Urteil des FG Köln vom 22.09.2005

FG Köln: kapitalvermögen, einkünfte, verfassungskonforme auslegung, steuerrecht, auflage, steueramnestie, steuersatz, bemessungsgrundlage, abschlag, kontrolle

Finanzgericht Köln, 10 K 1880/05
Datum:
22.09.2005
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
10 K 1880/05
Tenor:
Das Verfahren wird gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG ausgesetzt.
Es wird eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber
eingeholt, ob
1. die Vorschriften der §§ 20 Abs. 1, 32a EStG in der für die
Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002 maßgeblichen Fassung mit dem
Grundgesetz insoweit unvereinbar sind, wie sie im Zusammenwirken mit
den ergänzenden Regelungen des Strafbefreiungserklärungsgesetzes
(StraBEG) steuerehrliche Steuerpflichtige einer höheren Steuer
unterwerfen als dies für Steuerunehrliche geschieht und
2. darüber, ob die Vorschrift des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG mit dem
Grundgesetz unvereinbar ist, weil die Durchsetzung des aus dem Bezug
von Zinseinkünften erwachsenden Steueranspruchs wegen struktureller
Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt wird.
Sachverhalt
1
Die Kläger erklärten im Rahmen ihrer Einkommensteuererklärung für die Streitjahre
2000 bis 2002 u.a. Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 EStG, darin enthalten
insbesondere auch Zinseinnahmen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG. Diese wurden in den
Steuerbescheiden vom 1. Juni 2004 erklärungsgemäß der Besteuerung zugrunde
gelegt. Mit den Einsprüchen begehrten die Kläger, auch ohne Steuerverkürzung in den
Genuss des pauschalen Steuersatzes nach dem Strafbefreiungserklärungsgesetz
(StraBEG) zu gelangen. Der Beklagte verneinte einen Grundgesetz-Verstoß, da es nicht
geboten sei, einen besonderen Befreiungstatbestand auf ordnungsgemäß veranlagte
Steuerpflichtige auszudehnen.
2
Die Kläger machen geltend, dass Steuerunehrliche nach dem StraBEG lediglich 60%
ihrer bisher verschwiegenen Einnahmen mit einem pauschalen Steuersatz von 25%
versteuern, sofern die Nacherklärung bis zum 31. Dezember 2004 erfolgt sei. Bei der
Ermittlung der Bemessungsgrundlage mit nur 60% der Einnahmen werde nach dem
3
StraBEG lediglich nach Steuerarten differenziert, anders als in der Regelung des § 9a
EStG aber nicht zwischen den Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 EStG. Gerade im Bereich
der Zinseinnahmen führe der pauschale Abschlag von 40% der Kapitaleinnahmen zu
einer unverhältnismäßigen Bevorzugung der Steuerunehrlichen, da hier für
Steuerehrliche nur ein Werbungskosten-Pauschbetrag von lediglich 51 EUR
vorgesehen sei. Die Ungleichbehandlung durch den Ansatz der verminderten
Bemessungsgrundlage werde durch den pauschalen Steuersatz von 25% potenziert.
Eine derartige Ungleichbehandlung im Rahmen einer Amnestie sei nur dann zu
rechtfertigen, wenn sie eine Ausnahmeregelung darstelle. Es sei dem steuerehrlichen
Bürger nicht zuzumuten, dass der Gesetzgeber dem gesetzeswidrigen Verhalten
anderer Steuerpflichtiger nicht durch eine wesentliche Verbesserung der
Vollzugsmöglichkeiten entgegenwirke, sondern stattdessen lediglich in regelmäßigen
Abständen eine Amnestieregelung beschließe. Insbesondere in Bezug auf
Zinseinnahmen knüpfe das StraBEG unmittelbar an den Amnestiezeitraum des Art. 17
des Steuerreformgesetzes 1990 an. Die erneute Amnestie stelle damit keine
hinzunehmende Ausnahme dar, sondern führe zu einem langfristigen Nebeneinander
von geltenden, aber offensichtlich nicht erfolgreich durchsetzbaren Steuergesetzen und
einer den Steuerunehrlichen begünstigenden Amnestieregelung. Eine solche Amnestie
könne deshalb die Benachteiligung der ehrlichen Steuerpflichtigen nicht rechtfertigen.
4
Die Erforderlichkeit einer erneuten Amnestie zeige darüber hinaus, dass der
Gesetzgeber seinem verfassungsrechtlichen Auftrag zur Nachbesserung der
Erhebungsregelungen für die Steuer auf Kapitalerträge seit dem Zinsurteil des BVerfG
nicht nachgekommen sei. Die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens sei
gegenüber dem Besteuerungstatbestand insoweit auch nach dem 1. Januar 1993
weiterhin strukturell so gegenläufig ausgestaltet, dass der Steueranspruch weitgehend
nicht durchgesetzt werden könne und damit der Verstoß gegen das Gebot der
Belastungsgleichheit andauere. Dieser andauernde und erkannte Verstoß gegen die
Belastungsgleichheit führe (über die Verfassungswidrigkeit der Kapitaleinkünfte-
Besteuerung nach den Regelungen des StraBEG hinaus) zur Verfassungswidrigkeit des
§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG für den Zeitraum ab 1993.
5
Die Kläger beantragen, die Einkommensteuerbescheide für 2000 bis 2002 vom
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1. Juni bzw. 30. September 2004 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 8.
April 2005 dahin zu ändern, dass
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1. die Besteuerung ihrer Kapitaleinkünfte insgesamt unter Anwendung der Regelungen
des StraBEG erfolgt (pauschaler Abschlag von 40 v.H. und 25 vH. Pauschsteuersatz),
und
8
2. darüber hinaus bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Kapitaleinkünfte die
Zinserträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG nicht berücksichtigt werden.
9
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Entscheidungsgründe
11
Das Verfahren war gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG auszusetzen.
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I. Vorlagepflicht
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Verletzt ein Bundesgesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung eines
Rechtsstreits ankommt, nach Auffassung des Gerichts das Grundgesetz, so ist das
Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG auszusetzen und die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) einzuholen. Im Streitfall war die Vorlage an das
BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG geboten,
weil der vorlegende Senat die Regelungen der §§ 20Abs. 1, 32a EStG in der für die
Veranlagungszeiträume 2000 bis 2002 maßgeblichen Fassung zunächst insoweit für
verfassungswidrig hält, als sie im Zusammenwirken mit den Regelungen des StraBEG
steuerehrliche Steuerpflichtige einer höheren Steuer unterwerfen als dies bei
Steuerunehrlichen der Fall ist; außerdem hält der Senat die Vorschrift des § 20 Abs. 1
Nr. 7 EStG für mit dem Grundgesetz unvereinbar, weil die Durchsetzung des aus dieser
Vorschrift erwachsenden Steueranspruchs wegen struktureller Vollzugshindernisse
weitgehend vereitelt wird.
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II. Rechtsentwicklung
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1. Rechtsentwicklung bis zu den Streitjahren 2000 bis 2002
16
Mit Art. 17 des Steuerreformgesetzes 1990 (vom 25. Juli 1988, BGBl. I 1988, 1093)
führte der Gesetzgeber das "Gesetz über die strafbefreiende Erklärung von Einkünften
aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen" ein. Dieses gewährte Straffreiheit für
Steuerhinterziehungen und leichtfertige Steuerverkürzungen im Bereich der Einkünfte
aus Kapitalvermögen. Voraussetzung war, dass der Steuerpflichtige bis zum 31.
Dezember 1990 seine Einkünfte aus Kapitalvermögen für die Veranlagungszeiträume
1986 und 1987 richtig und vollständig bei den Finanzbehörden erklärte. Darüber hinaus
wurde in § 2 des Gesetzes auf die Festsetzung der hinterzogenen Steuern für
Veranlagungszeiträume vor 1986 verzichtet. Die gleichzeitig durch das
Steuerreformgesetz 1990 eingeführte sog. "kleine Quellensteuer", nach der ein
Quellensteuerabzug i.H.v. 10 v.H. von den Zinseinnahmen vorgesehen war, wurde
schon ein halbes Jahr nach ihrem Inkrafttreten durch das Gesetz zur Änderung des
Steuerreformgesetzes 1990 (30. Juni 1989, BGBl. I 1989, 1267) wieder abgeschafft.
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In seinem Urteil vom 27. Juni 1991 (2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239) hat das
Bundesverfassungsgericht festgestellt, bei der Besteuerung von Zinseinkünften nach §
2 Abs. 1 Nr. 5, § 20 Abs. 1 Nr. 7 (damals Nr. 8) EStG bestehe seit dem
Veranlagungszeitraum 1981 ein struktureller Erhebungsmangel, weil der
(zwischenzeitlich wortgleich in die Vorschrift des § 30a AO 1977 übernommene)
Bankenerlass 1979 eine wirksame Ermittlung und Kontrolle der Einkünfte aus
Kapitalvermögen verhindere. Die tatsächliche Steuerbelastung hänge daher im
Regelfall davon ab, ob der Steuerpflichtige seine Einkünfte erkläre oder verschweige.
Das Bundesverfassungsgericht hat aus diesem Grund die Besteuerung von
Zinseinkünften nach § 2 Abs. 1 Nr. 5, § 20 Abs. 1 Nr. 8 EStG 1979 für unvereinbar mit
dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist zur
Neuregelung bis zum 31. Dezember 1992 gesetzt.
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Der Gesetzgeber reagierte hierauf mit dem "Gesetz zur Neuregelung der
Zinsbesteuerung" vom 9. November 1992 (BGBl. I 1992, 1853). Dieses sah zum einen
die Anhebung des Sparerfreibetrages um das jeweils Zehnfache auf 6.000 DM für
Alleinstehende bzw. 12.000 DM für Verheiratete vor. Nach der Gesetzesbegründung
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(BR-Drs. 246/92, S. 25) sollten hierdurch "gut 80 % der jetzt noch Steuerpflichtigen
künftig von der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen freigestellt" werden.
