Urteil des FG Münster vom 02.12.2008

FG Münster (rückstellung, verhältnis zwischen, bildung, betrag, vertrag, versicherung, höhe, klageverfahren, bezug, beurteilung)

Finanzgericht Münster, 9 K 4216/07 K
Datum:
02.12.2008
Gericht:
Finanzgericht Münster
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 4216/07 K
Tenor:
Unter Änderung des Körperschaftsteuerbescheids 2004 vom 7. Mai
2007 und unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 4.
September 2007 wird die Körperschaftsteuer für das Jahr 2004 in der
Weise festgesetzt, dass
1. eine Rückstellung für die künftige Betreuung bestehender
Versicherungsverträge i.H.v. 30.000 € gewinnmindernd berücksichtigt
wird,
2. die Gewerbesteuer-Rückstellung gewinnmindernd um den Betrag
erhöht wird, der sich als zusätzlicher Gewerbesteueraufwand aus den
vom Beklagten vorgenommenen Kürzungen der Rückstellungen im
Vergleich zum Jahresabschluss der Klägerin ergibt, soweit diese
Kürzungen durch die Entscheidung zu 1. nicht rückgängig gemacht
worden sind (21.140 €).
Die Neuberechnung wird dem Beklagten übertragen, der das Ergebnis
der Klägerin unverzüglich formlos mitzuteilen und nach Rechtskraft der
Entscheidung die Verwaltungsakte mit dem geänderten Inhalt neu
bekannt zu geben hat.
Die bis zum 25. November 2008 entstandenen Kosten des Verfahrens
trägt der Beklagte zu 92% und die Klägerin zu 8%; die ab dem 26.
November 2008 entstandenen Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung gegen Sicherheitsleistung
in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin vorläufig
vollstreckbar.
T a t b e s t a n d
1
Streitig ist, ob ein Versicherungsmakler eine Rückstellung für künftige Aufwendungen
zur Betreuung von Bestandskunden bilden darf.
2
Die Klägerin, eine GmbH, ist als Versicherungsmakler für verschiedene
Versicherungsgesellschaften tätig. Bei ihren Kunden handelt es sich überwiegend um
Zahnärzte, die Ansprüche aus Lebensversicherungsverträgen zur Praxis- bzw.
Immobilienfinanzierung einsetzen.
3
Die Versicherungsgesellschaften, für die die Klägerin tätig ist, zahlen für die Vermittlung
von Lebensversicherungsverträgen grundsätzlich nur eine Einmalprovision, nicht aber
laufende Bestandspflegeprovisionen. Davon abweichend zahlt die A-Versicherung / B-
Versicherung auch für Kapital- und Rentenversicherungen eine
Bestandspflegevergütung; dies gilt allerdings nicht für Beiträge zu
Sammelinkassoversicherungen. Auch die A_Versicherung zahlt eine
Betreuungscourtage; dies gilt allerdings nicht bei Versicherungen innerhalb von
Rahmenverträgen.
4
Mit ihren Kunden schloss die Klägerin jeweils gleichlautende schriftliche
Versicherungsmaklerverträge, in denen es – so die bis ins Jahr 2003 verwendete
Fassung – u.a. heißt: "Der Versicherungsmakler übernimmt für den Auftraggeber in
erster Linie die Vermittlung von Versicherungsverträgen zu günstigen Bedingungen und
Prämien. Daneben erfolgt im Interesse des Auftraggebers die Verwaltung und
Betreuung bestehender Versicherungsverträge sowie der durch den Makler vermittelten
Versicherungsverträge." Weiter wurde die Klägerin bevollmächtigt, für den Auftraggeber
"einen vollen Kundendienst durch Abwicklung aller Versicherungsangelegenheiten
durchzuführen", der sich insbesondere auf die Verwaltung der bestehenden und neu
abzuschließenden Versicherungen erstrecken sollte. Eine Vergütung für die
Verwaltungstätigkeiten schuldete der Auftraggeber nicht; die Klägerin wies in den
Formularverträgen vielmehr ausdrücklich darauf hin, dass sie von den
Versicherungsunternehmen Maklercourtagen erhalte. Die Verträge wurden zunächst für
ein Jahr geschlossen und sollten sich stillschweigend um jeweils ein Jahr verlängern,
sofern sie nicht zuvor gekündigt würden.
