Urteil des FG Münster vom 05.12.2002

FG Münster: vollziehung, buchführung, fehlerhaftigkeit, zahl, wahrscheinlichkeit, behörde, test, rechtswidrigkeit, versicherung, mitwirkungspflicht

Finanzgericht Münster, 8 V 5774/02 E,G,U
Datum:
05.12.2002
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 V 5774/02 E,G,U
Tenor:
Der Einkommensteuerbescheid 1998 vom 08.03.2002 wird in Höhe von
4.186,97 EUR, der Bescheid über die Festsetzung eines Solidaritätszu-
schlags 1998 vom 08.03.2002 in Höhe von 230,29 EUR, der Bescheid
über die Festsetzung eines Gewerbesteuermessbetrages für 1998 vom
30.04.2002 in Höhe von 175,37 EUR und der Umsatzsteuerbescheid
1998 vom 08.03.2002 in Höhe von 1.609,81 EUR von der Vollziehung
ausgesetzt.
Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller zu 67 % und der An-
tragsgegner zu 33 %.
G r ü n d e:
1
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob aufgrund von Hinzuschätzungen festgesetzte
Einkommensteuer-, Umsatzsteuer- und Gewerbesteuermessbeträge von der
Vollziehung auszusetzen sind.
2
Der Antragsteller (Ast.) ist Gastwirt. Nach seinen Steuererklärungen erzielte er aus der
gewerblichen Tätigkeit in den Streitjahren 1997 bis 1999 die folgenden Einnahmen und
Gewinne:
3
1997 1998 1999
4
DM DM DM
5
Nettoeinnahmen
175.430,77 167.566,67 154.249,59
6
Privatanteile 5.400,00 5.280,00 5.280,00
7
Neutrale Erträge 35,77
8
Umsatzsteuer 26.975,56 27.077,98 25.416,62
9
Summe der Betriebseinnahmen 207.806,33 199.924,65 184.981,98
10
Wareneinkauf
55.113,14 39.991,96 31.090,43
11
sonstige Betriebsausgaben 101.215,09 100.010,28 100.650,83
12
Summe der Betriebsausgaben 156.328,23 140.002,24 131.741,26
13
Gewinn 51.478,10 59.922,41 53.240,72
14
Nach einer Betriebsprüfung gelangte der Antragsgegner (Ag.) zu der Auffassung, dass
die Kasseneinnahmen nicht ordnungsgemäß festgehalten und erklärt worden seien.
Wegen der einzelnen Feststellungen (Aufbau der Kassenberichte, Schriftbild) und der
vorgenommenen Ermittlungen (Chi2 Test, Zeitreihenvergleich) wird auf den den
Beteiligten vorliegenden Prüfungsbericht vom 22.01.2002 Bezug genommen. Aufgrund
der Kassenmängel sowie unter Berücksichtigung des ungewöhnlichen Anstiegs der
Rohgewinnaufschlagsätze schätzte der Ag. die folgenden Umsätze hinzu:
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1997 1998 1999
16
DM DM DM
17
Nettoumsatz 13.500,00 21.600,00 29.700,00
18
Umsatzsteuer (15 % u. 16 %) 2.025,00 3.402,00 4.752,00
19
Bruttoumsatz 15.525,00 25.002,00 34.452,00
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Die gegen die geänderten Steuerbescheide eingelegten Einsprüche wurden als
unbegründet zurückgewiesen. Über die dagegen eingelegte Klage - 8 K 3991/02 E,G,U
- hat der Senat noch nicht entschieden.
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Mit seinem Aussetzungsantrag ist der Ast. der Meinung, dass der Aufbau der Vordrucke
zur Darstellung der Kasseneinnahmen allein keinen Rückschluss auf die tatsächlich
vorgenommene Reihenfolge der Eintragungen zulasse. Auch die Ausführungen des Ag.
zu den Schrift- und Stiftbildern seien nur Vermutungen. Die Kassenaufzeichnungen
seien vielmehr von derselben Person geführt worden. Naturgemäß sei deswegen das
Schrift- und Stiftbild einheitlich. Die bloße Vermutung des Ag. könne jedoch nicht dazu
führen, die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung in Zweifel zu ziehen.
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Der Ast. ist ferner der Auffassung, dass die Anwendung des Chi2 Tests im Streitfall nicht
geeignet sei, die Ordnungsmäßigkeit der Kassenaufzeichnungen in Frage zu stellen.
