Urteil des FG Münster vom 12.11.2010

FG Münster (anrechnung, verhältnis zwischen, verhältnis zu, vergütung, gebühr, gesetz, dritter, entstehung, vorschrift, auftrag)

Finanzgericht Münster, 15 Ko 2447/10 KF
Datum:
12.11.2010
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 Ko 2447/10 KF
Tenor:
Die Erinnerung wird zurückgewiesen.
Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei.
Der Erinnerungsführer trägt die gerichtlichen Auslagen und die
außergerichtlichen Kosten.
Gründe:
1
Streitig ist, ob auf die nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz –RVG- festzusetzende
Vergütung des im Wege der Prozesskostenhilfe –PKH- beigeordneten
Erinnerungsführers –Ef.- die Geschäftsgebühr anzurechnen ist.
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Der Ef. vertritt im Hinblick auf die Bewilligung von Kindergeld die Interessen seines
Mandanten, des Klägers , zunächst im Rahmen eines bei der Familienkasse Krefeld
geführten Einspruchsverfahrens und nunmehr auch als Prozessvertreter im
Klageverfahren 15 K 1745/09 Kg, über das der Senat noch nicht entschieden hat. Für
dieses Verfahren war dem Kläger mit Beschluss vom 03. November 2009 PKH bewilligt
und der Ef. beigeordnet worden.
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Am 30. April 2010 hat der Ef. beantragt, bezogen auf einen Gegenstandswert von 2.973
EUR seine Gebühren und Auslagen wie folgt festzusetzen:
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1,6 Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV RVG
302,40 EUR
Pauschale für Post, Nr. 7002
20,00 EUR
322,40 EUR
19 % MWSt
61,26 EUR
Gesamt
383,66 EUR
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Zugleich hat der Ef. darauf hingewiesen, keine Zahlungen des Klägers erhalten zu
haben.
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Mit Beschluss vom 17. Juni 2010 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die aus
der Staatskasse an den Antragsteller zu zahlende Vergütung gemäß §§ 45 RVG ff. auf
214,97 EUR fest. Die Vergütung berechnete sie wie folgt:
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1,6 Verfahrensgebühr § 45 RVG i.V.m. Nr. 3200 VV RVG
302,40 EUR
Anrechnung 0,75 Geschäftsgebühr Vorbem. 3 Abs. 4 zu Teil 3 VV RVG 141,75 EUR
Verbleiben
160,65 EUR
Pauschale für Post, Nr. 7002
20,00 EUR
19 % MwSt
34,32 EUR
Gesamt
214,97 EUR
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Zur Begründung führte die Beamtin an, auf die Verfahrensgebühr sei die
Geschäftsgebühr unabhängig davon anzurechnen, dass diese nicht gezahlt worden sei;
maßgebend sei allein, ob durch ein Tätigwerden diese Gebühr entstanden sei. Ob die
neue Regelung des § 15a RVG im vorliegenden (Alt-)Fall gelte, könne dahin stehen,
weil die Staatskasse nicht "Dritter" i.S. von § 15a Abs. 2 RVG sei.
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Mit der hiergegen eingelegten Erinnerung macht der Ef. geltend, die Kürzung der
Verfahrensgebühr sei fehlerhaft. Nach der Rechtsprechung mehrerer Senate beim
Bundesgerichtshof –BGH- wie auch weiterer Gerichte sowie Literaturstimmen dürfe die
(nicht erhaltene) Geschäftsgebühr nicht angerechnet werden. Die Regelung des § 15a
RVG – einschließlich des Abs. 2 - sei auch im vorliegenden Fall anzuwenden.
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Der Ef. beantragt,
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unter Änderung des Beschlusses vom 17. Juni 2010 die Vergütung ohne
Anrechnung der Geschäftsgebühr festzusetzen.
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Der Erinnerungsgegner beantragt,
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die Erinnerung zurückzuweisen.
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Der zunächst mit der Sache befasste Einzelrichter (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 8
Satz 1 RVG) hat das Verfahren mit Beschluss vom 12. November 2010 nach § 56 Abs. 2
Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG auf den Senat übertragen.
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Die Erinnerung ist unbegründet.
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Der angefochtene Beschluss vom 17. Juni 2010 ist rechtmäßig; die Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle hat die Vergütung zutreffend unter Anrechnung der Geschäftsgebühr
festgesetzt.
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Nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG -VV RVG- wird,
soweit wegen desselben Gegenstands eine Geschäftsgebühr nach den Nummern 2300
bis 2303 entsteht, diese Gebühr zur Hälfte, jedoch höchstens mit einem Gebührensatz
von 0,75, auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet.