5
In den spätestens ab September 2003 verwendeten Vertragsformularen heißt es, dem
Makler "obliegt" die Betreuung von Versicherungsangelegenheiten des Auftraggebers.
Diese Verträge sind ohne Einhaltung einer Frist kündbar.
6
Die Klägerin erbringt für ihre Kunden die folgenden Betreuungsleistungen:
7
– aktentechnische Verwaltung des von den Versicherungsgesellschaften übersandten
Doppels der Jahresmitteilungen und Beantwortung etwaiger Rückfragen der Kunden;
8
– regelmäßige Erstellung eines Vermögensstatus für die finanzierenden Banken,
denen die Versicherungsansprüche als Sicherheiten dienen;
9
– Beratungsgespräche wegen der Anpassung der Tilgungsstrategie aus Anlass der
sich häufig als nicht ausreichend erweisenden Deckung der Finanzierungsdarlehen
durch die Versicherungsansprüche, aus Anlass des Ablaufs der Zinsbindungsfrist und
wegen eines Hinausschiebens des Beginns der Ablaufphase;
10
– Erstellung von Anschreiben für die Kunden im Falle der Kündigung des Vertrags bei
hinausgeschobener Ablaufphase.
11
Die Klägerin bildete in ihrem Jahresabschluss zum 31. Dezember des Streitjahrs 2004
erstmals eine "Rückstellung für Vertragserfüllung" i.H.v. 44.250 €. Die Bilanzsumme
belief sich auf 543.265 €; bei Umsatzerlösen i.H.v. 716.008 € wurde ein
handelsrechtlicher Jahresüberschuss von 98.707 € erzielt.
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Der Beklagte (das Finanzamt – FA –) folgte im ursprünglichen, unter dem Vorbehalt der
Nachprüfung ergangenen Körperschaftsteuer-(KSt-)Bescheid vom 15. August 2006
zunächst den Angaben der Klägerin. Hingegen erkannte er im angefochtenen, auf § 164
Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Änderungsbescheid vom 7. Mai 2007
– neben weiteren, hier nicht streitigen Änderungen – die Bildung der Rückstellung nicht
mehr an und erhöhte den Gewinn entsprechend. Dabei unterließ er es jedoch, die
Gewerbesteuerrückstellung gegenläufig anzupassen.
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Der Einspruch, den die Klägerin vor allem mit der Zulassung der Rückstellungsbildung
durch die höchstrichterliche Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 28. Juli 2004 XI R 63/03,
BFHE 207, 205, BStBl II 2006, 866) begründete, blieb in diesem Punkt ohne Erfolg.
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Im Klageverfahren hat die Klägerin der Berechnung der Rückstellung nur noch solche
Lebensversicherungsverträge zugrunde gelegt, für die sie keine
Bestandspflegeprovisionen erhält. Insbesondere hat sie hinsichtlich der Gesellschaften
A-Versicherung / B-Versicherung bzw. A-Versicherung nur Verträge zu
Sammelinkassoversicherungen bzw. innerhalb von Rahmenverträgen einbezogen
(insgesamt 407 Verträge).
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Ferner ist im Klageverfahren zwischen den Beteiligten unstreitig geworden, dass die
Höhe der Rückstellung – für den Fall, dass eine solche dem Grunde nach zu bilden
wäre – sich auf 30.000 € belaufen würde. Dabei haben die Beteiligten insbesondere
unterstellt, dass die laufende Betreuung einen Zeitaufwand von ca. 20 Minuten pro
Vertrag und Jahr erfordert; hinzu kommt für einmalige Beratungsleistungen, die sich auf
die gesamte Restlaufzeit des Vertrages verteilen und nicht bei jedem Vertrag anfallen,
ein Durchschnittswert von ca. 27 Minuten pro Vertrag. Wegen der weiteren
Berechnungsgrundlagen, die in die Ermittlung des Gesamtbetrags eingeflossen sind,
wird auf das Schreiben des Berichterstatters vom 7. November 2008 (Bl. 189 ff. FG-Akte)
Bezug genommen. Zwischen den Beteiligten ist ferner unstreitig, dass in diesen
Leistungen solche, die vorrangig der Einwerbung neuer provisionsauslösender
Vertragsabschlüsse dienen, nicht enthalten sind.
