familienverbund integriert gewesen. Freizeitgestaltung,
Ausflüge und Familienfeiern seien gemeinsam durchgeführt worden. Es seien weder
Möbel noch sonstige persönliche Gegenstände der S bei der Klägerin verblieben. Da
die Klägerin zunächst nur geringen Unterhalt geleistet habe, sei S auch zu einem
erheblichen Teil auf Kosten des Beigeladenen unterhalten worden. Belege über die
angefallenen Kosten habe er jedoch nicht aufbewahrt, weil dies innerhalb der Familie
nicht üblich sei.
Der Beklagte vertritt die Auffassung, es sei widersprüchlich, wenn die Klägerin
einerseits meine, selbst kindergeldberechtigt zu sein, andererseits aber behaupte, das
Kindergeld an den Beigeladenen weitergeleitet zu haben. Sie habe für S noch nicht
einmal den Mindestunterhalt nach der Düsseldorfer Tabelle an den Beigeladenen
gezahlt. Im Übrigen befänden sich Kinder im damaligen Alter der S in einer schwierigen
Entwicklungsphase, die eine intensive persönliche Betreuung erfordere.
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Der Berichterstatter hat Auskünfte der Schulen eingeholt, die S besucht hat. Auf diese
Auskünfte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 16. März 2007 wird
Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
16
Die Klage ist begründet. Der angefochtene Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid
ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der
Finanzgerichtsordnung – FGO –).
17
1. Der Beklagte durfte die zugunsten der Klägerin ergangene Kindergeldfestsetzung
nicht aufheben, weil S bei der Klägerin im Streitzeitraum gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
des Einkommensteuergesetzes (EStG) als Kind i.S.d. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu
berücksichtigen war.
18
Der Beigeladene, der S im hier maßgebenden Zeitraum unstreitig in seinen Haushalt
aufgenommen hatte, ist nicht vorrangig kindergeldberechtigt. Die Haushaltsaufnahme ist
gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nur von Bedeutung, wenn der Inhaber des Haushalts zu
den "Berechtigten" i.S.d. § 63 EStG gehört. Dies würde im Streitfall – da alle anderen
Alternativen des § 63 EStG nicht in Betracht kommen – voraussetzen, dass zwischen
dem Beigeladenen und S ein Pflegekindschaftsverhältnis i.S.d. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG
bestanden hätte. Dies ist aber nicht der Fall.
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a) Maßgebend für die Entscheidung des Streitfalls ist § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG in der
Fassung des Steueränderungsgesetzes 2003 (StÄndG 2003) vom 15. Dezember 2003
(BGBl. I 2003, 2645). Diese Änderung hat Rückwirkung für alle noch nicht
bestandskräftigen Fälle (§ 52 Abs. 40 Satz 1 EStG; vgl. dazu unten f), also auch für den
Streitfall.
20
Danach erfordert ein Pflegekindschaftsverhältnis, dass der Steuerpflichtige (hier: der
Beigeladene)
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– mit dem Kind durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band
verbunden ist,
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– es in seinen Haushalt aufgenommen hat (wobei die Haushaltsaufnahme nicht zu
23
Erwerbszwecken erfolgen darf) und
– das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern (gemeint sind die leiblichen Eltern
des Kindes) nicht mehr besteht.
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Die beiden erstgenannten Voraussetzungen (familienähnliches Band,
Haushaltsaufnahme) liegen im Streitzeitraum im Verhältnis zwischen S und dem
Beigeladenen vor, was zwischen den Beteiligten letztlich auch nicht streitig ist. Der
Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses steht aber entgegen, dass im hier
maßgebenden Zeitraum ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen S und der Klägerin
als ihrer leiblichen Mutter fortbestand.