Denn da es sich bei seiner Gaststätte um eine reine Biergaststätte handele, führe die
eingeschränkte Produktpalette dazu, dass einzelne Werte, insbesondere der Preis für
ein Bier, ständig wiederholt würden. Insoweit sei es erklärlich, dass bestimmte
Zahlenwerte gehäuft vorgekommen seien. Des Weiteren sei zu beachten, dass der Ag.
die Fehlerhaftigkeit der Buchführung für das Streitjahr 1998 nicht explizit untersucht
habe, sondern nur aufgrund seiner Feststellungen für die Streitjahre 1997 und 1999 von
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einer entsprechenden Fehlerhaftigkeit ausgegangen sei. Ein solcher Schluss sei nicht
zulässig, denn wenn der Ag. die Buchführung verwerfen wolle, habe er die
Fehlerhaftigkeit der Buchführung nachzuweisen.
Der Ast. beantragt,
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die Nachforderungen aufgrund der geänderten ESt-Bescheide 1997 bis 1999 vom
8.03.2002 in der Fassung der EE vom 18.07.2002, die Nachforderungen aufgrund
der geänderten USt-Bescheide 1997 bis 1999 vom 8.03.2002 in der Fassung der
EE vom 18.07.2002 sowie die geänderten Gewerbesteuermessbescheide vom
30.04.2002 in der Fassung der EE vom 18.07.2002 von der Vollziehung
auszusetzen.
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Der Ag. beantragt,
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den Antrag abzuweisen.
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Er verweist auf die Gründe seines Ablehnungsbescheids vom 25.09.2002 und ist der
Auffassung, dass keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen
Bescheide bestehen. Mit dem Chi2-Test habe man die Zahlenverteilung für die zweite
und erste Ziffer vor sowie für die erste Ziffer nach dem Komma analysiert. Die
Produktpalette des Ast. habe auf die Zahlen an diesen Stellen keine Auswirkung.
Entgegen der Auffassung des Ast. sei zudem der Aufbau des Kassenberichtes als
weiteres Indiz für die Unrichtigkeit der Buchführung richtig berücksichtigt worden, denn
der Aufbau des Kassenberichtes spiegele im Regelfall die Vorgehensweise bzw. die
Reihenfolge der Eintragungen wider. Auch das einheitliche Schriftbild sei zutreffend
gewürdigt worden, denn bei Anfertigung von Aufzeichnungen durch dieselbe Person
unterscheide sich das Schriftbild je nach persönlicher Verfassung des Eintragenden
durchaus. Schließlich sei auch die Schätzung für das Kalenderjahr 1998 zu Recht
erfolgt, denn es seien Buchführungsmängel für 1997 und 1999 festgestellt worden. Aus
diesem Grunde sei es sehr unwahrscheinlich, dass in dem Streitjahr 1998 andere
Verhältnisse vorgelegen hätten.
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Der Antrag ist hinsichtlich des Streitjahrs 1998 begründet.
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Steueransprüche für den jeweiligen Veranlagungszeitraum sind nach den Grundsätzen
der Abschnittsbesteuerung zu prüfen. Ob die erklärten Gewinne für das Streitjahr 1998
nicht durch ordnungsmäßige Buchführung ermittelt worden sind, kann daher nicht
einfach unterstellt werden, auch wenn im Vor- oder Folgejahr erhebliche
Buchführungsmängel aufgetreten sind.
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Im Übrigen ist der Antrag unbegründet.
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Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Sätze 2 bis 6 FGO kann das Gericht der
Hauptsache die Vollziehung eines Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen.
Die Vollziehung soll ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit
des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den
Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene
Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel i. S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu
bejahen, wenn bei summarischer Prüfung der angefochtenen Steuerbescheide neben
für ihre Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die
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Unentschiedenheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen oder
Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken. Ist die Rechtslage nicht eindeutig,
ist über die zu klärenden Fragen im summarischen Beschlussverfahren nicht
abschließend zu entscheiden. Die Aussetzung der Vollziehung setzt auch nicht voraus,
dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen (vgl. BFH-Beschluss
vom 20. Mai 1997 VIII B 108/96, BFHE 183, 174, BFH/NV 1997, 462, m.w.N.).
Gemäß § 162 Abs. 1 AO hat die Finanzbehörde Besteuerungsgrundlagen zu schätzen,
soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. Dabei sind alle Umstände zu
berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Gemäß § 162 Abs. 2 AO ist
insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine
ausreichende Aufklärung zu geben vermag. oder weitere Auskunft oder eine
Versicherung an Eides statt verweigert oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2
AO verletzt.
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Die Schätzung ist damit keine Ermessensentscheidung dahingehend, dass die Behörde
einen Spielraum hinsichtlich der Rechtsfolge, ein Rechtsfolgeermessen hätte. Vielmehr
ist die Schätzung als Beweismittelersatz oder Beweismittelwürdigung aufgrund
unzureichender Beweismittel anzusehen, welche sich zugleich mit einem ermäßigten
Sicherheitsgrad begnügt. Die Behörde hat jedoch einen Spielraum bei der Beurteilung
der Frage, welcher Ansatz von Besteuerungsgrundlagen nach größtmöglicher
Wahrscheinlichkeit der richtige ist (vgl. Tipke 1 Kruse, AO-Kommentar, § 162 AO, Rdn.