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Die Klägerin beantragt,
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den Körperschaftsteuerbescheid 2004 vom 7. Mai 2007 unter Aufhebung der
Einspruchsentscheidung vom 4. September 2007 in der Weise zu ändern, dass
18
1. eine Rückstellung für die künftige Betreuung bestehender
Versicherungsverträge i.H.v. 30.000 € gewinnmindernd berücksichtigt wird,
19
2. die Gewerbesteuer-Rückstellung gewinnmindernd um den Betrag erhöht
wird, der sich als zusätzlicher Gewerbesteueraufwand aus den vom Beklagten
vorgenommenen Kürzungen der Rückstellungen im Vergleich zum
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Jahresabschluss der Klägerin ergibt, soweit diese Kürzungen über den
Klageantrag zu 1. hinaus gehen (21.140 €);
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
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Das FA beantragt,
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den Körperschaftsteuerbescheid 2004 vom 7. Mai 2007 unter teilweiser Aufhebung
der Einspruchsentscheidung vom 4. September 2007 in der Weise zu ändern, dass
die Gewerbesteuer-Rückstellung gewinnmindernd um den Betrag erhöht wird, der
sich als zusätzlicher Gewerbesteueraufwand aus den vom Beklagten
vorgenommenen Kürzungen der Rückstellungen im Vergleich zum Jahresabschluss
der Klägerin ergibt (51.140 €),
23
im Übrigen, die Klage abzuweisen;
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hilfsweise, die Revision zuzulassen.
25
Das FA ist – unter Verweis auf den Nichtanwendungserlass des Bundesministeriums
der Finanzen (BMF) vom 28. November 2006 (BStBl I 2006, 765) – der Ansicht, die
Bildung einer Rückstellung sei ausgeschlossen, weil die künftige Betreuung der
Verträge allenfalls eine unwesentliche Belastung darstelle. Für die Beurteilung als
"wesentlich" sei dabei nicht auf die kapitalisierte Summe aller künftig anfallenden
Aufwendungen abzustellen, sondern auf den Aufwand, der dem einzelnen Vertrag
zuzuordnen sei.
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Der Berichterstatter hat die Sache am 22. September 2008 mit den Beteiligten erörtert,
der Senat hat am 2. Dezember 2008 mündlich verhandelt. Auf die jeweiligen Protokolle
wird Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Klage ist begründet. Die angefochtenen Verwaltungsakte sind im Umfang ihrer
Anfechtung rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz
1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
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1. Die Klägerin hat die begehrte Rückstellung für Betreuungsleistungen zu passivieren.
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a) Gemäß § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) hat die Klägerin in ihren Bilanzen das
Betriebsvermögen anzusetzen, das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen
ordnungsmäßiger Buchführung auszuweisen ist. Diese Grundsätze ergeben sich u.a.
aus § 249 Abs. 1 Satz 1 des Handelsgesetzbuches (HGB). Danach sind für ungewisse
Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden.
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Zu den ungewissen Verbindlichkeiten gehören auch Erfüllungsrückstände aus
schwebenden Geschäften. In diesem Zusammenhang hat der BFH bereits entschieden,
dass ein Versicherungsvertreter, der rechtlich auch zur künftigen Betreuung vermittelter
Vertragsverhältnisse verpflichtet ist, hierfür aber keine Bestandspflegevergütung erhält,
eine entsprechende Rückstellung zu bilden hat (BFH-Urteil vom 28. Juli 2004 XI R
63/03, BFHE 207, 205, BStBl II 2006, 866). Wegen der näheren Begründung nimmt der
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Senat Bezug auf diese Entscheidung, der er sich in vollem Umfang anschließt.
b) Im Streitfall liegen alle Voraussetzungen für die Bildung einer Rückstellung vor.