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b) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist für die Annahme einer
Pflegekindschaft im steuerrechtlichen Sinne nur Raum, wenn das Band zwischen dem
Kind und den leiblichen Eltern in einem viel stärkeren Maße zerrissen ist als bei einer
bloßen räumlichen Trennung. Maßgebend ist vielmehr, ob die leiblichen Eltern sich
nicht mehr um das Kind kümmern (BFH-Urteil vom 20. Januar 1995 III R 14/94, BStBl. II
1995, 582, unter 1., mit Verweis auf den – vor der Aufnahme einer ausdrücklichen
gesetzlichen Definition ergangenen – BFH-Beschluss vom 25. Januar 1971 GrS 6/70,
BStBl. II 1971, 274, unter III.1.b).
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Als entscheidende Kriterien für die vorzunehmende Einzelfallbetrachtung hat der BFH
u.a. das Alter des Kindes, die Anzahl und Dauer der Begegnungen zwischen den
leiblichen Eltern und dem Kind und das Bestehen eines Obhuts- und
Pflegeverhältnisses zu den leiblichen Eltern in der Zeit vor der räumlichen Trennung
angesehen (BFH-Urteile in BStBl. II 1995, 582, unter 1., und vom 7. September 1995 III
R 95/93, BStBl. II 1996, 63, unter II.1.a bb). Während ein Kleinkind noch so
umfangreicher Fürsorge und Zuwendung bedarf, dass es verhältnismäßig schnell ein –
im Wesentlichen ausschließliches – Obhuts- und Pflegeverhältnis zu Pflegeeltern
aufbauen wird, die das Kind wie ein eigenes bei sich aufnehmen, wird dies bei einem
älteren Kind nicht ohne Weiteres der Fall sein. Typisierend geht der BFH davon aus,
dass bei noch nicht schulpflichtigen Kindern kein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den
leiblichen Eltern mehr feststellbar ist, wenn über mindestens ein Jahr lang keine
ausreichenden Kontakte mehr bestehen. Bei schulpflichtigen Kindern wird ein Zeitraum
von etwa zwei Jahren erforderlich sein; bei noch älteren Kindern wird sich überhaupt
kein fester Zeitraum mehr nennen lassen (vgl. BFH-Urteile in BStBl. II 1995, 582, unter
1.; in BStBl. II 1996, 63, unter II.1.a bb, und vom 20. Juli 2006 III R 44/05, BFH/NV 2007,
17, unter II.2.a aa).
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Bei fast volljährigen Kindern ist die persönliche Anwesenheit der leiblichen Eltern nicht
von ausschlaggebender Bedeutung für den Fortbestand des Obhuts- und
Pflegeverhältnisses. Vielmehr genügt es, wenn die Kinder "noch in Verbindung mit den
leiblichen Eltern stehen" (BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 17, unter II.2.a aa). Selbst ein
vollständiger Abbruch des Kontakts schadet nicht, wenn er nur einige Monate andauert
(BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 17, unter II.2.a bb). Umgekehrt reichen gelegentliche
Treffen im Abstand von etwa zwei Monaten, bei denen der leibliche Elternteil dem Kind
kleinere Geldbeträge (20 - 30 DM) überreicht, für den Fortbestand des Obhuts- und
Pflegeverhältnisses aus, weil derartige Zuwendungen regelmäßig Ausdruck einer
typischen Eltern-Kind-Beziehung sind (BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 17, unter II.2.a bb).
28
Der erkennende Senat hält die Grundsätze der dargestellten höchstrichterlichen
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Rechtsprechung auch aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten. Denn die
Familie steht unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung; Pflege und
Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der (gemeint: leiblichen) Eltern und die
zuvörderst ihnen obliegende Pflicht (Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes –
GG –). Wenn aber die Anforderungen an die Bejahung eines
Pflegekindschaftsverhältnisses – wie es der Beklagte und der Beigeladene begehren –
deutlich herabgesetzt würden, würde die Rechtsprechung in einer Weise in den
Schutzbereich des Art. 6 GG und das Elternrecht eingreifen, die nicht durch
anderweitige, in ihrem sachlichen Gewicht höher zu bewertende Erfordernisse geboten
wäre.
c) Der erkennende Senat ist davon überzeugt, dass während des gesamten
Streitzeitraums noch ein hinreichendes Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen S und
der Klägerin bestanden hat.
