Urteil des FG Köln vom 28.01.2010

FG Köln (richtlinie, ewg, eugh, gesellschaft, muttergesellschaft, rechtsform, frankreich, bundesrepublik deutschland, verfassungskonforme auslegung, anlage)

Finanzgericht Köln, 2 K 4220/03
Datum:
28.01.2010
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 4220/03
Rechtskraft:
I R 25/10
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin für Gewinnausschüttungen ihrer im
Inland ansässigen Tochtergesellschaft die vollständige Freistellung von der
Kapitalertragsteuer beanspruchen kann.
2
Die Klägerin ist eine in Frankreich ansässige Kapitalgesellschaft, die im Jahr 1999 in
der Rechtsform einer "société par actions simplifiée" (S.A.S.) gegründet wurde. Sie ist
alleinige Anteilseignerin der M GmbH mit Sitz in T (im Folgenden: M-GmbH).
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Am 13. Juni 2002 stellte die Klägerin beim Bundesamt für Finanzen – BfF – (seit dem 1.
Januar 2006 Bundeszentralamt für Steuern - BZSt -) einen Antrag auf Freistellung von
der deutschen Abzugsteuer auf Kapitalerträge nach §§ 43b Abs. 1
Einkommensteuergesetz – EStG – i.V.m. § 50d Abs. 3 EStG.
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Am 27. Juni 2002 erließ das BfF eine Freistellungsbescheinigung für den Zeitraum vom
13. Juni 2002 bis zum 31. Mai 2005. Darin bescheinigte das BfF, dass die M-GmbH als
Schuldnerin der Kapitalerträge berechtigt sei, den Steuerabzug für die Kapitalerträge
der Klägerin im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG nach dem
Doppelbesteuerungsabkommen - DBA - Frankreich in Höhe von 5 v.H. des Bruttoertrags
vorzunehmen.
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Gegen die Freistellungsbescheinigung legte die Klägerin Einspruch ein. Sie berief sich
u.a. auf ein Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 14. Juni 2000 an das
bayerische Staatsministerium der Finanzen. Darin werde ausgeführt, dass es aus
sachlichen Gründen gerechtfertigt sei, die Rechtsform der "SAS" einer AG im Sinne der
Richtlinie des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter-
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und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (90/435/EWG, Amtsblatt der
Europäischen Gemeinschaften – Abl. EG – Nr. L 225, 6, im Folgenden: Richtlinie
90/435/EWG) gleichzustellen. Die Freistellung sei daher für den Gesamtbetrag der
Kapitalerträge zu gewähren.
Am 12. August 2002 meldete die M-GmbH Kapitalertragssteuer für
Dividendenzahlungen an die Klägerin an. Auf Antrag der M-GmbH gewährte das
zuständige Finanzamt T jedoch die Aussetzung der Vollziehung nach § 361 Abs. 2
Abgabenordnung - AO -. Der streitige Betrag i.H.v. 5 % der Kapitalerträge wurde von der
M-GmbH einbehalten. Eine Auszahlung dieses Betrages an die Klägerin erfolgte nicht.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 10. Juli 2003 wies das BfF den Einspruch als
unbegründet zurück. Das BfF vertrat dabei die Auffassung, dass eine Erstattung der
deutschen Kapitalertragsteuer nicht möglich sei, da die Klägerin keine
Muttergesellschaft i.S.d. § 44d Abs. 2 EStG in der für das Streitjahr geltenden Fassung -
EStG 2002 - i.V.m. Art. 2 der Richtlinie 90/435/EWG sei. Die Rechtsform der "société par
actions simplifiée" sei in der Liste der unter Art. 2 Buchst. a) der Richtlinie 90/435/EWG
fallenden Gesellschaften nicht genannt. Die Aufzählung der Rechtsformen sei
abschließend.
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Mit der hiergegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
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Im Laufe des Klageverfahrens hat der erkennende Senat in einem Parallelverfahren
dem EuGH gemäß Art. 234 Abs. 2 EG zur Auslegung und Vereinbarkeit der Richtlinie
90/435/EWG mit den europarechtlichen Grundfreiheiten folgende Fragen vorgelegt (vgl.
FG Köln 2. Senat, Beschluss vom 23. Mai 2008, 2 K 3527/02, EFG 2008, 1391):
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1. Ist Art. 2 Buchst. a) i.V.m. dem Anhang Buchst. f) der Richtlinie des Rates vom 23.
Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und
Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (90/435/EWG, Amtsblatt der
Europäischen Gemeinschaften Nr. L 225, 6) dahingehend auszulegen, dass auch
eine französische Gesellschaft in der Rechtsform einer "société par actions
simplifiée" bereits in den Jahren vor 2005 als "Gesellschaft eines Mitgliedstaats"
im Sinne dieser Richtlinie angesehen werden kann und ihr somit für einen von
ihrer deutschen Tochtergesellschaft im Jahr 1999 ausgeschütteten Gewinn nach
Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG die Befreiung vom Steuerabzug an der
Quelle zu gewähren ist?
2. Für den Fall, dass die Frage 1. zu verneinen ist:
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Verstößt Art. 2 Buchst. a) i.V.m. dem Anhang Buchst. f) der Richtlinie des Rates
vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und
Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (90/435/EWG, Amtsblatt
der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 225, 6) insoweit gegen Art. 43 EG und
Art. 48 EG oder Art. 56 Abs. 1 und Art. 58 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 EG als er
in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG zwar für eine
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französische Muttergesellschaft in der Rechtsform einer société anonyme,
société en commandite par actions oder société à responsabilité limitée, nicht
aber für eine französische Muttergesellschaft in der Rechtsform einer société par
actions simplifiée bei Gewinnausschüttungen einer deutschen
Tochtergesellschaft eine Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle vorschreibt?
