Urteil des FG Münster vom 24.03.2006
FG Münster: einkünfte, sicherheitsleistung, einverständnis, vollstreckbarkeit, erlass, vollstreckung, hinterlegung, datum, ausbildung
Finanzgericht Münster, 11 K 4391/05 Kg
Datum:
24.03.2006
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 K 4391/05 Kg
Tenor:
Unter Aufhebung des Bescheides vom 05.08.2005, soweit damit eine
Festsetzung von Kindergeld für das Kind C. mit Wirkung ab Februar
2003 abgelehnt wurde, sowie der Einspruchsentscheidung vom
28.09.2005 wird die Beklagte verpflichtet, zu Gunsten des Klägers
Kindergeld für C. mit Wirkung ab Februar 2003 festzusetzen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung
vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der
Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
G r ü n d e:
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I.
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Zu entscheiden ist, ob zu Gunsten des Klägers (Kl.) noch Kindergeld festgesetzt werden
kann.
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Der Kl. ist der Vater des am 06.01.1985 geborenen Kindes C.. Von August 2001 bis
Januar 2005 befand sich C. in einer Ausbildung zum Werkzeugmacher.
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Mit Bescheid vom 12.12.2002 lehnte es die Beklagte (Bekl.) unter Hinweis darauf, dass
C. im Januar 2003 sein 18. Lebensjahr vollende und die von ihm im Zeitraum Februar
bis Dezember 2003 voraussichtlich erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit
den für das Jahr 2003 maßgeblichen anteiligen Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2
Einkommensteuergesetz (EStG) i. H. v. 6.589,00 EUR (= 11/12 von 7.188,00 EUR)
übersteigen würden, ab, zu Gunsten des Kl. auch für den Zeitraum ab Februar 2003
weiterhin Kindergeld für C. festzusetzen. Dabei ging die Bekl. auf der Grundlage einer
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Ausbildungsbescheinigung von C.s Ausbildungsbetrieb davon aus, dass C. im Zeitraum
Februar bis Dezember 2003 voraussichtlich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i. H.
v. ........ EUR erzielen werde. Bei ihrer Berechnung der voraussichtlichen Einkünfte C.s
im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 berücksichtigte die Bekl. die von C.s
Ausbildungsvergütung einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge nicht. Auch die
Ausbildungsbescheinigung von C.s Ausbildungsbetrieb enthielt hierzu keinerlei
Angaben.
Der Bescheid vom 12.12.2002 wurde vom Kl. nicht angefochten.
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Nachdem der Kl. von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
11.01.2005 – 2 BvR 167/02 (NJW 2005, 1923) Kenntnis erlangt hatte, wandte er sich mit
Schreiben vom 17.07.2005 an die Bekl. und beantragte, zu seinen Gunsten auch für den
Zeitraum Februar 2003 bis Dezember 2004 noch Kindergeld für C. festzusetzen. Zur
Begründung seines Antrags verwies er darauf, dass C.s Einkünfte und Bezüge unter
Berücksichtigung der von dessen Ausbildungsvergütung einbehaltenen
Sozialversicherungsbeiträge (Februar bis Dezember 2003: ........ EUR; 2004: ....... EUR)
die jeweils maßgeblichen Grenzbeträge von 6.589,00 EUR (Februar bis Dezember
2003) bzw. 7.680,00 EUR (2004) nicht überstiegen hätten.
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Mit Bescheid vom 05.08.2005 setzte die Bekl. daraufhin zu Gunsten des Kl. wieder
Kindergeld für C. fest, allerdings erst mit Wirkung ab Januar 2004. Die Festsetzung von
Kindergeld bereits ab Februar 2003 lehnte sie unter Hinweis auf die Bestandskraft ihres
Bescheides vom 12.12.2002 ab.
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Hiergegen richtet sich die von dem Kl. nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene
Klage.
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Er ist der Auffassung, dass die ablehnende Entscheidung vom 12.12.2002 vor dem
Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht länger aufrecht
erhalten werden könne. Gegenüber der von ihm erstrebten Festsetzung von Kindergeld
für C. bereits mit Wirkung ab Februar 2003 könne sich die Bekl. im Hinblick auf die
Regelung des § 70 Abs. 4 EStG auch nicht mit Erfolg auf die Bestandskraft ihres
Bescheides vom 12.12.2002 berufen.
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Der Kl. beantragt sinngemäß,
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den Bescheid vom 05.08.2005, soweit damit eine Festsetzung von Kindergeld für
C. mit Wirkung ab Februar 2003 abgelehnt wurde, und die
Einspruchsentscheidung (EE) vom 28.09.2005 aufzuheben und die Bekl. zu
verpflichten, zu seinen Gunsten Kindergeld für C. bereits mit Wirkung ab Februar
2003 festzusetzen.
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Die Bekl. beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, dass der von dem Kl. erstrebten Festsetzung von Kindergeld für
C. mit Wirkung ab Februar 2003 bereits die Bestandskraft des Bescheides vom
12.12.2002 entgegenstehe. Denn auch negative Prognoseentscheidungen würden
"Bestandskraft" bis einschließlich ihres Bekanntgabemonats entfalten.