30
Vorliegend befand S sich zu Beginn des Streitzeitraums im 15. Lebensjahr und zum
Ende des Streitzeitraums im 17. Lebensjahr. Damit stand sie bereits recht nahe vor dem
Erreichen der Volljährigkeit, so dass an die Feststellung des Fortbestands des – vor der
räumlichen Trennung unstreitig bereits bestehenden – Eltern-Kind-Verhältnisses zur
Klägerin keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sind.
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Nach Auskunft der Otto-Hahn-Realschule in Selm, die S in den Schuljahren 2001/2002
bis 2003/2004 besucht hat, ist sie dort im Februar 2001 – vor Beginn des Streitzeitraums
– durch die Klägerin angemeldet worden; Ansprechpartner der Schule sei in den Jahren
2001 bis 2003 immer die Klägerin gewesen. Auch hat die Klägerin – wie nunmehr durch
eine weitere Bescheinigung der Schule feststeht – von Oktober 2001 bis Juni 2003 die
finanzielle Abwicklung (Einzug der monatlichen Ratenzahlungen) einer beabsichtigten
Klassenfahrt für die gesamte Schulklasse, der ihre Tochter damals angehört hat,
organisiert. Dies zeigt, dass die Klägerin sich im Streitzeitraum in hinreichender Weise
um die schulischen Belange der S gekümmert hat. Der Senat sieht darin schon für sich
genommen ein entscheidendes Indiz dafür, dass das Band zwischen der Klägerin und S
nicht vollständig zerrissen war.
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Das Richard-von-Weizsäcker-Berufskolleg in Lüdinghausen, das S seit dem Schuljahr
2004/2005 besucht hat, hat mitgeteilt, S sei im Februar 2004 vom Beigeladenen
angemeldet worden, der auch an der Klassenpflegschaftssitzung im September 2004
teilgenommen habe. Hingegen sei der erste Elternsprechtag "wahrscheinlich" von der
Klägerin wahrgenommen worden. Die Auskünfte dieser Schule sind indes für den
Streitzeitraum, in dem S noch durchgängig die Otto-Hahn-Realschule besucht hat,
unergiebig.
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Als weiteres Indiz für den Fortbestand des Eltern-Kind-Verhältnisses sieht der Senat die
finanziellen Zuwendungen der Klägerin an S an. Insoweit geht es nicht um bloße
Unterhaltsleistungen, zu denen leibliche Eltern ohnehin rechtlich verpflichtet sind und
deren – mehr oder minder freiwillige – Erbringung allein noch nicht ausreichen kann, um
ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu bejahen. Vielmehr hat die Klägerin zahlreiche
Einzelzahlungen unmittelbar an S bzw. Zahlungen an Dritte zugunsten der S erbracht.
Diese lassen in ihrer Gesamtheit darauf schließen, dass die Klägerin am Leben und an
der Entwicklung der S in einem Ausmaß teilgenommen hat, das die Wertung, sie habe
sich nicht mehr um ihr Kind gekümmert, als ausgeschlossen erscheinen lässt. Der Senat
konnte insoweit die folgenden Zahlungen feststellen:
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– Die bereits erwähnten regelmäßigen Einzahlungen auf das Sonderkonto
"Klassenfahrt" (40 DM bzw. 20,45 € monatlich über einen Zeitraum von nahezu zwei
Jahren),
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– Taschengeldzahlungen (vom 10. Juli bis 10. Dezember 2001 je 30 DM monatlich);
hingegen liegen die weiteren nachgewiesenen Taschengeldzahlungen (vom
15. Januar bis 15. Oktober 2004 je 35 € monatlich) außerhalb des Streitzeitraums,
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– Bezahlung von Arztrechnungen für S (am 19. November 2001 45,06 DM und am
16. April 2002 11,52 €, jeweils an Dr. Dettmer),
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– Bezahlung von Fahrstunden (am 2. Dezember 2002 446,71 € an J. Geisler).
