Urteil des FG Münster vom 01.12.2005

FG Münster: haushalt, wohl des kindes, europäisches gemeinschaftsrecht, stadt, aufenthalt, familiengemeinschaft, obhut, zusammenleben, rückführung, einverständnis

Finanzgericht Münster, 3 K 1715/04 Kg
Datum:
01.12.2005
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 K 1715/04 Kg
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet.
T a t b e s t a n d :
1
Streitig ist, ob der Klägerin (Klin.) für ihre Tochter T..... von September 2003 bis Januar
2004 Kindergeld zusteht.
2
Die Klin. hat eine Tochter T..... (geb. 07.01.1988) und einen Sohn S..... (geb. am
31.03.1990). Der Vater der Kinder ist V....., der Beigeladene, mit dem die Klin. bis zur
ihrer Scheidung verheiratet war. T..... lebte im Haushalt der Klin. Sie ist Mitte August
2003 zu ihrem Vater gezogen, Mitte Januar 2004 kehrte sie in den Haushalt der Klin.
zurück.
3
Nach Ankündigung der Beklagten (Bekl.), die Kindergeldbewilligung ab September
2003 aufzuheben, teilte die Klin. mit, sie allein habe das Sorgerecht. T..... sei ohne ihr
Wissen zum Vater gezogen. Sie sei damit nicht einverstanden. Auf Zwangsmaßnahmen
habe sie zum Wohle des Kindes verzichtet. Gemeldet sei T..... nach wie vor bei ihr.
4
Mit Bescheid vom 24.02.2004 hat die Bekl. die Kindergeldfestsetzung für T..... für
September 2003 bis Januar 2004 aufgehoben und das Kindergeld in Höhe von
insgesamt 770 Euro zurückgefordert. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid
vom 24.02.2004 Bezug genommen, Bl. 65 f. der KG-Akte.
5
Den Einspruch der Klin. wies die Bekl. zurück. Wegen der Einzelheiten wird auf die EE
vom 25.03.2004 Bezug genommen, Bl. 75 ff. der KG-Akte.
6
Die Klin. erhob Klage.
7
Sie habe das alleinige Sorgerecht für T..... . T..... habe sich ohne ihr Wissen zu ihrem
Vater abgesetzt, da sie dort keine erzieherischen Maßnahmen erwartet habe. Dem
8
Aufenthalt von T..... bei ihrem Vater habe sie ausdrücklich widersprochen. Auf
Zwangsmaßnahmen sei zum Wohl des Kindes verzichtet worden. Im Februar 2004 sei
T..... in den Haushalt der Klin. zurückgekehrt. Der vom Vater von T..... beim Amtsgericht
B-Stadt gestellte Antrag auf vorläufige Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts
und Übertragung der elterlichen Sorge sei zurückgenommen worden. T..... sei übrigens
stets bei der Klin. gemeldet gewesen. Bei dem Aufenthalt von T..... bei ihrem Vater habe
es sich um einen vorübergehenden Aufenthalt gehandelt, dies sei von vornherein
absehbar gewesen.
Der der Entscheidung des BFH vom 20.06.2001 (IV R 224/89, BStBl II 2001, 713)
zugrunde liegende Sachverhalt sei mit dem mit dem hier vorliegenden Fall nicht
vergleichbar. Gleichgelagert sei der zitierte Sachverhalt, über den der BFH zu
entscheiden gehabt habe, mit dem hier vorliegenden Rechtsstreit lediglich
dahingehend, dass die Töchter des Kl. in dem Streitfall beim BFH entgegen seinem
Willen zur nicht sorgeberechtigten Mutter gezogen seien. Der entscheidende
Unterschied sei darin zu sehen, dass die sich seiner Zeit streitenden Parteien darauf
verständigt hätten, dass die Kinder bis zur Entscheidung des Sorgerechtsverfahren bei
der damals nicht sorgeberechtigten Mutter bleiben sollten. Für die Unterbringung der
Kinder sei damit ein rechtmäßiger Zustand geschaffen worden. Der hier zu
entscheidende Fall liege anders. Der Vater von T..... sei mit anwaltlichem Schreiben
vom 29.08.2003 ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass der Aufenthalt des
Kindes in seinem Haushalt nicht geduldet werde (Bl. 38 der Gerichtsakte des AG B-
Stadt 34 F 337/03). Mit weiterem Schreiben vom 16.10.2003 sei er aufgefordert worden,
alles daran zu setzen, dass das Kind sich wieder in die Obhut der sorgeberechtigten
Mutter begebe (Bl. 3 der Gerichtsakte des AG B-Stadt 34 F 337/03). Eine betreuende
Funktion sei auf den Kindesvater also gerade nicht übergegangen. Ein
Betreuungsverhältnis sei aber Voraussetzung, so heiße es in der Entscheidung des
BFH vom 20.06.2001, a. a. O.: "Haushaltsaufnahme i. S. d. Vorschrift (§ 64 Abs. 2 Satz 1
EStG) bedeutet die Aufnahme in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten
Betreuungs- und Erziehungsverhältnis familienhafter Art. Neben dem örtlich
gebundenen Zusammenleben müssen Voraussetzungen materieller Art (Sorge,
Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein." Ein
solches Betreuungsverhältnis sei aber im Streitfall nicht entstanden.