33
aa) Zum einen ist die Klägerin – jedenfalls gegenüber ihren Kunden – rechtlich zur
künftigen Betreuung der Verträge verpflichtet. Dies ergibt sich aus Nr. I.1. der
vorgelegten Versicherungsmaklerverträge a.F. bzw. aus § 1 Ziff. 2, § 2 Ziff. 1 der
Versicherungsmaklerverträge n.F. Das FA hat seinen ursprünglichen Einwand, mit der
an dieser Stelle verwendeten Formulierung werde keine Rechtspflicht begründet,
sondern lediglich ein Zustand beschrieben, in der mündlichen Verhandlung
ausdrücklich nicht mehr aufrecht erhalten. Dem tritt der Senat bei. Denn sprachliche
Formulierungen wie "es erfolgt", "Herr X wird" oder "dem Makler obliegt" werden auch
bei bestehendem Rechtsbindungswillen häufig verwendet, um eine dauernde
Wiederholung der – von manchen Vertragsparteien als "zu juristisch" bzw. jedenfalls als
sprachlich unschön empfundenen – Wendungen "ist verpflichtet", "hat zu" zu vermeiden.
Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin sich trotz Abschluss der Maklerverträge rechtlich
nicht hat binden wollen, hat der Senat nicht feststellen können; insbesondere steht fest,
dass die Klägerin die Betreuungsleistungen gegenüber ihren Kunden tatsächlich
erbracht hat.
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Es kommt in rechtlicher Hinsicht nicht darauf an, dass die Betreuungspflicht im
Verhältnis zwischen der Klägerin und ihren Kunden besteht, die (Einmal-)Vergütung
aber im Verhältnis zwischen der Klägerin und den Versicherungsgesellschaften
vereinbart worden ist. Denn maßgebend für die Rückstellungsbildung ist die Existenz
einer Rechtspflicht (hier: zur Betreuung), aus der dem Steuerpflichtigen künftige
Aufwendungen erwachsen, unabhängig davon, ob aus demselben Rechtsverhältnis
auch eine Vergütung bezogen wurde.
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bb) In Bezug auf die hier noch streitigen 407 Verträge erhält die Klägerin nach den
Vereinbarungen mit den jeweiligen Versicherungsgesellschaften keinerlei laufende
Bestandspflegevergütungen.
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cc) Ferner hat der Senat feststellen können, dass die Klägerin tatsächlich
Betreuungsleistungen im Zusammenhang mit solchen Altverträgen erbringt, für die sie
die volle Einmal-Vermittlungsprovision bereits erhalten und versteuert hat. Die von der
Klägerin substantiiert dargelegten Tätigkeiten sind – mit gewissen Einschränkungen,
die sich in der Reduzierung des von der Klägerin ursprünglich geltend gemachten
Rückstellungsbetrags auf den nunmehr einvernehmlich zugrunde gelegten Betrag von
30.000 € widerspiegeln – als echte Betreuungstätigkeiten für Altverträge zu würdigen.
Diese Tätigkeiten sind auch eindeutig trennbar von Werbemaßnahmen, die auf die
Erlangung neuer Vertragsabschlüsse gerichtet sind und für die keine Rückstellung
gebildet werden dürfte (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch BFH-Urteil vom 28. Juli 2004
XI R 63/03, BFHE 207, 205, BStBl II 2006, 866, unter II.1.b, am Ende).