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Auch der Umstand, dass S zum Ende des Jahres 2004 wieder zur Klägerin gezogen ist,
deutet darauf hin, dass der Kontakt zwischen S und ihrer Mutter im Streitzeitraum nicht
so weitgehend abgebrochen gewesen sein kann, wie es für die Annahme eines
zerrissenen Eltern-Kind-Verhältnisses erforderlich wäre (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV
2007, 17, unter II.2.a bb).
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Selbst wenn im Verhältnis zwischen S und der Klägerin im Streitzeitraum gravierende
Störungen bestanden haben sollten, die deutlich über dasjenige hinaus gingen, was im
Zuge des Ablösungsprozess einer 15-jährigen vom Elternhaus üblich ist, hätten diese
Störungen jedenfalls nicht während eines – nach der höchstrichterlichen
Rechtsprechung für die Verneinung des Eltern-Kind-Verhältnisses erforderlichen –
Zwei-Jahres-Zeitraums einen weitgehenden Abbruch der Kontakte zwischen S und der
Klägerin mit sich gebracht. Zudem wohnten S und die Klägerin weiterhin in derselben –
kleinen – Gemeinde, was eine Kontaktaufnahme erleichterte.
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d) Die Einwendungen des Beklagten stehen dem nicht entgegen.
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Insbesondere vermag der Hinweis des Beklagten, gerade das 15. Lebensjahr falle in ein
besonders schwieriges Entwicklungsstadium, nicht zur Annahme eines anderen
Prüfungsmaßstabs zu führen. Denn nach der dargestellten Rechtsprechung hat das
Merkmal der räumlichen Trennung von den leiblichen Eltern dann keine entscheidende
Bedeutung mehr, wenn das Kind aufgrund seines Alters nicht mehr – wie es bei
jüngeren Kindern der Fall ist – beaufsichtigt, versorgt und betreut werden muss (BFH-
Urteil in BFH/NV 2007, 17, unter II.2.a bb). Diese "pflegenden" Elterntätigkeiten im
engeren Sinne treten aber auch bei einem Kind im 15. Lebensjahr bereits in den
Hintergrund. Damit sachlich übereinstimmend hält auch die höchstrichterliche
Zivilrechtsprechung in Unterhaltssachen eine vollzeitliche Erwerbstätigkeit desjenigen
Elternteils, der das Kind persönlich zu betreuen hat, ab dem 15. Lebensjahr des Kindes
für zumutbar (BGH-Urteil vom 5. Juli 2006 XII ZR 11/04, BGHZ 168, 245, NJW 2006,
2687, unter II.1. vor a).
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Auf den weiteren Einwand des Beklagten, die Klägerin habe nicht den vollen Unterhalt
für S gezahlt, kommt es nicht an, da § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG in der hier maßgebenden
Fassung (dazu oben a) nicht mehr auf das Verhältnis der Höhe der beiderseitigen
Unterhaltszahlungen abstellt. Der Beklagte verkennt mit seiner allein
unterhaltsbezogenen Betrachtungsweise ferner, dass die Taschengeldzahlungen der
Klägerin an S und die Einzahlungen für die Teilnahme der S an der Klassenfahrt nach
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der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Indiz für ein Fortbestehen der Eltern-Kind-
Beziehung dienen. Ob mit derartigen Zuwendungen der Höhe nach ein wesentlicher
Teil der geschuldeten Unterhaltsverpflichtung abgedeckt wird – so offenbar die
Vorstellung des Beklagten –, ist nach der dargestellten Rechtsprechung unerheblich.
Die vom Beklagten als "widersprüchlich" angesehene behauptete Weiterleitung des von
der Klägerin bezogenen Kindesgelds an den Beigeladenen würde sich zwanglos schon
damit erklären lassen, dass auch die Klägerin dem Grunde nach – und zu Recht – von
ihrer fortbestehenden Unterhaltspflicht für S ausgegangen ist. Der Senat vermag darin,
dass in einem solchen Fall auch das bezogene Kindergeld dazu verwendet wird, der
bestehenden Unterhaltsverpflichtung nachzukommen, kein widersprüchliches Verhalten
zu sehen. Im Gegenteil wäre ein solches Verhalten nur konsequent.