Zum anderen sah es für Einkünfte aus Kapitalvermögen von Steuerinländern einen
Zinsabschlag i.H.v. 30 v.H. bzw. bei Tafelgeschäften i.H.v. 35 v.H. vor. Die erhöhten
Sparerfreibeträge konnten bereits bei der Bemessung des Zinsabschlags berücksichtigt
werden, wenn ein entsprechender Freistellungsauftrag erteilt wurde. Zur Verhinderung
einer missbräuchlichen und gesetzeswidrigen Erteilung von Freistellungsaufträgen
wurde § 45d EStG eingefügt, der Mitteilungspflichten der steuerabzugspflichtigen
Stellen gegenüber dem Bundesamt für Finanzen vorsah. Diese Mitteilungen durften
nach § 45d Abs. 2 EStG ausschließlich zur Prüfung der rechtmäßigen Inanspruchnahme
des Sparerfreibetrags verwendet werden. Die Vorschrift des § 30a AO 1977 blieb durch
das Zinsabschlaggesetz unberührt.
Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl. I 1999,
402) halbierte der Gesetzgeber die Sparerfreibeträge mit Wirkung vom 1. Januar 2000
auf 3.000 DM bzw. 6.000 DM. Die Absenkung sei wegen der Gleichmäßigkeit der
Besteuerung der unterschiedlichen Einkunftsarten geboten und diene der Finanzierung
einer spürbaren Tarifsenkung (vgl. BR-Drs. 910/98, S. 179). Gleichzeitig wurde § 45d
EStG dahin erweitert, dass die zum Steuerabzug Verpflichteten dem Bundesamt für
Finanzen auch die aufgrund der Freistellungsaufträge tatsächlich freigestellten Beträge
mitzuteilen haben. Die Mitteilungen dürfen nunmehr von der Finanzbehörde auch zur
Durchführung eines Verwaltungsverfahrens oder eines gerichtlichen Verfahrens in
Steuersachen verwendet werden.
20
2. Rechtsentwicklung nach 2002
21
Durch das Zweite Gesetz zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 15. Dezember
2003 (- StÄndG 2003 -, BGBl. I 2003, 2645) wurde § 24c EStG eingeführt, der die
Kreditinstitute und vergleichbare Einrichtungen ab dem Jahr 2004 verpflichtet, eine
zusammenfassende Bescheinigung u.a. über sämtliche Kapitalerträge auszustellen, die
alle für die Besteuerung nach § 20 EStG erforderlichen Angaben enthalten muss. Die
Bescheinigung dient zugleich als Bescheinigung zur Anrechnung von einbehaltener
Kapitalertragsteuer und Zinsabschlag.
22
Mit dem durch Art. 1 des Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit vom 23.
Dezember 2003 (BGBl. I 2003, 2928) eingeführten Strafbefreiungserklärungsgesetz
(StraBEG) ermöglichte der Gesetzgeber eine strafbefreiende Nacherklärung von
Einnahmen, die bei der Festsetzung der Einkommensteuer in den
Veranlagungszeiträumen 1993 bis 2001 aufgrund unrichtiger, unvollständiger oder
unterlassener Angaben zu Unrecht nicht berücksichtigt wurden. Die derart nacherklärten
Einnahmen werden durch einen pauschalen Abschlag von 40 v.H. gemindert und einer
Steuer mit Abgeltungswirkung unterworfen. Die Höhe der Steuer beträgt 25 v.H., wenn
die Nacherklärung bis zum 31. Dezember 2004 erfolgte, bzw. 35 v.H., wenn dies
zwischen dem 1. Januar und dem 31. März 2005 geschah. Eine ursprünglich von der
Bundesregierung geplante Zinsabgeltungssteuer, die zusammen mit der
Steueramnestie ab 2004 eingeführt werden sollte (vgl. Referentenentwurf eines
Gesetzes zur Neuregelung der Zinsbesteuerung und zur Förderung der
Steuerehrlichkeit - Zinsabgeltungssteuergesetz - vom 17. März 2003, abrufbar unter
www.steuerberatercenter.de), wurde nicht realisiert.
23
Mit Wirkung ab 1. April 2005 hat der Gesetzgeber in den Art. 2 und 3 des Gesetzes zur
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Förderung der Steuerehrlichkeit die Ermittlungsmöglichkeiten der Finanzbehörden
hinsichtlich der Kapitaleinkünfte erweitert. Ein neu eingeführter § 93b AO 1977
ermöglicht einen automatisierten Abruf der auf der Grundlage von § 24c Abs. 1 KWG
nun auch für Besteuerungszwecke zu führenden Kontoinformationen. Die
Finanzbehörden können nach Maßgabe des ebenfalls neu eingeführten § 93 Abs. 7 AO
1977 über das Bundesamt für Finanzen einzelne Daten elektronisch abrufen, wenn ein
Auskunftsersuchen beim Steuerpflichtigen erfolglos durchgeführt worden ist oder keinen
Erfolg verspricht.
Am 1. Juli 2005 trat die Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie 2003/48/EG des Rates
vom 3. Juni 2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen
(Zinsinformationsverordnung – ZIV) vom 26. Januar 2004 (BGBl. I 2004, 128) in Kraft.
Ziel dieser Verordnung, die auf Grundlage des § 45e EStG zur Umsetzung der
genannten EU-Richtlinie (ABlEU Nr. L 157, S. 38) erlassen wurde, ist es, im Bereich der
EU grenzüberschreitende Zinszahlungen im Wohnsitzstaat des Empfängers effektiv zu
besteuern (vgl. BR-Drs. 832/03, S. 16). Danach sind die jeweiligen Zahlstellen
verpflichtet, den Finanzbehörden die notwendigen Auskünfte über die an natürliche
Personen geleisteten Zinszahlungen erteilen.
25
III. Geltendes Recht im Streitfall
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Nach §§ 2 Abs. 1 Nr. 5, 20 EStG in der für die Streitjahre geltenden Fassung unterliegen
der Einkommensteuer Einkünfte aus Kapitalvermögen, die der Steuerpflichtige während
seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht oder als inländische Einkünfte während
seiner beschränkten Steuerpflicht erzielt. Gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG gehören zu den
Einkünften aus Kapitalvermögen auch Erträge aus Kapitalforderungen jeder Art, wenn
die Rückzahlung des Kapitalvermögens oder ein Entgelt für die Überlassung des
Kapitalvermögens zur Nutzung zugesagt oder gewährt worden ist. Auf Grundlage dieser
Vorschriften hat das Finanzamt zutreffend angenommen, dass die Kläger in den
Streitjahren Einkünfte aus Kapitalvermögen erzielt haben. Der von den Klägern erzielte
Überschuss war, soweit er den Sparerfreibetrag des § 20 Abs. 4 EStG überschreitet, der
Besteuerung zu unterwerfen. Da die Kläger ihre Einkünfte ordnungsgemäß erklärt
hatten, kam die günstige StraBEG-Besteuerung nach geltendem Recht nicht in Betracht.
27
IV. Verfassungsrechtliche Würdigung
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Der vorlegende Senat hält jedoch die Regelungen der §§ 20 Abs. 1, 32a EStG im
Allgemeinen und § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG im Besonderen für verfassungswidrig. Nach
seiner Überzeugung sind die §§ 20 Abs. 1, 32a EStG in der für die Streitjahre geltenden
Fassung mit Art. 3 Abs. 1 GG insoweit nicht vereinbar, wie sie ehrliche Steuerpflichtige
einer höheren Steuer unterwerfen als dies für Steuerunehrliche durch das StraBEG der
Fall ist (s.u. 1.). Darüber hinaus hält der vorlegende Senat § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG auch
deshalb für gleichheitssatzwidrig, weil die aus dieser Norm erwachsenden
Steueransprüche - jedenfalls soweit sie die einzubehaltende Kapitalertragsteuer
übersteigen - wegen struktureller Vollzugshindernisse tatsächlich weitgehend nicht
vollzogen werden (sog. strukturelles Vollzugsdefizit; s.u. 2.).
29
1. Verfassungswidrigkeit der §§ 20 Abs. 1, 32a EStG wegen StraBEG
30
Der vorlegende Senat ist der Auffassung, dass die §§ 20 Abs.1, 32a EStG mit der
Einführung der diese Regelung ergänzenden Vorschriften des StraBEG insoweit mit
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dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar geworden sind, wie sie für
Steuerehrliche eine höhere steuerliche Belastung vorsehen als das StraBEG für
Steuerstraftäter.
a. Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG
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Art. 3 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache
ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund für eine gesetzliche
Differenzierung wesentlich gleicher Sachverhalte oder für eine Gleichbehandlung von
wesentlich Ungleichem nicht finden lässt bzw. wenn eine Gruppe von Normadressaten
oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl
zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht
bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Nähere
Maßstäbe und Kriterien lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur bezogen
auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche präzisieren
(BVerfG vom 6. März 2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 [110]; vom 4. Dezember
2002 – 2 BvR 400/98, 1735/00, BVerfGE 107, 27 [45]).
33
Die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte tatbestandlich
zu bestimmen, an die das Gesetz dieselben Rechtsfolgen knüpft und die es so als
rechtlich gleich qualifiziert, wird für den Bereich des Steuerrechts und insbesondere für
den des Einkommensteuerrechts vor allem durch zwei eng miteinander verbundene
Leitlinien begrenzt: Durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der
finanziellen Leistungsfähigkeit und durch das Gebot der Folgerichtigkeit. Danach muss
im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit darauf
abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu
besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während (in vertikaler Richtung) die
Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedriger
Einkommen angemessen sein muss. Zwar hat der Gesetzgeber bei der Auswahl des
Steuergegenstands und bei der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden
Entscheidungsspielraum, jedoch muss er die bei der Ausgestaltung des
steuerrechtlichen Ausgangstatbestands einmal getroffene Belastungsentscheidung
folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umsetzen. Ausnahmen von einer solchen
folgerichtigen Umsetzung bedürfen daher eines besonderen sachlichen Grundes
(BVerfG vom 6. März 2002 – 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73 [110]).
34
b. Verfassungsrechtliche Beurteilung in Rechtsprechung und Schrifttum
35
Rechtsprechung zu der Frage der Besteuerung von Kapitaleinkünften in Bezug auf die
Vergünstigungen des StraBEG liegt noch nicht vor. Soweit ersichtlich, hat lediglich das
VG München (Urteil vom 16.02.2005 11 K 1528/04) in Bezug auf die Gewerbesteuer
einen Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG auf Besteuerung nach dem StraBEG abgelehnt.