2). Daher kann das Finanzgericht in diesen sogenannten Schätzungsfällen seine
Auffassung von größtmöglicher Wahrscheinlichkeit anstelle der Auffassung der
Finanzbehörde von größtmöglicher Wahrscheinlichkeit setzen. Da das Gericht somit
grundsätzlich verpflichtet ist, entscheidungsrelevante tatsächliche Umstände, die im
steuerlichen Verwaltungsverfahren nicht ermittelt worden sind, selbständig aufzuklären,
überprüft das Gericht nicht die Schätzung der Finanzbehörde, sondern nimmt gem. § 96
Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz FGO grundsätzlich eine eigene Schätzung vor (vgl. dazu
Tipke / Kruse a. a. 0. § 96 FGO Rdn. 58 unter Hinweis auf § 162 AO Rdn. 87 ff.).
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Nach den vorliegenden Unterlagen sieht der Senat jedoch für die Streitjahre 1997 und
1999 keine Veranlassung, von den Schätzungsbeträgen des Ag. abzuweichen. Denn
entgegen der Auffassung des Ast. reichen die Feststellungen des Ag. zur Durchführung
der vorgenommenen Schätzungen aus. Allein die Ergebnisse des Chi2-Tests zeigen,
dass die Kasseneinnahmen für die Streitjahre 1997 und 1999 offensichtlich nicht
zutreffend aufgezeichnet wurden. Ergänzend zeigt jedoch schon eine bloße
Ziffernüberprüfung offensichtlich unschlüssige Auffälligkeiten. Denn für das erste
Kalenderhalbjahr 1997 weist eine Ziffernanalyse für die erste Ziffer vor dem Komma bis
auf drei Ausnahmen nur die Ziffern 5 und 0 aus. Eine solche Häufung lässt sich bei
einer normalen Biergaststätte mit ständig wechselnden Gästezahlen nicht erklären,
sondern lässt nur den Schluss zu, dass die Zahlen frei erfunden wurden.
Entsprechendes gilt für die zweite Stelle vor dem Komma, denn auch hier kommt es zu
einer unschlüssigen Häufung der Zahlen 5 und 0 (rd. 40 %) bei den Tageseinnahmen.
Auch die entsprechend nicht nachvollziehbare Häufung der Ziffer 0 bei der ersten Stelle
hinter dem Komma (in 155 von 156 Fällen) zeigt, dass die Kasseneinnahmen nicht
ordnungsgemäß aufgezeichnet wurden. Für das zweite Halbjahr 1997 ist auffällig, dass
die erste Ziffer vor dem Komma in 40 Fällen die 0 ist. Ein solch zufälliger Anteil von über
27 % ist bei einer normalen Biergaststätte unrealistisch und zeigt somit auch für diesen
Zeitraum augenscheinlich, dass die Kasseneinnahmen unzutreffend aufgezeichnet
worden sind. Für das Streitjahr 1999 zeigt die Überprüfung der Zahlen entsprechende
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Unschlüssigkeiten. So ist auffällig, dass die Zahl 0 in rund 17,7 % der Tageseinnahmen
an der ersten bzw. an der zweiten Stelle vor dem Komma steht.
Ferner ist sowohl für 1997 als auch für 1999 bei der Ziffernanalyse der ersten beiden
Ziffern das geringe Vorkommen der Zahl 9 nicht schlüssig nachvollziehbar. So kommt in
1997 die Zahl 9 nur insgesamt 10 mal und in 1999 nur insgesamt 20 mal an den
entsprechenden Stellen vor. Das wahrscheinliche Vorkommen hätte sich jedoch in 1997
bei 60 (15,6 + 15,6 + 14,4 + 14,4) und in 1999 bei 56,6 (28,3 + 28,3) bewegen müssen.
Es liegt auf der Hand, dass der Ast. bei den von ihm ausgewählten Zahlen offensichtlich
den hohen (Grenz-) Wert 9 bei den Vorkommastellen unterbewusst vermieden hat.
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Aus den vorgenannten Gründen erübrigt sich eine weitere Auseinandersetzung mit dem
Vorbringen des Ast. zu den Kassenaufzeichnungen
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Schließlich, und dies hat der Ag. ebenfalls zutreffend ausgeführt, sind die
Schwankungen beim Rohgewinn nicht nachvollziehbar. So zeigen nach Auffassung des
Senats sowohl die Ergebnisse des Zeitreihenvergleichs als auch der vom Ast. nicht
aufgeklärte Anstieg des Rohgewinns weitere nicht unerhebliche Mängel in der
Ordnungsmäßigkeit der Aufzeichnungen. Der Senat sieht aus diesen Gründen auch
keine Veranlassung, von den Schätzungswerten des Ag. zugunsten des Ast.
abzuweichen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO.
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