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Eine Änderung des Bescheides vom 12.12.2002 allein wegen der von C. im Zeitraum
Februar bis Dezember 2003 entrichteten Sozialversicherungsbeiträge werde auch nicht
durch die Regelung des § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht. Denn eine Änderung der
Rechtsauffassung durch die Rechtsprechung sei kein nachträgliches Bekanntwerden im
Sinne dieser Vorschrift. Die Vorschrift des § 70 Abs. 4 EStG könne im Streitfall vielmehr
nur dann zur Anwendung kommen, wenn nachträglich bekannt würde, dass die
Einkünfte und Bezüge des Kindes C. – exklusive der Sozialversicherungsbeiträge – den
maßgeblichen Grenzbetrag unterschritten.
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Vor diesem Hintergrund sei es daher auch unerheblich, zu welchem Zeitpunkt dem
zuständigen Bearbeiter die genaue Höhe der von C. im Zeitraum Februar bis Dezember
2003 erzielten Einkünfte und Bezüge bekannt geworden sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze
sowie die von der Bekl. vorgelegte Kindergeldakte verwiesen.
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II.
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Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gem. § 90 Abs. 2 FGO ohne
mündliche Verhandlung.
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Die Klage ist begründet.
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Dem Kl. steht ein Anspruch auf Festsetzung von Kindergeld zu seinen Gunsten für das
Kind C. bereits mit Wirkung ab Februar 2003 zu. Denn die von C. in dem Zeitraum
Februar bis Dezember 2003 erzielten Einkünfte und Bezüge, die nach Maßgabe der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 – 2 BvR 167/02 (NJW
2005, 1923) unter Berücksichtigung der von C.s Ausbildungsvergütung einbehaltenen
Sozialversicherungsbeiträge zu ermitteln sind, übersteigen den für den Zeitraum
Februar bis Dezember 2003 maßgeblichen anteiligen Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 S. 2
EStG nicht.
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Einer Festsetzung von Kindergeld zu Gunsten des Kl. für C. bereits mit Wirkung ab
Februar 2003 steht auch nicht die Bestandskraft des Bescheides vom 12.12.2002
entgegen. Denn die Durchbrechung der Bestandskraft dieses Bescheides ist durch die
Regelung des § 70 Abs. 4 EStG gedeckt.
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Nach dieser Vorschrift ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn
nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag
nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.
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Unter welchen Voraussetzungen eine – im Streitfall unstreitig gegebene -
Unterschreitung des Grenzbetrages nach § 32 Abs. 4 EStG nachträglich bekannt
geworden ist, ist im Einkommensteuergesetz selbst nicht geregelt. Infolgedessen sind
die Voraussetzungen dieses Merkmals – wie der BFH bereits zu der mit § 70 Abs. 4
EStG vergleichbaren Regelung des § 11 Abs. 4 Eigenheimzulagegesetz entschieden
hat (vgl. Urteil vom 07.07.2005 – IX R 66/04, BFH/NV 2006, 256) – nach Maßgabe von
Rechtsprechung und Schrifttum zu der insoweit gleichlautenden Regelung in § 173 AO
zu bestimmen. Danach sind zur Aufhebung oder Änderung von Kindergeldbescheiden
führende nachträglich bekannt gewordene Tatsachen im Sinne des § 70 Abs. 4 EStG
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solche Tatsachen, die im Zeitpunkt des Abschlusses der Willensbildung des für die
Kindergeldfestsetzung zuständigen Beamten noch nicht bekannt waren.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Bekl. die vom Kl. begehrte
Festsetzung von Kindergeld für das Kind C. bereits mit Wirkung ab Februar 2003 zu
Unrecht abgelehnt. Denn die genaue Höhe der von der Ausbildungsvergütung des
Kindes C. einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge und damit die genaue Höhe der
nach § 32 Abs. 4 S. 2 EStG maßgeblichen Einkünfte und Bezüge des Kindes C. war
dem für die Kindergeldfestsetzung zuständigen Mitarbeiter des Bekl. bei Erlass des
Bescheides vom 12.12.2002 noch nicht bekannt, d. h. ist dem Bekl. nachträglich im
Sinne des § 70 Abs. 4 EStG bekannt geworden.
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Bei der genauen Höhe der von C. im Zeitraum Februar bis Dezember 2003 entrichteten
Sozialbeiträge handelt es sich auch um eine rechtlich erhebliche Tatsache im Sinne des
§ 70 Abs. 4 EStG. Denn Tatsache ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines
gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann (vgl. Urteil des BFH vom 14.05.2003 – X R
60/01, BFH/NV 2003, 1144).
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Demgegenüber kann sich die Bekl. auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Kl.
den auf einer rechtsfehlerhaften Berechnung der von C. im Zeitraum Februar bis
Dezember 2003 voraussichtlich erzielten Einkünfte und Bezüge beruhenden Bescheid
vom 12.12.2002 hat bestandskräftig werden lassen. Denn durch die Einführung des § 70
Abs. 4 EStG in das Einkommensteuergesetz sollte u. a. auch dem Umstand Rechnung
getragen werden, dass regelmäßig erst im Jahresrückblick darüber entschieden werden
kann, ob die Einkünfte und Bezüge eines Kindes den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 S. 2
EStG über- oder unterschreiten, d. h. weder der Kindergeldberechtigte noch die
Familienkasse sollten an eine – aus welchen Gründen auch immer – fehlerhafte
Prognoseentscheidung gebunden sein (vgl. auch FG Düsseldorf, Urteile vom
12.01.2006 – 14 K 4078/05 und 14 K 4361/05 Kg, Juris-Dok.).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und
711 ZPO.
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Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gem. § 115 Abs.
2 Nr. 1 FGO zuzulassen.
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