Das Schrifttum geht teilweise davon aus, die Benachteiligung der Steuerehrlichen
ergebe sich naturgemäß aus einem Amnestiegesetz. Es sei eine politische
Entscheidung des Gesetzgebers, ob diese Benachteiligung in Kauf genommen werden
könne, die keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne (Düll,
Verfassungsrechtliche Voraussetzungen einer Steueramnestie im Rahmen der
Neuordnung der Zinsbesteuerung, 2003, S. 66; Hilgers-Klautzsch, StuW 2003, 297
[304]; Joecks in Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 6. Auflage 2005, Vor § 1
StraBEG Rz. 16; ders., DStR 2003, 1417; Kamps/Wulf, FR 2004, 121 (133); Laule in
Bröhmer u.a., Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte. Festschrift für Georg
36
Ress zum 70. Geburtstag am 21. Januar 2005, 2005, S. 1198 f.; Schmitz/Brilla, IStR
2004, 73; Seipl in Wannemacher, Steuerstrafrecht. Handbuch, 5. Auflage 2004, Rz.
5400; Stahl, Selbstanzeige und strafbefreiende Erklärung, 2. Auflage 2004, S. 246;
Streck/Kamps in Streck, Berater-Kommentar zur Steueramnestie, 2004, Einl. Rn. 12 ff.;
Weber-Grellet, DB 2004, 1574; Wieland, DFGT 1, 108).
Die Gegenansicht sieht den verfassungsrechtlichen Spielraum des Gesetzgebers als
überschritten an und hält die Ungleichbehandlung für verfassungswidrig (Müller, StBp
2004, 95; Pezzer, DStZ 2003, 724; Schünemann, ZRP 2003, 433; Seer in Tipke/Söhn,
Gedächtnisschrift für Christoph Trzaskalik, 2005, S. 457; ders. in Tipke/Lang,
Steuerrecht, 18. Auflage 2005, § 23 Rz. 66 f.; ders., in Tipke/Kruse, Vor StraBEG Rz. 3 f.;
Randt/Schauf, DStR 2003, 1369 [1370]; Striegel/Weger, DStR 2004, 534 [539 f.]).
37
c. Rechtsansicht des vorlegenden Senats zur
38
Die §§ 20 Abs. 1, 32a EStG sind durch die diese Vorschriften ergänzenden Regelungen
des StraBEG insoweit mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar
geworden, wie Steuerehrliche erheblich ungünstiger besteuert werden als es das
StraBEG für Steuerunehrliche vorsieht.
39
aa) Die Besteuerung durch die §§ 20 Abs. 1, 32a EStG einerseits und das StraBEG
andererseits führt zu einer erheblichen Ungleichbehandlung zwischen Steuerehrlichen
und Steuerunehrlichen. Der Gesetzgeber hat mit der Vorschrift des § 20 EStG eine
Entscheidung dafür getroffen, die Kapitaleinkünfte als Quelle finanzieller
Leistungsfähigkeit der Einkommensbesteuerung zu unterwerfen. Er hat diese
Entscheidung nunmehr folgerichtig auszugestalten und im Interesse
verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit dafür Sorge zu tragen,
dass Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch besteuert
werden. Daraus ergibt sich, dass die Bezieher mit gleich hohen Einkünften aus
Kapitalvermögen steuerlich gleich belastet werden müssen, unabhängig davon, ob sie
ihren steuerlichen Erklärungspflichten nachkommen oder nicht. Ist ein Bezieher von
Kapitaleinkünften seiner so bestimmten Pflicht zur Steuerzahlung nicht nachgekommen
und wird dies bekannt, entspräche es dem Gebot der steuerlichen Lastengleichheit,
dass der Einkünftebezieher – unabhängig von einer Sanktion der Steuerunehrlichkeit –
die von Anfang der entstandenen Steuerschuld nachträglich in voller Höhe zu entrichten
hat.
40
Grundsätzlich werden Einnahmen, die ein Bürger aus Kapitalvermögen bezieht und
erklärt, nach § 9a Abs. 1 Nr. 2 EStG um einen Werbungskostenpauschbetrag i.H.v. 51
EUR bei Alleinstehenden bzw. 102 EUR bei Ehegatten (in den
Veranlagungszeiträumen 2000 und 2001: 100 bzw. 200 DM) gemindert. Die so
ermittelten Einkünfte gehen in das zu versteuernde Einkommen ein und unterliegen dem
persönlichen Einkommensteuersatz nach § 32a EStG (höchstens 51 v.H. in 2000, 48,5
v.H. in 2001 und 2002). Hat der Steuerpflichtige seine Einkünfte dagegen unrichtig,
unvollständig oder gar nicht erklärt, sieht das StraBEG in seinem § 1 Abs. 2 Nr. 1 vor,
dass nur 60 v.H. dieser unrichtig, unvollständig oder nicht erklärten Einnahmen des
Steuerpflichtigen der Besteuerung unterworfen werden, wenn er sie bis zum 31. März
2005 nacherklärt. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 StraBEG unterliegen die Einkünfte einem
Steuersatz von 25 v.H., wenn sie bis zum 31. Dezember 2004 nacherklärt wurden, nach
§ 1 Abs. 6 StraBEG einem Steuersatz von 35 v.H., wenn sie danach bis zum 31. März
2005 nacherklärt wurden. Von einer Sanktion der Steuerunehrlichkeit wird durch das
41
StraBEG ebenso abgesehen wie von einer Verzinsung der Steuerbeträge. Das StraBEG
bewirkt somit durch die Schmälerung der Bemessungsgrundlage und den niedrigeren
Steuersatz eine erhebliche Besserstellung derjenigen, die sich ihren steuerlichen
Pflichten entzogen haben (vgl. auch Weber-Grellet, DB 2004, 1574 [1575]).
bb) Diese Ungleichbehandlung ist nach Auffassung des vorlegenden Senats nicht zu
rechtfertigen.
42
aaa) Der pauschale Abschlag i.H.v. 40 v.H. auf sämtliche einkommen- und
körperschaftsteuerpflichtigen Einnahmen nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 StraBEG kann nicht als
Typisierung gerechtfertigt werden. Das Bundesverfassungsgericht lässt die
vergröbernde, die Abwicklung von Massenverfahren erleichternde Typisierung
grundsätzlich zu. Der Gesetzgeber darf einen steuererheblichen Vorgang um der
materiellen Gleichheit willen im typischen Lebensvorgang erfassen und individuell
gestaltbare Besonderheiten unberücksichtigt lassen (BVerfG vom 10. April 1997 – 2 BvL
77/92, BVerfGE 96, 1 [6 f.]). Eine zulässige Typisierung setzt unter Berücksichtigung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings voraus, dass mit ihr verbundene Härten nur
unter Schwierigkeiten vermeidbar wären, dass sie lediglich eine verhältnismäßig kleine
Zahl von Personen betreffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr
intensiv ist (BVerfG vom 4. April 2001 – 2 BvL 7/98, BVerGE 103, 310 [319]).
43
Der Gesetzgeber führt zur Begründung der § 1 Abs. 2 bis 5 StraBEG an, es sei im
Interesse der Rechtssicherheit erforderlich, die Bemessungsgrundlage für die
strafbefreiende Erklärung eindeutig zu regeln. Dies diene dem Interesse des
Erklärenden, da davon die Reichweite seiner Straf- und Steuerfreiheit abhängt.
Möglicherweise später auftretende Schwierigkeiten darüber, inwieweit der Erklärende
die Bemessungsgrundlage zutreffend ermittelt hat und inwieweit er durch seine
Erklärung straf- und steuerfrei geworden ist, sollen durch eine differenzierte, aber
gleichwohl nachvollziehbare Regelung zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage
vermieden werden (BT-Drs. 15/1309, S. 8).
44
Bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die strafbefreiende Erklärung hat der
Gesetzgeber zwar zwischen den betroffenen Steuerarten differenziert, nicht aber
hinsichtlich der Einkunftsarten innerhalb der Einkommensteuer. Eine solche
Differenzierung wäre aber geboten gewesen, da bei der Höhe der abziehbaren
Aufwendungen zwischen den jeweiligen Einkunftsarten erhebliche Unterschiede
bestehen. So sind die Betriebsausgaben eines Gewerbetreibenden typischerweise sehr
viel höher als die Werbungskosten eines Kapitalanlegers. Dass derartige Unterschiede
zwischen den Einkunftsarten bestehen, zeigt auch § 9a EStG, der unterschiedliche
Werbungskosten-Pauschbeträge für Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und
Kapitaleinkünfte vorsieht. Wie der allgemeine Teil der Gesetzesbegründung zum
StraBEG deutlich macht, lag der Schwerpunkt der gesetzlichen Zielsetzung auf der
Rückholung von nicht erklärten Kapitalerträgen in die Steuerehrlichkeit. Denn die
Amnestie sollte durch die EU-Zinsrichtlinie und eine attraktivere Besteuerung der
Kapitalerträge in Deutschland flankiert werden (vgl. BT-Drs. 15/1309, S. 7). Auch der
Umstand, dass die Steueramnestie ursprünglich von einer Neuregelung der
Zinsbesteuerung begleitet werden sollte, bestätigt, dass es der Sache nach in erster
Linie um die Rückholung von nicht erklärten Kapitalerträgen ging. Der pauschale
Abschlag iHv. 40 v.H. der nacherklärten Einnahmen für Steuerunehrliche nach § 1 Abs.
2 Nr. 1 StraBEG ist deshalb insbesondere auch ins Verhältnis zum Pauschbetrag von
51 EUR für Steuerehrliche zu setzen. Vor diesem Hintergrund ist die
45
Ungleichbehandlung durch die typisierenden Regelungen des StraBEG nicht mehr
verhältnismäßig. Es ist nicht ersichtlich, dass Steuerunehrliche typischerweise höhere
Werbungskosten im Zusammenhang mit ihren Kapitaleinkünften haben als
Steuerehrliche. Denn die möglicherweise anfallenden Mehrkosten für die Transaktion
des Kapitals auf schwarze Konten rechtfertigen keinen Abschlag von 40 v.H.
Eine Differenzierung der pauschalen Abzüge im Rahmen der verschiedenen
Einkunftsarten zur Abmilderung der Ungleichbehandlung Steuerunehrlicher und
Steuerehrlicher wäre ohne größere Schwierigkeiten möglich gewesen. Die derzeitigen
Regelungen betreffen sämtliche Bezieher von Einkünften aus Kapitalvermögen und
somit nicht nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen. Aufgrund des
erheblichen Unterschieds der typisierten Abzugsbeträge liegt ein intensiver Verstoß
gegen den Gleichheitssatz vor, der unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht zu
rechtfertigen ist.