44
e) Es ist dem Senat verwehrt, die beantragte Zeugenvernehmung der S durchzuführen.
S hat sich im Rahmen ihrer Vernehmung zur Person in der mündlichen Verhandlung auf
ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 84 Abs. 1 FGO i.V.m. § 101 Abs. 1, § 15 Abs. 1
Nr. 3, 7 der Abgabenordnung (AO) berufen. Sie ist damit für den Senat als Beweismittel
im rechtlichen Sinne unerreichbar.
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Entgegen der Auffassung des Beklagten (ebenso Bergkemper in
Herrmann/Heuer/Raupach, § 68 EStG Anm. 7 am Ende, Stand August 2002) ist die
Anwendbarkeit des § 101 AO nicht im Hinblick auf die Vorschrift des § 68 Abs. 1 Satz 2
Halbsatz 2 EStG ausgeschlossen. Die in § 68 EStG angeordnete besondere
Mitwirkungspflicht bezieht sich auf das Verwaltungsverfahren; die Aussagedelikte der
§§ 153 - 163 des Strafgesetzbuchs (StGB) finden hier keine Anwendung. Für die
Beweisaufnahme im finanzgerichtlichen Verfahren gelten hingegen §§ 81 - 89 FGO,
insbesondere § 84 FGO. Die letztgenannte Norm enthält jedoch einen
uneingeschränkten Verweis auf § 101 AO; die Einschränkung des § 68 Abs. 1 Satz 2
Halbsatz 2 EStG ist hier gerade nicht übernommen worden. Dies ist nach Auffassung
des Senats auch sachgerecht – möglicherweise sogar verfassungsrechtlich geboten –,
weil im finanzgerichtlichen Verfahren die Aussagedelikte der §§ 153 - 163 StGB
uneingeschränkt anzuwenden sind, die für vorsätzliche – und im Fall der Vereidigung
sogar für fahrlässige – Falschaussagen empfindliche Strafen androhen. Auf
Abschn. 68.2 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs
nach dem X. Abschnitt des EStG (Schreiben des Bundesamts für Finanzen vom 5.
August 2004, BStBl. I 2004, 742) kann sich der Beklagte nicht berufen, da dort nicht zur
Anwendung des § 68 EStG im finanzgerichtlichen Verfahren Stellung genommen wird.
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Im Übrigen hat der Senat erhebliche Zweifel, ob der vorliegende Sachverhalt überhaupt
von § 68 Abs. 1 Satz 2 EStG erfasst wird. Denn die genannte Regelung ist eingeführt
worden, um den Familienkassen die Ermittlung der besonderen Voraussetzungen für
den Kindergeldanspruch von mindestens 18 Jahre alten Kindern (§ 32 Abs. 4, 5 EStG,
z.B. Art der Tätigkeit, Höhe der eigenen Einkünfte und Bezüge) zu erleichtern, über die
häufig nur das Kind selbst, nicht aber der eigentliche Kindergeldberechtigte Kenntnis
hat (vgl. Felix in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 68 EStG Rn. B 23; Bergkemper in
Herrmann/Heuer/Raupach, § 68 EStG Anm. 7, beide m.w.N.; siehe auch BFH-
Beschluss vom 19. Juni 2000 VI S 2/00, BStBl. II 2001, 439). Vorliegend geht es
hingegen um einen Zeitraum, in dem S das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.
Zur Ermittlung des insoweit streiterheblichen Sachverhalts bedarf es nicht des
Rückgriffs auf Wissen, das exklusiv nur bei dem Kind selbst vorhanden sein kann;
vielmehr ist die Aussage des Kindes hier ein Beweismittel wie jedes andere auch, so
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dass es sachgerecht ist, insoweit die allgemeinen Regeln anzuwenden.
f) Im Streitfall ist die durch § 52 Abs. 40 Satz 1 EStG angeordnete (echte) Rückwirkung
der Neufassung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG durch das StÄndG 2003
verfassungsrechtlich unbedenklich.