9
So habe es auch das OLG C-Stadt in einem Rechtsstreit gesehen, mit dem die Klin. für
den streitgegenständlichen Zeitraum Unterhaltszahlungen von dem Kindesvater
verlangt habe. In dem Verfahren (9 UF 95/04) habe der Senat ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass wegen der fehlenden Sorgeberechtigung und des Widerspruchs der
Klin. und Kindesmutter ein Betreuungsverhältnis nicht habe entstehen können und der
Kindesvater demnach trotz der Abwesenheit des Kindes weiterhin Unterhalt an die
Kindesmutter hätte zahlen müssen. Das Verfahren sei allerdings durch Vergleich
beendet worden, da die Klin. und Kindesmutter dem seinerzeit beklagten Vater eine
Vergütung für die von ihm tatsächlich erbrachten Unterhaltsleistungen kulanterweise
habe zukommen lassen wollen. Demgemäß habe der Kindesvater lediglich die Hälfte
des von ihm geschuldeten Kindesunterhalts für den streitgegenständlichen Zeitraum an
die Mutter nachgezahlt.
10
Die Klin. beantragt,
11
den Bescheid vom 24.02.2004 und die EE vom 25.03.2004 aufzuheben.
12
Die Bekl. beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Die Bekl. meint, es sei für die Frage der tatsächlichen Haushaltsaufnahme nicht von
Bedeutung, ob die Klin. ihr Einverständnis hierzu erteilt habe oder ob sie nicht mit dem
Aufenthaltsort einverstanden gewesen sei. Im Übrigen bezieht sich die Bekl. auf ihre
EE.
15
Mit Beschluss vom 11.02.2005 hat der Senat die Entscheidung des Rechtsstreits dem
Einzelrichter übertragen.
16
Das Gericht hat den Vater von T..... mit Beschluss vom 23.03.2005 zum Verfahren
notwendig beigeladen.
17
Die Akten des Amtsgerichts B-Stadt und des OLG C-Stadt (34 F 337/03 und 9 UF 95/04)
sind zum Verfahren beigezogen worden.
18
Das Gericht hat am 01.12.2005 mündlich verhandelt. Wegen der Einzelheiten wird auf
die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
19
Entscheidungsgründe:
20
Die Klage ist nicht begründet.
21
Der Klin. steht für die Zeit von August 2003 bis Januar 2004 kein Kindergeld zu.
22
Gemäß § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld
gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG das Kindergeld
demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.
23
Haushaltsaufnahme im Sinne dieser Vorschrift bedeutet die Aufnahme in die
Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und
Erziehungsverhältnis familienhafter Art. Neben dem örtlich gebundenen
Zusammenleben müssen Voraussetzungen materieller Art (Versorgung,
Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein (vgl. BFH-
Urteil vom 20.06.2001 VI R 224/98, BStBl II 2001, 713; BFH-Beschluss vom 19.10.2000
VI B 68/99, BFH/NV 2001, 441). Danach gehört ein Kind dann zum Haushalt eines
Elternteils, wenn es dort wohnt, versorgt und betreut wird. Entscheidend sind die
tatsächlichen Verhältnisse. Formale Gesichtspunkte wie die Sorgerechtsregelung oder
die Eintragung in ein Melderegister sind demgegenüber grundsätzlich nicht
entscheidend, sie können allenfalls bei der Beurteilung, in welchen Haushalt ein Kind
aufgenommen ist, unterstützend herangezogen werden (vgl. BFH-Urteil vom
20.06.2001, a.a.O.). Nach der Rechtsprechung des BFH, der das Gericht folgt, verstößt
die Regelung, dass bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an denjenigen zu zahlen
ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Obhutsprinzip), weder gegen
Verfassungsrecht noch gegen europäisches Gemeinschaftsrecht (vgl. BFH-Urteil vom
19.08.2003 VIII R 60/99, BFH/NV 2004, 320).
24
Nach der Rechtsprechung des BFH, der das Gericht folgt, besteht ein Obhutsverhältnis
in diesem Sinne allerdings dann nicht, wenn sich das Kind nur für einen vornherein
25
begrenzten, kurzfristigen Zeitraum bei einem Elternteil befindet, etwa zu
Besuchszwecken oder in den Ferien. Dagegen steht einer Aufnahme in den Haushalt
des einen Elternteils nicht entgegen, wenn die Aufnahme in diesen Haushalt zunächst
noch nicht endgültig ist, aber für einen längeren Zeitraum gelten soll, so dass das
Obhutsverhältnis zu dem abgebenden Elternteil jedenfalls zunächst beendet ist (vgl.
BFH-Urteil vom 20.06.2001, a.a.O.; BFH-Urteil vom 24.10.2000 VI R 21/99, BFH/NV
2001, 444).
Ob etwas anderes gilt, wenn das Kind dem abgebenden Elternteil widerrechtlich
entzogen wird, z.B. in Entführungsfällen, hat der BFH zunächst ausdrücklich offen
gelassen (vgl. BFH-Urteil vom 20.06.2001, a.a.O.; BFH-Beschluss vom 19.05.1999 VI B
22/99, BFH/NV 1999, 1425).
26
Nach der Rechtsprechung des BFH gelten die oben dargestellten Grundsätze für den
Fall des widerrechtlichen Kindesentzugs mit der Besonderheit , dass es bei
Entführungen des Kindes ins Ausland zu einer Beendigung des inländischen
Wohnsitzes des Kindes nur kommt, wenn die Umstände darauf schließen lassen, dass
das Kind nicht zurückkehren wird (BFH-Urteile vom 19.03.2002 VIII R 52/01, BFH/NV
2002, 1148; vom 19.03.2002 VIII R 62/00, BFH/NV 2002, 1146 und vom 30.10.2002 VIII
86/00; BFH/NV 2003, 464). Der inländische Wohnsitz und damit die Zugehörigkeit zum
Haushalt des inländischen Elternteils soll auch bei längerer Abwesenheit erhalten
bleiben, wenn der inländische Elternteil umgehend die erforderlichen Schritte für die
Rückführung des Kindes einleitet und die sonstigen Umstände eine Rückkehr des
Kindes Erfolg versprechend erscheinen lassen (BFH-Urteile vom 19.03.2002, a.a.O.).
27
Für eine Kindesentziehung bzw. bei einem freiwilligen Wechsel des Kindes von dem
Haushalt des sorgeberechtigten Elternteils in den Haushalt des nicht sorgeberechtigten
Elternteils ohne Einverständnis des sorgeberechtigten Elternteils gelten diese
Grundsätze nach Auffassung des Gerichts entsprechend. Der sorgeberechtigte Elternteil
behält danach seinen Kindergeldanspruch nur dann, wenn er umgehend seinen
Rechtsanspruch auf Rückführung des Kindes in seinen Haushalt geltend macht (ebenso
FG Düsseldorf, Urteil vom 27.08.2004 18 K 7715/00 Kg, EFG 2005, 124 rechtskräftig, für
den Fall der Entziehung eines 2-jährigen Kindes im Inland).
28
Im Streitfall hat die Klin. dem Beigeladenen zwar mit anwaltlichen Schreiben vom
29.08.2003 mitgeteilt, dass sie dem Aufenthalt ihrer Tochter T..... seinem Haushalt
ausdrücklich widerspreche. Mit weiterem Schreiben vom 16.10.2003 hat sie den
Beigeladenen aufgefordert, "alles daran zu setzen, dass sich das Kind wieder in die
Obhut der sorgeberechtigten Mutter begibt". Sie hat aber, wie sie selbst vorträgt, auf die
gerichtliche Geltendmachung ihres Herausgabeanspruchs verzichtet und damit nicht die
Voraussetzungen erfüllt, die zum Erhalt des Kindergeldanspruchs erforderlich sind. Aus
welchen Motiven die Klin. auf die gerichtliche Durchsetzung ihres Anspruchs verzichtet
hat, ist für die Frage des Kindergeldanspruchs ohne Bedeutung. Das Gericht ist davon
überzeugt, dass die Klin., wie sie vorträgt, im wohlverstandenen Interesse ihrer damals
15 jährigen Tochter auf die gerichtliche Durchsetzung ihres Herausgabeanspruchs
verzichtet hat.
29
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
30
Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen waren nicht zu erstatten (§ 139 Abs. FGO).
31