46
bbb) Die sich danach ergebende Ungleichbehandlung kann auch nicht durch
Lenkungszwecke gerechtfertigt werden. Ziel des StraBEG ist die Förderung der
Steuerehrlichkeit. Es soll dazu beitragen, die Umsetzung der Steuergesetze zu
verbessern, die nach den Feststellungen des Gesetzgebers in der Praxis "mitunter an
rechtliche und tatsächliche Grenzen" stößt, um tatsächlich alle Steuerpflichtigen an der
Finanzierung der staatlichen Aufgaben zu beteiligen. Zur Erreichung dieses Ziels soll es
einen Anreiz setzen, freiwillig in die Steuerehrlichkeit zurückzukehren. Bisher
Steuerunehrlichen soll durch die befristete Möglichkeit einer Straf- und
Bußgeldbefreiung, die außerdem einen Verzicht auf die verkürzten Steuern bei Zahlung
einer pauschalierten Abgabe vorsieht, ein Weg zurück in die Legalität aufgezeigt
werden (so BT-Drs. 15/1309, S. 7).
47
Der vorlegende Senat hat bereits Zweifel daran, ob das Gesetz zur Erreichung dieses
Ziels überhaupt geeignet ist. Um geeignet zu sein muss das vom Staat gewählte Mittel
wenn auch nicht optimal, so doch zumindest der Zweckerreichung dienlich, also dem
gewünschten Erfolg förderlich sein (BVerfG vom 10. April 1997 – 2 BvL 45/92, BVerfGE
96, 10 [23]). Das Bundesverfassungsgericht spricht dem Gesetzgeber bei Prognosen
der Geeignetheit einen weiten Spielraum zu und stellt für die Beurteilung auf die
Möglichkeiten des Gesetzgebers zum Zeitpunkt der Gesetzesvorbereitung ab (BVerfG
vom 18. Dezember 1968 – 1 BvL 5, 14/64 u.a., BVerfGE 25, 1
48
[12 f.]). Das oben angeführte Ziel des StraBEG, die Steuerehrlichkeit zu fördern, umfasst
allerdings nicht nur die Rückholung der Steuerunehrlichen in die Steuerehrlichkeit,
sondern auch das Verbleiben der bisher Steuerehrlichen in der Steuerehrlichkeit.
Untersuchungen zeigen, dass durch Steueramnestien die Steuerehrlichkeit nicht
gefördert werden konnte, sondern vielmehr eine Erosion der Steuermoral eingetreten ist
(Sausgruber/Winner, ÖStZ 2004, 207 [211]). Dies gilt in besonderem Maße in
Deutschland, wo die Steueramnestie durch das StraBEG - zumindest im Hinblick auf die
Besteuerung von Zinsen - fast nahtlos an die Steueramnestie aus dem Jahre 1990
anknüpft. In der Literatur wird denn auch klar ausgesprochen, der Steuerehrliche müsse
jetzt kalkulieren, wann die nächste "Exit-Möglichkeit zu Dumpingpreisen" geboten
werde und ob er diesmal hiervon auch profitieren will (vgl. Striegel/Weger, DStR 2004,
534 [539]; Randt/Schauf, DStR 2003, 1369 [1370]). Derzeit ist unklar, wie viele
Steuerehrliche sich in Zukunft aufgrund ihrer mittlerweile schlechten Erfahrung mit der
Rechtstreue in die Steuerunehrlichkeit begeben. Der Ausschluss der Steuerehrlichen
von den steuerlichen Begünstigungen des Gesetzes ist jedenfalls nicht geeignet, die
49
Steuerehrlichkeit zu fördern.
Wegen dieser negativen Folgen beschränkt das BVerfG das Auswahlermessen des
Gesetzgebers bei der Ausgestaltung einer Amnestie. Das Gericht sieht in einer
Amnestie in der Regel die Absicht des Gesetzgebers verwirklicht, unter eine Zeit, in der
das Rechtsbewusstsein infolge außergewöhnlicher Verhältnisse erheblich gestört war,
einen Strich zu ziehen (vgl. BVerfG vom 15. Dezember 1959 – 1 BvL 10/55, BVerfGE
10, 234 [241]). Die Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung durch ein solches
"Schlussstrichgesetz" beschränkt sich also auf die rechtspolitische Bewältigung einer
Ausnahmesituation. Dies muss erst recht dann gelten, wenn zu dem Verzicht auf
Bestrafung als eigentlichem Inhalt einer Amnestie erhebliche steuerliche
Vergünstigungen für den Steuerstraftäter hinzutreten und dadurch sogar eine
Besserstellung der Straftäter gegenüber den rechtstreuen Bürgern eintritt.
Voraussetzungen einer solchen Amnestie sind mithin die notwendige Korrektur der
Rechtslage, ein Schlussstrich und ein Neuanfang (Weber-Grellet, DB 2004, 1574
[1575]; Schünemann, ZRP 2003, 433; Düll, Verfassungsrechtliche Voraussetzungen
einer Steueramnestie im Rahmen der Neuordnung der Zinsbesteuerung, S. 20). Nur das
Junktim mit einer für die Zukunft geltenden Neugestaltung vermag die massive
Ungleichbehandlung für die Vergangenheit zu rechtfertigen (so Seer in Tipke/Söhn,
Gedächtnisschrift für Christoph Trzaskalik, S. 460).
50
Die Korrekturbedürftigkeit der Rechtslage kann mit dem Gesetzgeber bejaht werden, der
rechtliche und tatsächliche Grenzen bei der Umsetzung der Besteuerungsgerechtigkeit
erkannt hat (vgl. BT-Drs. 15/1309, S. 1). Im Bereich der Zinsbesteuerung hat bisher vor
allem die Vorschrift des § 30a AO 1977 die Ermittlungsmöglichkeiten der
Finanzbehörden bei Bankinstituten einschränkt und eine tatsächliche Gleichbelastung
der Steuerpflichtigen verhindert (BVerfG vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE
84, 239; vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94; vgl. dazu im Einzelnen die
Ausführungen des vorlegenden Senats unter 2.). Eine Korrektur dieser Regelung, die
die Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen rechtfertigen und unter Umständen auch
sinnvoll machen könnte, ist jedoch ausgeblieben. Der ursprüngliche Referentenentwurf
des Gesetzes, das zu diesem Zeitpunkt noch "Gesetz zur Neuregelung der
Zinsbesteuerung und zur Förderung der Steuerehrlichkeit" (vom 17. März 2003, abrufbar
unter "http://www.steuerberatercenter.de") hieß, sah die Einführung einer
Zinsabgeltungssteuer vor, die durch die Steueramnestie begleitet werden sollte. Noch
bevor dieser Reformvorschlag allerdings in den Bundestag eingebracht wurde, sah die
Bundesregierung wieder von ihm ab und beließ es bei einer Amnestie. Eine
grundlegende Renovierung des Systems der Besteuerung von Kapitaleinkünften ist
schließlich unterblieben.
51
Mit Wirkung ab dem 1. April 2005 wurden lediglich einige Reparaturen durchgeführt,
indem die Vorschriften der §§ 93 Abs. 7 und 93b AO 1977 eingefügt wurden. Diese
sollen zu einer Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten für die Finanzverwaltung auch
im Bankenbereich führen. Die bis dahin vom Bundesverfassungsgericht für
Vollzugsdefizite verantwortlich gemachte Norm des § 30a AO 1977 blieb jedoch erneut
unverändert bestehen. Zum Teil wird vertreten, die Einführung der §§ 93 Abs. 7 und 93b
AO 1977 setzten den Regelungsinhalt des § 30a AO 1977 "in gewissem Umfang
teilweise" außer Kraft (so Weber-Grellet, DB 2004, 1579; Hilgers-Klautzsch, StuW 2003,
297 [304]), Rechtsunsicherheiten bestehen aber weiterhin, zumal der Gesetzgeber in
der Gesetzesbegründung ausdrücklich ausführt, dass der "Schutz des
Vertrauensverhältnisses zwischen den Kreditinstituten und deren Kunden" durch die
52
Normen unangetastet bleibe (BT-Drs. 15/1309, S. 12). Von einem Neuanfang kann also
nicht gesprochen werden, wenn unverändert die Vorschrift fortbesteht, die bisher im
Wesentlichen für die Korrekturbedürftigkeit der Rechtslage verantwortlich war (vgl.
ebenso Seer in Tipke/Söhn, Gedächtnisschrift für Christoph Trzaskalik, S. 462; Pezzer,
DStZ 2003, 724 [727]; Hey, DB 2004, 724 [728]; Göres, NJW 2005, 253 [257]). Die
Aufrechterhaltung des "steuerlichen Bankgeheimnisses" in § 30a AO 1977 ist das
falsche Signal an die bisher Steuerehrlichen, denn die Vorschrift dient auch weiterhin
einzig und allein dem Schutz der Steuerhinterziehung und sorgt dafür, dass diese - noch
mehr als bisher - als Kavalierdelikt angesehen wird. Mit der Steueramnestie hat der
Gesetzgeber daher seinen Beurteilungsspielraum überschritten.
d. Entscheidungserheblichkeit
53
Auch die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage ist zu bejahen (a.A. VG
München, a.a.O.). Die Entscheidungserheblichkeit erfordert eine Unvereinbarkeit mit
dem Grundgesetz in dem Sinne, dass dem Gesetzgeber eine Heilung des
Gleichheitsverstoßes durch Einbeziehung der Kläger, deren durchschnittlicher
Steuersatz in den Streitjahren zwischen 29,2 % und 40,3 % betrug, in die Begünstigung
möglich wäre. Die Gültigkeit der beanstandeten Normen (§§ 20, 32a EStG im
Zusammenwirken mit den Regelungen des StraBEG) wäre hingegen nicht
entscheidungserheblich, wenn die Einbeziehung des Klägers in den begünstigten
Personenkreis schlechthin ausgeschlossen erschiene, wenn die Regelungen also
verfassungswidrig in dem Sinne wären, dass allein der ersatzlose Wegfall der StraBEG-
Vergünstigungen zu einem verfassungskonformen Zustand führen würde. Denn dann
könnte der Kläger sein Klageziel unter keinen Umständen erreichen und die Klage wäre
abzuweisen (vgl. BVerfG vom 10. Oktober 1983 - 1 BvL 73/78, BVerfGE 65, 160 [169],
vom 27. Juni 1991 - 2 BvL 3/89, BVerfGE 84, 233 [237], vom 31. Januar 1996 – 2 BvL
39, 40/93, BVerfGE 93, 386 [395]). Die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber die
Ungleichbehandlung dadurch beseitigt, dass er den Steuerehrlichen nunmehr auch die
Vergünstigungen gewährt, die er dem Steuerunehrlichen zugesteht, scheint dem
vorlegenden Senat im Streitfall nicht gänzlich unvorstellbar (vgl. auch Felix, FR 1998,
669 [671]; Seer, StB 1989, 141 [144]; Birk, NJW 1989, 1072 [1075] zum
Steueramnestiegesetz 1990), weil es dem gesetzlichen Ziel - der Förderung der
Steuerehrlichkeit - langfristig entgegensteht, wenn Steuerehrliche von Vergünstigungen
ausgeschlossen werden, die der Gesetzgeber Steuerunehrlichen gewährt. Die
Entscheidung darüber, wie die verfassungsrechtliche Ungleichbehandlung beseitigt
werden soll, steht aber letztlich nicht den Gerichten zu. Sie ist alleine Sache des
Gesetzgebers (Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. III, 1993, S. 1392 ff.; Wernsmann,
Das gleichheitswidrige Steuergesetz - Rechtsfolgen und Rechtsschutz, S. 143).