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Der Tatbestand dieser gesetzlichen Regelung ist hier erfüllt. Der Ef. war bereits
vorgerichtlich für den Kläger tätig und hatte damit einen Anspruch auf die
Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV RVG erwirkt. Nach dem – insoweit eindeutigen
und nicht auslegungsfähigen – Wortlaut der Bestimmung hat die Anrechnung bereits mit
der (bloßen) Entstehung der Gebühr zu erfolgen. Ob der Anwalt die Geschäftsgebühr
tatsächlich erhalten hat bzw. erhält, ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht maßgebend
(Beschlüsse des Bundesgerichtshofs -BGH- vom 22. Januar 2008 VIII ZB 57/07, Neue
Juristische Wochenschrift –NJW- 2008, 1323; des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen –OVG NW- vom 10. Juni 2010 18 E 1722/09, juris; des
Hessischen Landesarbeitsgerichts –LAG- vom 10. Mai 2010 13 Ta 177/10, juris; a. A.
Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 18. A., VV 3100 Rdn. 217).
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Die Vorschrift gilt mangels einschränkender bzw. abweichender Bestimmung auch für
Vergütungen, die – wie vorliegend - im Verfahren zur PKH aus der Staatskasse zu
entrichten sind. Das Gesetz unterscheidet auch nicht danach, ob im nachfolgenden
Verfahren PKH bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist; die
vorgeschriebene Anrechnung knüpft ausschließlich an die Entstehung der
Geschäftsgebühr an. Dieser Entscheidung des Gesetzgebers ist ungeachtet des
Umstands Rechnung zu tragen, dass der im späteren gerichtlichen Verfahren im Wege
der PKH beigeordnete Rechtsanwalt den gegen seinen Mandanten gerichteten
Anspruch in der Regel nicht mit Erfolg wird geltend machen können, weil der Mandant
ausweislich der Bewilligung von PKH nicht leistungsfähig ist. Im Übrigen kann der
Anwalt diesem Risiko begegnen, indem er seinen Vergütungsanspruch durch einen
Vorschuss des Mandanten sicherstellt oder sich über die Vorschriften der Beratungshilfe
absichert (vgl. Beschlüsse des Oberlandesgerichts –OLG- Düsseldorf vom 27. Januar
2009 I-10 W 120/08; des Finanzgerichts –FG- Düsseldorf vom 27. November 2009 10
Ko 862/09 KF; des Hessischen LAG vom 10. Mai 2010 13 Ta 177/10; a. A. Beschluss
des OLG Stuttgart vom 15. Januar 2008 8 WF 5/08; sämtlich: juris).
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Die Anrechnungsregelung der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG ist auch im Rahmen der
Kostenfestsetzung vorzunehmen. Die Gegenansicht, dass die Bestimmung nur im
Verhältnis zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten Anwendung finde, hat
im Gesetz weder nach dem Wortlaut noch nach der Systematik eine Stütze; eine –
denkbare – andere Lösung hätte der Entscheidung des Gesetzgebers bedurft
(Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts –BVerwG- vom 22. Juli 2009 9 KSt 4/08;
des BGH vom 22. Januar 2008 VIII ZB 57/07, NJW 2008, 1323, und vom 29. September
2009 X ZB 1/09, NJW 2010, 76; a. A. Beschlüsse des BGH vom 9. Dezember 2009 XII
ZB 175/07, NJW 2010, 1375; vom 29. April 2010 V ZB 38/10, juris).
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Die Anrechnung der Geschäftsgebühr kann vorliegend auch nicht im Hinblick auf die am
5. August 2009 in Kraft getretene Regelung des § 15a RVG unterbleiben.
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Nach § 15a Abs. 1 RVG kann in Fällen, in denen das Gesetz die Anrechnung einer
Gebühr auf eine andere Gebühr vorsieht, der Rechtsanwalt beide Gebühren fordern,
jedoch nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag
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beider Gebühren. Danach stehen dem Rechtsanwalt im Innenverhältnis zum Mandanten
sowohl die Verfahrens- als auch die Geschäftsgebühr zu. Das Verhältnis zu Dritten
regelt § 15a Abs. 2 RVG: Ein Dritter kann sich auf die Anrechnung nur berufen, soweit er
den Anspruch auf eine der beiden Gebühren erfüllt hat. Ob hiernach die Anrechnung der
vorliegend an den Ef. nicht gezahlten Geschäftsgebühr zu unterbleiben hätte oder aber
die Regelung des § 15a Abs. 2 RVG schon deshalb keine Anwendung findet, weil die
Staatskasse nicht "Dritter" sei, da sie gleichsam an die Stelle des Mandanten trete (so
etwa Beschlüsse des FG Düsseldorf vom 27. November 2009 10 Ko 862/09 KF; des FG
des Landes Sachsen-Anhalt vom 4. Mai 2010 4 KO 409/10, sämtlich: juris, jeweils mit
weiteren Rechtsprechungsnachweisen), kann für die vorliegende Entscheidung
dahinstehen.
Ungeachtet der sich aus § 15a RVG ergebenden Rechtsfolgen ist diese neue
gesetzliche Regelung hier schon deshalb nicht anzuwenden, weil dem Ef. der Auftrag
bereits vor dem 5. August 2009 und damit vor Inkrafttreten der Bestimmung erteilt
worden war. Eine Anwendung des § 15a RVG auf sog. Altfälle kommt aus Sicht des
Senates nicht in Betracht.