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c) Dem Einwand des FA, die Bildung der Rückstellung sei wegen Geringfügigkeit bzw.
fehlender Wesentlichkeit der Verpflichtung ausgeschlossen (ebenso
Nichtanwendungserlass des BMF vom 28. November 2006, BStBl I 2006, 765), vermag
der Senat nicht zu folgen. Es fehlt bereits an einer rechtlichen Grundlage für die
Annahme, die Bildung einer Rückstellung sei nur bei wesentlichen Verpflichtungen
zulässig (dazu unten aa). In jedem Fall wäre die hier gegebene – langfristige und mit
hohen Aufwendungen verbundene – Verpflichtung aber als "wesentlich" anzusehen
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(dazu unten bb).
aa) Weder den gesetzlichen Regelungen des HGB noch denjenigen des EStG lässt
sich eine Einschränkung der Pflicht zur Bildung von Rückstellungen auf wesentliche
Verpflichtungen entnehmen. Entgegen der Auffassung des FA folgt ein solcher
Rechtssatz auch nicht aus der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung.
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(1) In dem genannten BMF-Schreiben ist ausschließlich das BFH-Urteil vom 18. Januar
1995 I R 44/94 (BFHE 177, 61, BStBl II 1995, 742, unter II.5.) erwähnt. Dort verweist der
BFH auf frühere Rechtsprechung zur Bedeutung unwesentlichen Aufwands. Tragend ist
diese Urteilspassage jedoch nicht, weil der BFH im konkreten Fall die Wesentlichkeit
bejaht hat.
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(2) Verfolgt man die Verweise in dem genannten BFH-Urteil zurück, zeigt sich, dass
auch das BFH-Urteil vom 25. Februar 1986 VIII R 134/80 (BFHE 147, 8, BStBl II 1986,
788, unter II.3.) keine tragenden Aussagen zu der hier interessierenden Fragen enthält.
Vielmehr findet sich ebenfalls lediglich ein knapper Verweis auf frühere
Rechtsprechung; die Wesentlichkeit ist im konkreten Fall bejaht wurden. Dabei ging es
um eine Verpflichtung zur Erstellung von Abrechnungen; die Rückstellung belief sich
auf 3,9% des Forderungsbetrags.
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(3) Letztlich verweisen die beiden vorgenannten BFH-Entscheidungen auf das BFH-
Urteil vom 15. November 1960 I 189/60 U (BFHE 72, 126, BStBl III 1961, 48). Dabei
handelt es sich – soweit ersichtlich – um die einzige Entscheidung, in der der vom BMF
herangezogene "Wesentlichkeitsgrundsatz" bisher tragende Bedeutung erlangt hat.
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In der Sache selbst ging es um die Bewertung von Rückstellungen für die
Rückvergütung von Rabattmarkenheften. Zwischen den dortigen Beteiligten war
unstreitig, dass die Verpflichtung der Klägerin aus der künftigen Einlösung von
Rabattmarken um den Anteil an Heften zu kürzen war, die erfahrungsgemäß niemals
mehr zurückgegeben werden. Das FA wollte die Rückstellung aber darüber hinaus noch
um 300 DM bzw. 400 DM je Bilanzstichtag für die künftige Einlösung sog.
"Schlussmarken" kürzen. Dabei handelte es sich um einen Teilbetrag von 0,15 DM je
Markenheft im Wert von 3,15 DM, den die dortige Klägerin bei den künftigen
Einlösungsvorgängen einbehalten hat. Hierzu hat der BFH ausgeführt, diese weitere
Kürzung der Rückstellung könne aus Vereinfachungsgründen unterbleiben, da es sich
um Kleinbeträge handle, die in den ersten Monaten des folgenden Geschäftsjahrs
ausgeglichen werden und deshalb das Ergebnis nicht wesentlich beeinflussen.
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In dieser Entscheidung hat der BFH – anders als das BMF offenbar meint – nicht etwa
die Bildung einer Rückstellung unter Verweis auf deren angebliche Unwesentlichkeit
versagt, sondern er ist einer Kürzung der gebildeten Rückstellung durch das FA nicht
gefolgt, weil die Kürzung nur unwesentlich sei. Im Kern hat der Rechtssatz, der dieser
Entscheidung zugrunde liegt, damit genau den gegenteiligen Inhalt wie vom BMF
dargestellt.