54
2. Verfassungswidrigkeit des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG im Besonderen
55
Darüber hinaus hält der vorlegende Senat § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG für nicht mit dem
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, weil der sich nach dieser Vorschrift
ergebende Steueranspruch wegen des insoweit nach wie vor bestehenden strukturellen
Vollzugsdefizits gegenüber den Steuerpflichtigen nicht gleichmäßig durchgesetzt wird.
56
a. Prüfungsmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG
57
aa) Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Steuerrecht nicht nur, dass
die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich, sondern auch dass sie
58
tatsächlich - im Rahmen der Steuererhebung - gleich belastet werden. Daraus folgt,
dass das materielle Steuergesetz in ein normatives Umfeld eingebettet sein muss,
welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolgs
prinzipiell gewährleistet. Zwar hat der Gesetzgeber bei der Auswahl des
Steuergegenstands und der Bestimmung des Steuersatzes einen weitreichenden
Ermessensspielraum, jedoch muss er die einmal getroffene Belastungsentscheidung
folgerichtig umsetzen. Dazu müssen die Besteuerungsgrundlagen möglichst vollständig
festgestellt und die Steuern anschließend gleichmäßig erhoben werden. Hängt die
Festsetzung der Steuer von der Erklärung des Steuerschuldners ab, werden erhöhte
Anforderungen an die Steuerehrlichkeit gestellt. Der Gesetzgeber muss die
Steuerehrlichkeit deshalb durch hinreichende, die steuerliche Belastungsgleichheit
gewährleistende Kontrollmöglichkeiten abstützen. Eine Belastungsungleichheit durch
Vollzugsmängel bei der Steuererhebung, die immer wieder vorkommen können und
sich auch tatsächlich ereignen, führt noch nicht zu einer gleichheitswidrigen
Besteuerung. Wirkt sich indes eine Erhebungsregelung gegenüber einem
Besteuerungstatbestand in der Weise strukturell gegenläufig aus, dass der
Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann, und ist dieses
Ergebnis dem Gesetzgeber zuzurechnen, so führt die dadurch bewirkte
Gleichheitswidrigkeit zur Verfassungswidrigkeit auch der materiellen Norm (BVerfG vom
27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239; vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02,
BVerfGE 110, 94).
bb) Verfassungsrechtliche Beurteilung in Rechtsprechung und Schrifttum
59
aaa) Das Bundesverfassungsgericht hat sich nach seinem Urteil vom 27. Juni 1991 (2
BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239) nicht noch einmal ausdrücklich mit der
Verfassungsmäßigkeit der Zinsbesteuerung auseinandergesetzt. Mit
Kammerbeschlüssen vom 21. März 1996 (2 BvR 2473/95, StE 1996, 411) und vom 10.
Oktober 1997 (2 BvR 1440/97, StE 1997, 799) hat es zwei Verfassungsbeschwerden zur
Verfassungsmäßigkeit der Besteuerung von Kapitalerträgen im Veranlagungszeitraum
1993 nicht zur Entscheidung angenommen und nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von
einer Begründung abgesehen. Mit Urteil vom 9. März 2004 (2 BvL 17/02, BVerfGE 110,
94) hat das Bundesverfassungsgericht die Besteuerung von privaten
Spekulationsgeschäften bei Wertpapieren wegen eines strukturellen Erhebungsdefizits
für verfassungswidrig erklärt und dabei für den Vergleich der Kontrollmöglichkeiten
innerhalb der verschiedenen Einkunftsarten ausgeführt, anders als bei der Besteuerung
von Spekulationsgewinnen existierten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen eine
Quellensteuer sowie die Kontrollmöglichkeit nach § 45d EStG. Die Besteuerung der
Spekulationsgewinne habe selbst dann noch Ausnahmecharakter, wenn man
unterstelle, dass bei den Kapitaleinkünften wegen der ins Ausland transferierten
"Fluchtgelder" knapp zwei Drittel der Zinsgutschriften nicht versteuert werden, weil
selbst die Quellensteuer als wirksamste Erhebungsform im Ausland nicht greife. Hinzu
komme, dass die Finanzverwaltung insbesondere im Rahmen von
Steuerfahndungsmaßnahmen nicht unerhebliche Anstrengungen unternommen habe,
die Besteuerung von Einkünften aus im Ausland transferiertem Kapitalvermögen
sicherzustellen (BVerfG vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 [134 f.]). Als
Hauptursache des strukturellen Erhebungsdefizits bei der Besteuerung von
Spekulationsgewinnen nennt das Bundesverfassungsgericht § 30a AO 1977, der eine
effektive Kontrolle durch die Finanzbehörden verhindere (BVerfG vom 9. März 2004 – 2
BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 [124 ff. und 137]).
60
bbb) Der 8. Senat des Bundesfinanzhofs hat die Zinsbesteuerung im
Veranlagungszeitraum 1993 in einem Urteil vom 18. Februar 1997 (VIII R 33/95, BFHE
183, 45) für verfassungsgemäß gehalten. Ein Vollzugsdefizit sah er weder bei aus- noch
bei inländischen Zinseinkünften. Kapitalerträge, die im Ausland anfielen, unterlägen
nicht bundesdeutschen Hoheitsbefugnissen. Daher könne der deutsche Gesetzgeber –
selbst wenn solche Zinszahlungen tatsächlich in großem Umfang im Inland rechtswidrig
nicht besteuert würden – dort auch keine Maßnahmen zur Aufklärung steuererheblicher
Sachverhalte treffen. Bezüglich der inländischen Kapitalerträge wies der 8. Senat darauf
hin, dass ein Vollzugsdefizit nur dann auftreten könne, wenn der persönliche Steuersatz
der Einkünftebezieher den der Zinsabschlagsteuer übersteige. Für diese Fälle genügten
aber die zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten der Finanzbehörden. Die
Vorschrift des § 30a AO 1977 stehe dem nicht entgegen, denn sie sei
verfassungskonform einschränkend auszulegen. Während den Regelungen des § 30a
Abs. 1, 2, 4 und 5 AO 1977 lediglich rechtsbestätigender Charakter zukomme, hindere
Abs. 3 nicht die Fertigung und Auswertung von Kontrollmitteilungen anlässlich einer
Außenprüfung bei Kreditinstituten, wenn hierfür ein "hinreichend begründeter Anlass"
bestehe.
61
Mit Urteil vom 15. Dezember 1998 (VIII R 6/98, BFHE 187, 302) und Beschluss vom 22.
Februar 1999 (VIII R 29/98, BFH/NV 1999, 931) hat der 8. Senat seine Rechtsprechung
zu § 30a AO 1977 und seine Auffassung von der Verfassungsmäßigkeit der
Besteuerung der Kapitaleinkünfte im Veranlagungszeitraum 1993 bestätigt, obwohl ihm
der 7. Senat in einem Beschluss vom 28. Oktober 1997 (VII B 40/97, BFH/NV 1998, 424)
hinsichtlich der Auslegung des § 30a AO 1977 entgegen getreten ist. Der 7. Senat führte
aus, die Auslegung des § 30a AO 1977 durch den 8. Senat widerspreche der
Zielsetzung der Vorschrift, die eine bewusste und zielgerichtete Einschränkung des §
194 Abs. 3 AO 1977 durch den Gesetzgeber für Prüfungen im Bankenbereich sein solle.
Solange § 30a AO 1977 Bestand habe, müsse wenigstens ein Kernbestand des
Bankgeheimnisses bewahrt bleiben. In seinem Vorlagebeschluss 16. Februar 2002 (IX
R 62/99, BFHE 199, 451) hinsichtlich der Besteuerung von Einkünften aus
Spekulationsgeschäften hat der 9. Senat des Bundesfinanzhofs ebenfalls Bedenken
gegen die verfassungskonforme Auslegung des § 30a AO 1977 durch den 8. Senat
geäußert und sich zur Begründung den Ausführungen des 7. Senates angeschlossen.
62
ccc) Die wohl überwiegende Mehrheit der Stimmen im Schrifttum bejaht die
Verfassungswidrigkeit der Zinsbesteuerung auch für die Veranlagungszeiträume ab
1993 (z.B. Austrup, Zinsbesteuerung, 1994, S. 106; Bilsdorfer, NJW 1997, 2368;
Blesinger, NJW 2001, 1459; Birk, Steuerrecht, 7. Auflage 2004, Rz. 433; ders., StVj
1993, 97; ders., StuW 2004, 277; Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht,
1999, S. 348 ff.; ders., DStR 1997, 1071; Ehrhardt-Rauch/Rauch, DStR 2002, 57;
Esskandari, Zur "Misere der Zinsbesteuerung", 2001, S. 178; ders., DStZ 2001, 761;
Freitag, Die Besteuerung der Zinsen, 1999, S. 108; Fumi in Kellersmann, Nationale und
internationale Dimensionen des Steuerrechts, Symposium zum 60. Geburtstag von Prof.