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Zwar wird eine Erstreckung des neuen Gesetzes auf noch offene Altfälle teilweise mit
der Begründung bejaht, dass der Gesetzgeber mit § 15a RVG die bisherige Regelung
des RVG nicht geändert, sondern lediglich die bestehende Gesetzeslage klargestellt
habe (etwa Beschluss des BGH vom 2. September 2009 II ZB 35/07, NJW 2009, 3101).
Diese Auffassung begegnet indes Bedenken. Denn sie geht auf Gesetzesmaterialien
zurück (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucksache
16/12717 S. 67 f.), die erst dem in 2009 eingeführten Gesetz zur Modernisierung von
Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer
Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Verfahren
(Bundesgesetzblatt I 2009, 2449) zugrunde gelegen haben. Diesen Materialien kommt
aber für eine Auslegung des Gesetzes in der bis zur Neuregelung gültigen Fassung
keine entscheidende Bedeutung zu. Insoweit folgt der Senat den Ausführungen des
BGH im Beschluss vom 29. September 2009 (X ZB 1/09, NJW 2010, 76), des OVG
Lüneburg vom 27. Oktober 2009 (13 OA 134/09, juris) und des hiesigen FG vom 27.
November 2009 (10 Ko 862/09 KF, juris).
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Unabhängig davon, ob eine derartige Wertung als bloße Klarstellung der bisherigen
Gesetzeslage – statt (echter) Neuregelung – zu überzeugen vermag, scheitert die
Heranziehung des § 15a RVG auf Altfälle jedenfalls an der Übergangsbestimmung des
§ 60 Abs. 1 Satz 1 RVG (ebenso Beschlüsse des OVG Lüneburg vom 27. Oktober 2009
13 OA 134/09; des Hessischen LAG vom 10. Mai 2010 13 Ta 177/10; des OVG NW vom
10. Juni 2010 18 E 1722/09; sämtlich: juris). Nach dieser Vorschrift ist die Vergütung
nach bisherigem Recht zu berechnen, wenn der Auftrag vor dem Inkrafttreten einer
Gesetzesänderung erteilt oder der Anwalt vor diesem Zeitpunkt gerichtlich bestellt oder
beigeordnet worden ist. Demnach ist hier auf die Rechtslage vor dem 5. August 2009
abzustellen, weil der Ef. bereits vor der Rechtsänderung (nämlich am 6. Mai 2009)
Klage erhoben hat und somit schon damals mit der die Gebühren auslösenden Tätigkeit
beauftragt gewesen war.
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Allein aus der Existenz dieser Übergangsbestimmung ergibt sich, dass es auf die
Motivationslage des Gesetzgebers bei einer gesetzlichen Neuregelung im
Vergütungsrecht nicht entscheidend ankommen kann. Die Frage, welche rechtlichen
Regelungen anwendbar sein sollen, ist vielmehr im Falle des Fehlens anderweitiger
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Übergangsbestimmungen nach § 60 RVG in formalisierter Weise zu beantworten.
Liegen die Voraussetzungen dieser Bestimmung vor, ist bei einem Altfall die Vergütung
nach bisherigem Recht zu berechnen; liegen sie nicht vor, findet auch für alle noch nicht
entschiedenen Fälle das neue Recht Anwendung. Schon dies schließt es nach
Auffassung des Senats aus, maßgeblich auf einen (vermeintlich) nur klarstellenden
Charakter einer gesetzlichen Änderung im Vergütungsrecht abzustellen. Eine andere
Sichtweise, die im Falle einer Änderung des RVG danach fragt, ob der Gesetzgeber
eine Änderung der Rechtslage oder aber nur eine Klarstellung bewirken wollte, lässt zu
Unrecht den sich aus der Übergangsbestimmung des § 60 Abs. 1 RVG ergebenden
Rechtsanwendungsbefehl außer Acht (so bereits Beschluss des OVG Lüneburg vom
27. Oktober 2009 13 OA 134/09, juris). Zudem lässt die – überwiegend mit allgemeinen
Gerechtigkeitserwägungen argumentierende - Gegenansicht außer Acht, dass der
Gesetzgeber mit Einführung des § 15a RVG weder die allgemeine
Überleitungsvorschrift des § 60 RVG im Hinblick auf eine etwaige frühere Geltung des §
15a RVG modifiziert noch Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG irgendwie ergänzt oder
verändert hat. Der Gesetzgeber hat vielmehr § 15a RVG neu ins Gesetz eingefügt, um
die von ihm zunächst offenbar nicht bedachten Auswirkungen der
Anrechnungsvorschriften für die Zukunft zu korrigieren. Bei dieser Sachlage besteht
keine Veranlassung, seitens des Gerichts den Gesetzgeber nochmals zu korrigieren, um
eine Rechtslage, die als unbillig empfunden wird, schneller zu korrigieren als vom
Gesetzgeber vorgesehen (so schon Beschluss des Hessischen LAG vom 10. Mai 2010
13 Ta 177/10, juris).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG.
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