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bb) Selbst wenn das vom FA herangezogene Verbot der Bildung von Rückstellungen für
unwesentliche Verpflichtungen – entgegen der Auffassung des Senats – rechtlich
existent wäre, müsste der Senat aufgrund seiner tatsächlichen Beurteilung der den
Streitfall prägenden Umstände die von der Klägerin übernommenen künftigen
Betreuungspflichten als "wesentlich" würdigen.
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Der Sachverhalt, der der unter aa (3) genannten BFH-Entscheidung zugrunde lag, ist
nicht einmal ansatzweise mit dem vorliegenden Fall vergleichbar. Denn die
Betreuungsverpflichtung für Lebensversicherungsverträge realisiert sich bei der
Klägerin nicht bereits innerhalb der ersten Monate des folgenden Geschäftsjahrs,
sondern verteilt sich über die folgenden 17 Jahre. Der absolute Betrag der Rückstellung
liegt im Streitfall um Größenordnungen oberhalb der in dem angeführten BFH-Urteil
einschlägigen 300 bzw. 400 DM. Auch in Relation zu Kennzahlen wie der
Bilanzsumme, dem Umsatz oder dem Gewinn der Klägerin kann die im Streitfall in Höhe
von 30.000 € zu bildende Rückstellung nicht als geringfügig angesehen werden.
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Maßgebend für die Beurteilung, ob eine Verpflichtung als wesentlich anzusehen ist,
können auch die Anschauungen der beteiligten Kreise des Wirtschafts- und
Rechtsverkehrs sein. Dass der Verkehr die künftigen Betreuungspflichten als wesentlich
ansieht, zeigt sich schon daran, dass – wie dem Senat aus zahlreichen
Parallelverfahren bekannt ist – in Verträgen zwischen Versicherungsgesellschaften
einerseits und Versicherungsmaklern bzw. -vertretern andererseits üblicherweise
detaillierte Regelungen über Gewährung, Höhe und Auszahlungs- bzw.
Rückforderungsmodalitäten von Betreuungsprovisionen getroffen werden. Wären die
damit abgegoltenen Leistungen unwesentlich, bestünde für derartige Regelungen aus
Sicht der beteiligten Verkehrskreise kein Bedürfnis.
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Entgegen der Auffassung des FA wäre für die Beurteilung der Wesentlichkeit – sofern
diese überhaupt von rechtlicher Bedeutung sein sollte – auch nicht auf die künftigen
Betreuungsaufwendungen für den einzelnen Vertrag (im Streitfall durchschnittlich 74 €),
sondern auf die im Unternehmen der Klägerin künftig insgesamt anfallenden
Aufwendungen für die Betreuung (im Streitfall 30.000 €) abzustellen. Für die vom FA
vertretene Atomisierung der Verpflichtungen bietet weder das Gesetz noch die bisherige
Rechtsprechung eine Grundlage. Vielmehr ist in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung bereits geklärt, dass nicht der Aufwand für das einzelne
Vertragsverhältnis, sondern die Bedeutung der Verpflichtung für das Unternehmen
maßgebend ist (vgl. BFH-Urteil vom 18. Januar 1995 I R 44/94, BFHE 177, 61, BStBl II
1995, 742, unter II.5., betr. die einzelnen Jahresabrechnungen eines
Versorgungsunternehmens). Auch in dem unter aa (3) bereits angeführten BFH-Urteil
vom 15. November 1960 I 189/60 U (BFHE 72, 126, BStBl III 1961, 48) ist die Bildung
einer Rückstellung für die künftige Einlösung von Rabattmarkenheften zugelassen
worden, obwohl pro Heft lediglich 3 DM auszuzahlen waren und sich die Wesentlichkeit
erst aus der Summe der – jeweils nur geringfügigen – Einzelverpflichtungen ergab.
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d) Dem – berechtigten – Anliegen der Finanzverwaltung, die durch den Ansatz
unrealistisch hoher Rückstellungen drohende Erosion des Steueraufkommens zu
vermeiden, ist durch entsprechende Anforderungen an den Sachvortrag der
Steuerpflichtigen zu Art und Umfang ihrer Betreuungsleistungen Rechnung zu tragen.