Dr. Jörg Manfred Mössner, 2002, S. 67; Harenberg in Hermann/Heuer/Raupach,
Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz. Kommentar, § 20 EStG Anm. 6; ders.,
FR 1998, 493; Hellwig in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgaben- und zur
Finanzgerichtsordnung, § 30a AO 1977 Rz. 11d; ders. in Kirchhof/Jakob/Beermann,
Steuerrechtsprechung, Steuergesetz, Steuerreform, Festschrift für Klaus Offerhaus zum
65. Geburtstag, 1999, S. 1113; Hey, DB 2004, 724; Hoppe, Das Erhebungsdefizit im
Bereich der Besteuerung von Zinseinkünften, 1998, S. 15 ff.; Knist, Kapitalvermögen
und Steuerhinterziehung, 1996, S. 42 f.; Koss in Lademann, § 20 EStG Anm. 137; Lang
63
in Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Auflage 2002, § 9 Rz. 563; Laule, in Kleineidam,
Unternehmenspolitik und Internationale Besteuerung, Festschrift für Lutz Fischer zum
60. Geburtstag, 1999, S. 335; Miebach, Das Bankgeheimnis. Verfassungsrecht und §
30a AO 1977, 1999, S. 295; Niebler, DStZ 2001, 890; Papier/Dengler, BB 1996, 2541;
Peschges, Die Rechtsstellung der Bank im Steuerverfahren ihres Kunden, 2000, S. 52;
Risto/Julius, DB Beilage 4/2002; Rüth, DStZ 2000, 30; Schumacher, FR 1997, 1; Seer in
Tipke/Lang, Steuerrecht, 17. Auflage 2002, § 21 Rz. 200; ders. in Tipke/Söhn,
Gedächtnisschrift für Christoph Trzaskalik, S. 457; Tipke, Die Steuerrechtsordnung II, 2.
Auflage 2003, S. 708; ders. in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung.
Kommentar, § 30a AO 1977 Rz. 31; Wernsmann/Stabold, StuB 2000, 252 und 302;
Weyand; INF 1997, 554). Sie geht davon aus, dass trotz der Einführung der
Zinsabschlagsteuer und der Erhöhung der Sparerfreibeträge – nicht zuletzt wegen des
weiterhin geltenden § 30a AO 1977 – noch immer ein strukturelles Vollzugsdefizit bei
der Besteuerung von Zinsen besteht.
Die Gegenansicht (z.B. Dötsch, DStZ 1999, 221; Gersch in Kirchhof/Söhn, § 43 EStG
Rn. I 2; Jakob, DStR 1992, 893; Lindberg in Blümich, § 43 EStG Rz. 7; Metzner in
Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 30a AO 1977 Rzl. 24 ff.; Rößler, DStZ 1998,
51; Vogt/Kramer, DStZ 1999, 491; Weber-Grellet in Schmidt, § 20 Rz. 165; Wieland, JZ
2000, 272) geht von der Verfassungsmäßigkeit der seit dem Veranlagungszeitraum
1993 geltenden Neuregelung der Zinsbesteuerung aus. Durch die erhebliche Erhöhung
der Freibeträge, die Zinsabschlagsteuer, die Regelung des § 45d EStG und eine
vermehrte Ermittlungsaktivität der Finanzverwaltung sei das strukturelle Vollzugsdefizit
bei der Zinsbesteuerung beseitigt. Hinsichtlich der Vorschrift des § 30a AO 1977 beruft
sich die Gegenansicht überwiegend auf die Auslegung des 8. Senats des
Bundesfinanzhofs und sieht diese daher nicht als Vollzugshindernis an.
64
cc) Rechtsansicht des vorlegenden Senats zur Verfassungsfrage
65
Nach Ansicht des vorlegenden Senats ist der gleichmäßige tatsächliche Vollzug der
Zinsbesteuerung nach § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG in den Streitjahren nicht gewährleistet.
Die Maßnahmen, die der Gesetzgeber für die Verifikation der vom Steuerpflichtigen
erklärten Zinseinkünfte geschaffen hat, sind nach Auffassung des vorlegenden Senats
für die Streitjahre nicht ausreichend, um das vom Bundesverfassungsgericht im Jahre
1991 festgestellte Vollzugsdefizit bei der Zinsbesteuerung zu beseitigen.
66
aaa) Mit dem Zinsabschlaggesetz hat der Gesetzgeber als Reaktion auf das BVerfG-
Urteil vom 27. Juni 1991 2 BvR 1493/89 (BVerfGE 84, 239) den Zinsabschlag
eingeführt. Danach werden die Einkünfte aus Kapitalvermögen von Inländern, die diese
von einer inländischen Zahlstelle beziehen, einer Quellensteuer i.H.v. 30 vH. bzw. bei
Tafelgeschäften i.H.v. 35 v.H. unterworfen. Der Zinsabschlag hat jedoch keine
abgeltende Wirkung, er wird vielmehr als eine Art der Vorauszahlung auf die
Einkommensteuer angerechnet. Der Steuerpflichtige ist deshalb weiter verpflichtet seine
Zinseinkünfte grundsätzlich auch in der Steuererklärung anzugeben. Übersteigt sein
persönlicher Einkommensteuersatz den Zinsabschlagsteuersatz – also 30 bzw. 35 v.H.
– fällt weitere Einkommensteuer auf seine Zinseinkünfte an. Ein Steuererhebungsdefizit
ist deshalb weiterhin in zwei Fällen denkbar:
67
Zum einen bei den Steuerpflichtigen, die Zinsen von ausländischen Zahlstellen
beziehen und deshalb dem Zinsabschlag von vorneherein nicht unterworfen sind
(unbestritten ist es infolge der Einführung der Zinsabschlagsteuer im Jahr 1992 zu einer
68
erheblichen Verlagerung von inländischen Kapitalvermögen in das Ausland gekommen;
allerdings handelt es sich bei der Steuerflucht grundsätzlich um kein dem Gesetzgeber
anzulastendes Erhebungsdefizit, sondern vielmehr um eine Folge territorial begrenzter
Steuer- und Vollzugshoheit, die die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers an den
Landesgrenzen enden lässt (BVerfG vom 9. März 2004 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94
[134]; BFH 18. Februar 1997 - VIII R 33/95, BFHE 183, 45 [54]; Hey, DB 2004, 724 [728];
Englisch, Die duale Einkommensteuer – Reformmodell für Deutschland?, 2005, unter A.
II. 2.);
zum anderen bei Steuerpflichtigen, die ihre von inländischen Zahlstellen bezogenen
und dem Zinsabschlag unterworfenen Kapitalerträge in ihrer
Einkommensteuererklärung nicht angeben, obwohl die effektive Steuerbelastung dieser
Erträge höher als der erhobene Zinsabschlag wäre (so auch BFH vom 18. Februar 1997
– VIII R 33/95, BFHE 183, 45 [53]).
69
Da das Gesetz auch in diesen Fällen weiterhin die Besteuerung der Zinseinkünfte mit
dem persönlichen Steuersatz fordert, hat der Gesetzgeber auch dafür zu sorgen, dass
der Steueranspruch nicht nahezu allein von der Erklärung durch den Steuerpflichtigen
abhängt (Harenberg, FR 1998, 493). Für die Gleichheitswidrigkeit der Norm macht es
nach Auffassung des vorlegenden Senats keinen Unterschied, ob ein Erhebungsdefizit
hinsichtlich des gesamten Besteuerungstatbestands vorliegt (wie dies bis 1993 für die
Zinseinkünfte der Fall war) oder ob dies nur für einen bestimmten Teil des
Besteuerungstatbestandes der Fall ist, nämlich für die Besteuerung von Zinseinkünften,
soweit der persönliche Steuersatz über den Quellensteuersatz hinaus geht. Auch wenn
in diesem Fall die entgangene Steuer geringer ausfallen mag, erfordert ein
gleichheitssatzkonformer Vollzug, wie ihn das Bundesverfassungsgericht fordert, die
Sicherung der gesetzlich angeordneten Steuer in der vollen Höhe (so auch Hey, DB
2004, 724 [728]; Wernsmann/Stalbold, StuB 2000, 252 [254]). Kontrollen sind daher für
die Gleichheit im steuerlichen Belastungserfolg insoweit unbedingt erforderlich.
70
Gleichzeitig mit der Einführung des Zinsabschlags hat der Gesetzgeber die Höhe der
Sparerfreibeträge auf 6.000 DM für Alleinstehende bzw. 12.000 DM für Ehegatten
verzehnfacht, mit dem Ziel, einen Großteil der bis dahin noch Steuerpflichtigen künftig
von der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen freizustellen (nach
Schätzungen der Bundesregierung etwa 80%; vgl. BR-Drs. 246/92, S. 25). Es wird
vorgebracht, soweit es den durch die Freibeträge ausgeschiedenen Teil der
Steuerpflichtigen betreffe, könne das gleichheitswidrige Steuererhebungsdefizit von
vorneherein nicht mehr auftreten (so BFH vom 18. Februar 1997 – VIII R 33/95, BFHE
183, 45 [53]; auch Jakob, DStR 1992, 893 [895]; Wieland, JZ 2000, 272 [275]). Zu
beachten ist dabei jedoch, dass ab dem Veranlagungszeitraum 2000 die
Sparerfreibeträge durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 halbiert worden
sind und dadurch wieder ein größerer Kreis Steuerpflichtiger von der Zinsbesteuerung
betroffen ist (Esskandari, DStR 2001, 1596 (1597); Risto/Julius, DB Beilage 5/2002, S.