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Zwar folgt dies nicht schon daraus, dass die Gesetzesänderung – deren Kern darin
besteht, dass es für die Anerkennung eines Pflegekindschaftsverhältnisses nicht mehr
erforderlich ist, dass die Pflegeperson das Kind mindestens zu einem nicht
unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält – ausschließlich begünstigend wäre (so
aber BFH-Urteil vom 21. April 2005 III R 53/02, BFH/NV 2005, 1547, m.w.N.). Die
bisherigen BFH-Entscheidungen sind ausschließlich zu Fallkonstellationen ergangen,
in denen der Familienkasse lediglich eine weitere Person – der potentielle
Pflegeelternteil – als Beteiligter gegenüber stand. Vorliegend ist am Verfahren aber
nicht allein der potentielle Pflegeelternteil (der Beigeladene), sondern auch einer der
leiblichen Elternteile (die Klägerin) beteiligt. Wenn die Gesetzesänderung sich aber für
den potentiellen Pflegeelternteil (durch den Wegfall einer der früher kumulativ
geforderten Voraussetzungen) ausschließlich begünstigend auswirken kann, muss sie
sich für die leiblichen Eltern (durch die erleichterte Bejahung eines
Pflegekindschaftsverhältnisses und damit den Wegfall ihres eigenen
Kindergeldanspruchs) belastend auswirken.
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Jedoch hat die rückwirkende Gesetzesänderung im Ergebnis keine Auswirkung auf die
Entscheidung des Streitfalls. Denn der erkennende Senat geht nach Würdigung des
Vorbringens der Beteiligten davon aus, dass der Beigeladene mindestens 20% des
gesamten Bedarfs der S selbst getragen hat (vgl. insbesondere Aufstellung des
Beigeladenen über erhaltene Unterhaltszahlungen, Anlage zum Schriftsatz vom
15. Dezember 2006, Bl. 79 FG-Akte). Dies genügte nach früherer Rechtsprechung für
die Annahme, dass eine potentielle Pflegeperson das Kind zu einem nicht
unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhalten hat (BFH-Urteil vom 12. Juni 1991 III
R 108/89, BStBl. II 1992, 20. unter 2.a).
50
2. Zwar gehört auch der leibliche Vater der S gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zu
den Kindergeldberechtigten. Zwischen den Beteiligten ist aber unstreitig, dass die
Klägerin in diesem Verhältnis gemäß § 64 Abs. 3 EStG vorrangig berechtigt ist.
51
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
52
Obwohl die Klägerin erstmals im Klageverfahren das Bestehen eines
Pflegekindschaftsverhältnisses zwischen S und dem Beigeladenen bestritten hat, sind
ihr die Kosten nicht nach § 137 FGO aufzuerlegen. Denn der Beklagte hat auch in
Kenntnis des neu vorgetragenen Sachverhalts an seinem Klageabweisungsantrag
festgehalten. Das verspätete Vorbringen ist daher nicht kausal für das Entstehen der
Kosten des Klageverfahrens geworden (vgl. BFH-Urteil vom 22. April 2004 V R 72/03,
BStBl. II 2004, 684, unter II.2.b).
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Da der Beigeladene keinen Antrag gestellt hat, können ihm keine Kosten auferlegt
werden (§ 135 Abs. 3 FGO). Umgekehrt entspricht es mangels eines Kostenrisikos nicht
der Billigkeit, seine außergerichtlichen Kosten dem Beklagten oder der Staatskasse
aufzuerlegen (§ 139 Abs. 4 FGO; vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 20. Januar 2005 IV R
22/03, BStBl. II 2005, 559, unter II.6.).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1,
Abs. 3 FGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 der Zivilprozessordnung.
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