Da es sich um Angaben aus der Sphäre der Steuerpflichtigen handelt, die von der
Finanzverwaltung regelmäßig nur sehr eingeschränkt nachgeprüft werden können und
die zudem der Herbeiführung einer Steuerminderung dienen, tragen die
Steuerpflichtigen die volle Feststellungslast für ihre entsprechenden
Tatsachenbehauptungen.
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Dabei werden sich Versicherungsvertreter für den Nachweis von Art und Umfang der
von ihnen zu erbringenden Betreuungsleistungen regelmäßig nicht allein auf die
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einschlägigen, allgemein gehaltenen Argumentationshilfen ihrer Verbände und sonstige
Gestaltungsempfehlungen stützen können, sondern sind gehalten, ihren
Tatsachenangaben – wie die Klägerin im Streitfall – die konkreten Verhältnisse ihres
Betriebs zugrunde zu legen. Insbesondere werden nachvollziehbare Darlegungen zur
Trennung zwischen rückstellungsfähigen Betreuungsleistungen einerseits und
andererseits solchen – nicht zur Bildung von Rückstellungen berechtigenden –
Leistungen, die der konkreten Einwerbung von Neugeschäft oder auch nur der
allgemeinen Kundenpflege dienen, erforderlich sein.
In diesem Zusammenhang bemerkt der Senat ergänzend, dass er den Streitfall insofern
für besonders gelagert hält, als die Klägerin über einen ungewöhnlich anspruchsvollen
Kundenkreis verfügt, der Versicherungsverträge über weit überdurchschnittlich hohe
Summen abgeschlossen hat und diese im Wesentlichen zur Finanzierung von
Immobilien- und Praxiserwerben einsetzt. Dieser besondere Kundenkreis und das
spezielle Einsatzgebiet der Versicherungsverträge bringt nach dem Geschäftsmodell
der Klägerin zugleich einen überdurchschnittlich hohen Betreuungsaufwand mit sich.
Die im Streitfall festgestellten Betreuungszeiten von jährlich 20 Minuten pro Vertrag
zuzüglich 27 auf die Gesamtlaufzeit zu verteilenden Minuten dürften daher auf andere
Fälle nicht unbesehen übertragen werden können.
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2. Im Streitfall wird das FA ferner – wie mittlerweile zwischen den Beteiligten unstreitig
ist – im Hinblick auf die von ihm vorgenommenen Abweichungen von der
Steuererklärung der Klägerin die Gewerbesteuerrückstellung gewinnmindernd erhöhen
müssen. Dies betrifft die folgenden Beträge:
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– Rückstellung für Vertragsbetreuung
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(lt. Jahresabschluss 44.250 € ./. Betrag lt. Urteil 30.000 €) 14.250 €
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– Rückstellung für Aufbewahrung Geschäftsunterlagen
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(lt. Jahresabschluss 11.000 € ./. Betrag lt. Einspruchsentscheidung 4.110 €) 6.890 €
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– Summe zusätzlicher Gewerbeertrag 21.140 €
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3. Die Kostenentscheidung nach dem Verhältnis des jeweiligen Unterliegens und
Obsiegens – bei der auch der ursprünglich weiter gefasste Klageantrag einzubeziehen
war – beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Die Anwendung des § 137 Satz 1 FGO kam
hingegen nicht in Betracht. Zwar hat die Klägerin während des Verwaltungsverfahrens
nicht hinreichend mitgewirkt. Diese nicht hinreichende Mitwirkung im
Verwaltungsverfahren ist aber für den vom FA im Klageverfahren gestellten Sachantrag
nicht kausal geworden, weil das FA trotz der im Klageverfahren nachgereichten
Unterlagen an seinem Klageabweisungsantrag festgehalten hat.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1,
Abs. 3 FGO i.V.m. § 709 der Zivilprozessordnung.
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Die Zulassung der Revision erfolgt wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
(§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) im Hinblick auf den Nichtanwendungserlass des BMF, mit dem
sich der BFH bisher nicht hat befassen können.
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