5; Wernsmann/Stalbold, StuB 2000, 252 [254]). Abgesehen von gleichheitsrechtlichen
Fragen, die sich durch die hohen Freibeträge im Hinblick auf die anderen Einkunftsarten
ergeben (Tipke, StuW 1993, 8 [11 f.]; Birk, StVj 1993, 97 [102]; Schumacher, DStR 1997,
1 [6]; Harenberg, FR 1998, 493 [494]; vgl. auch BR-Drs. 910/98, S. 179), wird das vom
Bundesverfassungsgericht festgestellte Problem des Erhebungsdefizits aber hinsichtlich
der nicht von den Freibeträgen erfassten Steuerpflichtigen nicht gelöst (Fumi in
Kellersmann, Nationale und internationale Dimensionen des Steuerrechts, S. 75). Auch
für diesen verbleibenden Personenkreis hat der Gesetzgeber den Grundsatz der
71
Belastungsgleichheit zu beachten und sicherzustellen. Durch die Einführung der hohen
Freibeträge wurde lediglich die Gruppe derjenigen verkleinert, innerhalb der die
Belastungsgleichheit bezüglich der Zinsbesteuerung bestehen muss. Die Herausnahme
eines Großteils der Zinsbezieher aus der Steuerpflicht befreit den Gesetzgeber jedoch
nicht, für den weiterhin steuerpflichtigen Teil die Belastungsgleichheit herzustellen und
durch Kontrollmöglichkeiten im Besteuerungsverfahren auch abzusichern (Birk, StVj
1993, 97 [107]; Papier/Dengler, DB 1996, 2541 [2543]).
bbb) Das Bundesverfassungsgericht weist in seinem Urteil vom 9. März 2004 (2 BvL
17/02, BVerfGE 110, 94 [133]) auf die Kontrollmöglichkeit nach § 45d EStG hin, die -
anders als bei Spekulationsgewinnen - für die Besteuerung der Kapitaleinkünfte
bestehe. Diese im Zinsabschlaggesetz eingeführte Vorschrift verpflichtete die
steuerabzugspflichtigen Stellen ursprünglich nur zu Mitteilungen über die Anzahl der
Freistellungsaufträge und die Höhe des Betrages, bis zu dem aufgrund dieses
Freistellungsauftrags vom Steuerabzug Abstand genommen werden sollte. Die
Finanzverwaltung konnte damit überprüfen, ob der Sparerfreibetrag mehrmalig in
Anspruch genommen wurde, wenn die Summe der erteilten Freistellungsaufträge über
den zustehenden Sparerfreibetrag hinausging. Ab dem Veranlagungszeitraum 1999 hat
die steuerabzugspflichtige Stelle auch die tatsächlich freigestellten Beträge mitzuteilen.
Damit kann die Finanzverwaltung bei Vorliegen eines Freistellungsauftrags die in der
Steuererklärung angegeben Zinseinnahmen verproben. Diese Kontrollmöglichkeit
erfasst jedoch nur die Höhe der Zinsbeträge, soweit ein Freistellungsauftrag erteilt
wurde, nicht die darüber hinaus ausgezahlten Zinsen (ausführlich Esskandari, DStR
2001, 1596 [1596 ff.]). Sie lässt sich außerdem leicht dadurch umgehen, dass überhaupt
kein Freistellungsauftrag erteilt wird (Wernsmann/Stalbold, StuB 2000, 252 [254]). Eine
wirksame Möglichkeit zur Überprüfung der dem Steuerpflichtigen zugeflossenen Zinsen
stellt § 45d EStG deshalb nicht dar (vgl. auch Ehrhardt-Rauch/Rauch, DStR 2002, 57
[58]).
72
Das Bundesverfassungsgericht führt weiter aus, die Finanzverwaltung habe
insbesondere im Rahmen von Steuerfahndungsmaßnahmen nicht unerhebliche
Anstrengungen unternommen, die Besteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen
sicherzustellen (Urteil vom 9. März 2004 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 [134]). Dagegen
wird jedoch zu Recht eingewandt, der Einsatz der Steuerfahndung zur Aufdeckung
hinterzogener Zinseinkünfte sei kein hinreichender Ersatz für Prüfungsmöglichkeiten im
Vorfeld (Fumi in Kellersmann, Nationale und internationale Dimensionen des
Steuerrechts, S. 96; Papier/Dengler, BB 1996, 2593 [2596]; Seer in Tipke/Lang,
Steuerrecht, 17. Auflage 2002, § 21 Rz. 200; Tipke, BB 1998, 241 [245]). Das Strafrecht
ist zur Aufklärung und Ahndung individueller Straftaten konzipiert, damit der jeweilige
Straftäter der dem Schuldvorwurf entsprechenden Strafe zugeführt werden kann. Schon
dieser notwendige Individualbezug des Strafrechts führt dazu, dass das Steuerstrafrecht
ungeeignet ist, strukturelle Vollzugsdefizite auf der Ebene des exekutivischen
Normenvollzugs auszugleichen und die gebotene Belastungsgleichheit herzustellen
(Papier/Dengler, BB 1996, 2593 [2596]; Seer in Tipke/Söhn, Gedächtnisschrift für
Christoph Trzaskalik, S. 466). Als eine besondere Maßnahme der Verifikation kommt die
Steuerfahndung – entsprechend den erhöhten Mitwirkungspflichten des
Steuerpflichtigen gemäß § 90 Abs. 2 AO 1977 – allenfalls bei Auslandssachverhalten in
Betracht (so BVerfG vom 9. März 2004 – 2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 [134]). Ein
geeignetes und angemessenes Mittel zur Kontrolle von Inlandssachverhalten stellt sie
jedoch nicht da.
73
ccc) Die Prüfungsmöglichkeiten der Finanzverwaltung im Vorfeld werden durch die
Vorschrift des § 30a AO 1977 erheblich beeinträchtigt. Nach § 30a Abs. 1 AO 1977
haben die Finanzbehörden bei der Ermittlung des Sachverhalts auf das
Vertrauensverhältnis zwischen den Kreditinstituten und deren Kunden besonders
Rücksicht zu nehmen. Abs. 3 bestimmt, dass die Guthabenkonten oder Depots, bei
deren Errichtung eine Legitimationsprüfung nach § 154 Abs. 2 AO 1977 vorgenommen
worden ist, anlässlich der Außenprüfung bei einem Kreditinstitut nicht zwecks
Nachprüfung der ordnungsmäßigen Versteuerung festgestellt oder abgeschrieben
werden dürfen. Die Ausschreibung von Kontrollmitteilungen soll insoweit unterbleiben.
Obwohl das BVerfG für die jeweils bestehenden strukturellen Vollzugsdefizite im
Bereich der Zinsbesteuerung (BVerfG vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84,
239) und der Besteuerung von Spekulationsgewinnen (BVerfG vom 9. März 2004 – 2
BvL 17/02, BVerfGE 110, 94) die Verantwortung ausdrücklich dieser Regelung
zugesprochen hat, ist eine Abschaffung durch den Gesetzgeber – trotz zahlreicher
Versuche (vgl. z.B. BT-Drs. 15/119, S. 14) – bis heute unterblieben.
74
Der 8. Senat des Bundesfinanzhofs hat in seiner Entscheidung vom 18. Februar 1997
(VIII R 33/95, BFHE 183, 45) den Versuch unternommen, den Anwendungsbereich der
Norm durch eine einschränkende Auslegung zu begrenzen (s. o.). Ein hinreichend
konkreten Anlass für Kontrollmitteilungen ist danach gegeben, wenn der Außenprüfer im
Rahmen einer Prognoseentscheidung zu dem Ergebnis kommt, dass eine
Kontrollmitteilung zur Aufdeckung steuererheblicher Tatsachen führen kann.
"Hinreichender Anlass" im Anwendungsfeld des § 30a Abs. 3 AO 1977 meine dasselbe
wie der "hinreichende Anlass" für ein Auskunftsersuchen i.S.v. § 93 Abs. 1 AO 1977.
Trotz erheblicher Kritik gerade auch vonseiten des 7. Senates (vom 28. Oktober 1997 VII
B 40/97, BFH/NV 1998, 424 [430 f.]) hat der 8. Senat an dieser Auslegung des § 30a AO
1977 festgehalten (BFH vom 15. Dezember 1998 – VIII R 6/98, BFHE 187, 302; vom 22.
Februar 1999 VIII B 29/98, BFH/NV 1999, 931).
75
ddd) Der vorlegende Senat schließt sich der restriktiven Auslegung des § 30a AO 1977
durch den 8. Senat des Bundesfinanzhofs nicht an. Die Auslegung einer Norm findet
ihre Grenzen, wo sie zu dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch
treten würde (BVerf vom 11. Juni 1958 – 1 BvL 149/52, BVerfGE 8, 28 [34]; vom 15.
Oktober 1996 – 1 BvL 44, 48/92, BVerfGE 95, 64 [93]; ferner Lang in Tipke/Lang, 18.
Auflage 2005, § 5 Rz. 74). Der Gesetzgeber hat § 30a Abs. 3 AO 1977 als bewusste und
zielgerichtete Einschränkung des § 194 Abs. 3 AO 1977 für Prüfungen im
Bankenbereich vorgesehen (vgl. auch BT-Drs. 15/119, S. 51). Folglich müssen auch die
Befugnisse der Prüfer gegenüber § 194 Abs. 3 AO 1977 eingeschränkt sein. Solange §
30a AO 1977 Bestand hat, muss wenigstens ein Kernbestand des Bankgeheimnisses
gewahrt bleiben (BFH vom 28. Oktober 1997 – VII B 40/97, BFH/NV 1998, 424 [431];
vom 16. Juli 2002 – IX R 62/99, BFHE 199, 451 [468 f.] sowie Intermann in
Pahlke/König, Abgabenordnung, § 30a AO 1977 Rz. 3; Wernsmann/Stalbold, StuB
2000, 302; Fumi in Kellersmann, Nationale und internationale Dimensionen des
Steuerrechts, S. 79 ff.; Laule in Kleineidam, Unternehmenspolitik und Internationale
Besteuerung, S. 353; Birk, Steuerrecht, 7. Auflage 2004, Rz. 433). Das
Bundesverfassungsgericht hat dem § 30a Abs. 3 AO 1977 diese Wertung ebenfalls
entnommen, wenn es in seinem Urteil vom 27. Juni 1991 (2 BvR 1493/89, BVerfGE 84,
239 [278]) davon ausgeht, dass vor allem das Verbot der Kontrollmitteilungen durch die
Nr. 3 des Bankenerlasses (die dem § 30a Abs. 3 AO 1977 wörtlich entspricht) der
Finanzverwaltung eines der wirksamsten Mittel zur Sachverhaltsaufklärung genommen
habe (Tipke, FR 1998, 117 [117]; Wernsmann/Stalbold, StuB 2000, 302 [306], Eckhoff,
76
Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, S. 358; ders., DStR 1997, 1071 [1073];
Laule in Kleineidam, Unternehmenspolitik und Internationale Besteuerung, S. 353;
Harenberg, FR 1997, 493). In seiner Entscheidung vom 9. März 2004 (2 BvL 17/02,
BVerfGE 110, 94 [125 f.]) hat das BVerfG ausgeführt, dass der Streit um Inhalt und
Ausmaß der Vorschrift in der Praxis zu erheblichen Rechtsunsicherheiten geführt habe
(so auch Weinreuter/Braun, DStZ 2001, 185 [192]; Rüth, DStZ 2000, 30) und schließlich
auch das Vollzugsdefizit bei der Besteuerung der Spekulationsgewinne mit § 30a AO
1977 begründet.
Schließlich wurde und wird § 30a AO 1977 in der Praxis beachtet (Tipke, BB 1998, 241
[246]; Harenberg, FR 1998, 493 [494]; Eckhoff, Rechtsanwendung im Steuerrecht, S.
362). Dies zeigt sich beispielhaft an dem Erlass des nordrhein-westfälischen
Finanzministeriums vom 6. Juli 1996 (S 1505 – 14 – VC, NJW 1997, 2374), betreffend
die Intensivierung der Ausfertigung von Kontrollmitteilungen bei Betriebsprüfungen von
Kreditinstituten, dessen grundlegende Aussagen durch ein BMF-Schreiben vom 12.
Juni 1997 (IV A 4 – S 0130a – 14/91, zitiert nach Weyand, INF 1997, 554 FN 9) bestätigt
wurden. Nach dieser Anweisung sollen Kontrollmitteilungen aus nicht nach § 154 Abs. 2
AO 1977 legitimierten und deshalb nicht von § 30a Abs. 3 AO 1977 geschützten
Bankkonten (beispielsweise CpD-Konten und betriebsinterne Konto) angefertigt werden
und dadurch Informationen über die von § 30a Abs. 3 AO 1977 geschützten
Guthabenkonten und Depots erlangt werden.
77
Diese Vorgehensweise wird zu Recht kritisiert, denn sie sprengt den Rahmen der
Bankenprüfung, ist somit keine Prüfung der Bank mehr, sondern Prüfung des Kunden
(vgl. Streck/Peschges, DStR 1997, 1993 [1996]). Andererseits zeigt das Vorgehen, dass
§ 30a AO 1977 für die Finanzverwaltung eine tatsächliche Hürde bei der Kontrolle der
gesetzmäßigen Kapitalbesteuerung darstellt. Durch die Aufrechterhaltung dieser Norm
vereitelt der Gesetzgeber die effektive und umfassende Kontrolle der dort geschützten
Konten. Dieses Ergebnis wird auch durch die Stellungnahmen der
Landesfinanzverwaltungen anlässlich der Ermittlungen des BVerfG zur
Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen (vom 9. März 2004 –
2 BvL 17/02, BVerfGE 110, 94 [107]) gestützt, nach der sich die Feststellung von
Besteuerungsgrundlagen Dritter anlässlich der zeitintensiven Bankenprüfungen als
"schwierig" gestalte. Der Bericht der Arbeitsgruppe "Steuerausfälle"" (StB 1994, 446
[448]) führt dazu aus: "Im Zusammenhang mit der vollständigen Besteuerung der Zinsen
sind den Finanzbehörden effiziente Ermittlungen durch das Bankgeheimnis in § 30a AO
1977 weitgehend verwehrt".
78
Hinzu kommen nicht zuletzt Praktikabilitätserwägungen. Das Steuerrecht schließt als
ein Massenfallrecht in der Praxis eine eingehende Prüfung der Grenzen des
Bankgeheimnisses im jeweiligen Einzelfall faktisch aus. Wenn der Bearbeiter sich in
jedem zweifelhaften Fall Gedanken zu den Grenzen des Bankgeheimnisses machen
würde, wäre er zu einer sachgemäßen Prüfung der von ihm zu erledigenden Fälle nicht
in der Lage. § 30a AO 1977 baut unnötigerweise eine Prüfungshürde auf, die in der
Praxis im Regelfall dadurch umgangen wird, dass eine vertiefte Prüfung der Angaben
des Steuerpflichtigen unterbleibt.
79
eee) Dass die Einschränkung der Kontrollmöglichkeiten durch die Regelung des
80
§ 30a AO 1977 nicht gerechtfertigt werden kann oder gar geboten ist, hat das
Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil 27. Juni 1991 (2 BvR 1493/89,
81
BVerfGE 84, 239 [278 ff.]) festgestellt und ausgeführt, dass insbesondere die Verfolgung
gesamtwirtschaftlicher Belange nicht dadurch erreicht werden darf, dass das materielle
Steuergesetz als "lex imperfecta" angelegt und seine Umsetzung vereitelt wird (zu
weiteren Rechtfertigungsversuchen vgl. Rüth, DStZ 2000, 30
[37 ff.]). Auch für das Prüfungsrecht des § 50b EStG, dass als weitere
Kontrollmöglichkeit zur Überprüfung der korrekten Zinsbesteuerung angeführt wird
(Weber-Grellet, DB 2004, 1574 [1577]), ist umstritten, inwieweit es durch die Regelung
des § 30a AO 1977 begrenzt wird (dafür Apitz in HHR, § 50b EStG Anm. 5; Laule in
Kleineidam, Unternehmenspolitik und Internationale Besteuerung, S. 354;
Streck/Peschges, DStR 1997, 1993 [1994]; dagegen Metzner in Beermann, Steuerliches
Verfahrensrecht, § 30a AO 1977 Rz. 71). Auch insoweit sorgt die Vorschrift des § 30a
AO 1977 also für Rechtsunsicherheiten und vereitelt eine effektive Verifikation der
Angaben des Steuerpflichtigen.
82
fff) Belegbare Zahlen über das Ausmaß des tatsächlichen Vollzugsdefizits liegen dem
Senat nicht vor (Schätzungen über Steuerausfälle in erheblicher Höhe finden sich aber
bei Schumacher, FR 1997, 1 (3 f.); Laule in Kleineidam, Unternehmenspolitik und
Internationale Besteuerung, S. 336; Risto/Julius, DB Beilage Nr. 4/2002, S. 4 ff. sowie im
Abschlussbericht der Arbeitsgruppe "Steuerausfälle", StB 1994, 446 [447 f.]). Aus dem
im Gesetz angelegten normativen Erhebungsdefizit kann aber die Vermutung eines
tatsächlichen Erhebungsdefizits abgeleitet werden (BVerfG vom 9. März 2004 – 2 BvL
17/02, BVerfGE 110, 94 [113]).
83
ggg) Die ab dem 1. April 2005 geltende Erweiterung der Kontrollmaßnahmen in der
Abgabenordnung führt zu keiner Änderung der Bewertung für die Streitjahre. Zwar wird
auch von Kritikern des § 30a AO 1977 vorgebracht, nunmehr seien die
verfassungsrechtlichen Vollzugsdefizite im Bereich der Zinsbesteuerung weitgehend
beseitigt, weil der äußerlich unangetastete § 30a AO 1977 faktisch abgeschafft worden
sei (so z.B. Lang in Tipke/Lang, Steuerrecht, 18. Auflage 2005, § 9 Rz. 502). Der
Gesetzgeber trägt aber auch weiterhin wegen der nicht nachvollziehbaren Beibehaltung
der Norm die Verantwortung für Friktionen in diesem Bereich (so auch Hey, DB 2004,
724 [728]), zumal es in der Gesetzesbegründung ausdrücklich heißt, der nach § 30a AO
1977 gebotene Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen den Kreditinstituten und
deren Kunden bleibt dabei unangetastet (BT-Drs. 15/1309, S. 12).
84
hhh) Das strukturelle Erhebungshindernis im Bereich der Zinsbesteuerung ist dem
Gesetzgeber (jedenfalls hinsichtlich der inländischen Sachverhalte) auch zuzurechnen.
Es beruht weiterhin insbesondere auf dem vom Gesetzgeber trotz aller Kritik
beibehaltenen § 30a AO 1977, der sich nicht der Erkenntnis verschließen durfte, dass
das Verfassungsziel der Gleichheit im Belastungserfolg mit dieser Norm nicht zu
erreichen ist (vgl. BverfG-Urteil vom 27. Juni 1991 – 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239
[272], das die Vorgängerregelung des § 30a AO 1977 ausdrücklich als Grund des
strukturellen Vollzugshindernisses nennt). Im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe
"Steuerausfälle" wird ausgeführt, dass - auch nach Einführung des
Zinsabschlagsteuergesetzes - § 30a AO 1977 effiziente Ermittlungen der
Finanzbehörden im Bereich der Zinsbesteuerung weitgehend vereitelt (StB 1994, 446
[448]). Auch in der Literatur wurde zahlreich auf weiterhin bestehende Vollzugsdefizite
hingewiesen, ausgelöst durch die fortbestehende Regelung des § 30a AO 1977 (vgl. nur
Schumacher, FR 1997, 1Risto/Julius, DB Beilage 4/2002). Der Gesetzgeber selbst hat
zahlreiche Ansätze unternommen, die Kapitalbesteuerung neu zu regeln, weil er um
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deren Mangelhaftigkeit wusste (z.B. Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung einer
Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung vom 14. März 2000, BT-Drs. 14/2903, S.
18; Entwurf eines Steuervergünstigungsabbaugesetzes, BT-Drs. 15/119, S. 51 und 53),
stets jedoch § 30a AO 1977 unberührt gelassen. Das weiter bestehende Hindernis des
gesetzmäßigen Steuervollzugs im Bereich der Zinsbesteuerung durch § 30a AO 1977
war dem Gesetzgeber somit stets bewusst (so auch BVerfG vom 9. März 2004 – 2 BvL
17/02, BVerfGE 110, 94 [136 f.] für den Bereich der Spekulationsgewinnbesteuerung).
Damit hängt die vollständige Besteuerung der Zinserträge weiterhin nahezu allein von
den freiwilligen Angaben des Steuerpflichtigen in seiner Einkommensteuererklärung ab,
soweit sie nicht durch den Zinsabschlag abgedeckt ist.
b. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage
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Die Gültigkeit der Norm des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG ist entscheidungserheblich. Im
Rahmen der anhängigen Klage ist darüber zu entscheiden, ob die von den Klägern
erklärten Einkünfte nach § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG der Besteuerung zu unterwerfen sind.
Diese Norm fände bei Feststellung ihrer Unvereinbarkeit mit der Verfassung keine
Anwendung, weil eine verfassungskonforme Auslegung insoweit nicht möglich ist.
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