Mit Urteil vom 1. Oktober 2009 (C-247/08, IStR 2009, 774) hat der EuGH die Fragen des
erkennenden Senats wie folgt beantwortet:
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1. Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über
das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften
verschiedener Mitgliedstaaten ist in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs
dahin auszulegen, dass eine französische Gesellschaft in der Rechtsform einer
"société par actions simplifiée" nicht als "Gesellschaft eines Mitgliedstaats" im
Sinne der Richtlinie angesehen werden kann, bevor diese durch die Richtlinie
2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 geändert wurde.
15
2. Die Prüfung der zweiten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art.
2 Buchst. a der Richtlinie 90/435 in Verbindung mit Buchst. f ihres Anhangs und
mit Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie beeinträchtigen könnte.
16
Auf der Grundlage dieses Urteils des EuGH vom 1. Oktober 2009 trägt die Klägerin im
Wesentlichen folgende Gesichtspunkte vor:
17
Zwar sei nach der Entscheidung des EuGH Art. 2 der Richtlinie 90/435/EWG
dahingehend auszulegen, dass eine französische SAS nicht als "Gesellschaft eines
Mitgliedstaates" i.S. dieser Richtline angesehen werden könne. Der EuGH habe jedoch
zugleich eindeutig hinzugefügt, dass die Richtlinie 90/435/EWG es einem Mitgliedstaat
nicht gestatte, an Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten, die nicht unter den
Anwendungsbereich der Richtlinie fielen, ausgeschüttete Gewinne ungünstiger zu
behandeln als die an vergleichbare inländische Gesellschaften ausgeschütteten
Gewinne.
18
Der EuGH weise außerdem darauf hin, dass es für nicht von der Richtlinie 90/435/EWG
erfasste Beteiligungen den Mitgliedstaaten obliege, festzulegen, ob und in welchem
Umfang die wirtschaftliche Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne
vermieden werden solle und dazu Mechanismen zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung einzuführen.
19
Im Ergebnis stelle der EuGH damit klar, dass die Richtlinie 90/435/EWG und die
Niederlassungsfreiheit es nicht gestatteten, die an eine französische SAS
ausgeschütteten Gewinne einer anderen steuerlichen Behandlung zu unterziehen, als
diejenigen Gewinne, die an eine GmbH deutschen Rechts ausgekehrt würden.
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Die diskriminierende Behandlung der SAS gegenüber einer inländischen GmbH habe
im VZ 2002 jedoch darin bestanden, dass Ausschüttungen an inländische
Kapitalgesellschaften auf der Ebene der empfangenden Muttergesellschaft nach § 8b
Abs. 1 Körperschaftsteuergesetz - KStG - 2002 vollständig freigestellt worden seien.
Trotz dieser Freistellung der Dividenden ordne § 43 EStG 2002 zwar den Einbehalt
einer 20%igen Kapitalertragsteuer an. Bei Veranlagung der empfangenden
Mutterkapitalgesellschaft als unbeschränkt Steuerpflichtige sei jedoch die volle
21
Kapitalertragsteuer gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 anzurechnen bzw. zu erstatten.
Der Einbehalt einer endgültigen 5 %igen Quellensteuer sei für eine deutsche
Muttergesellschaft damit nicht vorgesehen. Demgegenüber erhalte die in Frankreich
ansässige Muttergesellschaft in der Rechtsform einer SAS keine vollständige
Rückerstattung. Im Endeffekt sei sie auch nach Anwendung der Vorschriften des DBA-
Frankreich mit der 5 %igen Ausschüttung endgültig belastet. Eine solche
Diskriminierung verstoße gegen den Grundsatz der Niederlassungsfreiheit und sei
daher unzulässig.
Das Urteil des BFH vom 22. April 2009 (I R 53/07, BFHE 224, 556, BFH/NV 2009, 1543)
wende die seit 2006 vom EuGH aufgestellten Grundsätze über die
Niederlassungsfreiheit falsch an und werde deshalb in der Literatur zu Recht heftig
kritisiert (vgl. Schön, IStR 2009, 555; Rehm/Nagel, GmbHR 2009, 844). Insbesondere
verwechsle der BFH leider schlicht die Rechtsprechungslinien des EuGH zur
Körperschaftsteuer der ausschüttenden Tochtergesellschaft und zur Kapitalertragsteuer
des Anteilseigners. Zu dem im vorliegenden Fall streitigen Thema der
Kapitalertragsteuer habe der EuGH in der Entscheidung "Test Claimants in Class IV"
vom 12. Dezember 2006 (C-374/04) und später in den drei Entscheidungen vom 14.
Dezember 2006 (C- 170/05, "Denkavit International"), vom 8. November 2007 (C-
379/05, "Amurta") und vom 18. Juni 2009 (C-303/07, "Aberdeen") entschieden, dass der
Sitzstaat der ausschüttenden Gesellschaft eine Quellensteuer zu Lasten ausländischer
Kapitalgesellschaften als Dividendenempfänger nicht erheben dürfe, wenn
vergleichbare inländische Dividendenempfänger nicht entsprechend belastet würden.
Auch nach der Entscheidung des BFH vom 22. April 2009 habe sich die EuGH-
Rechtsprechung nicht geändert. In diesem Zusammenhang sei auch auf die
Entscheidung vom 19. November 2009 in der Sache "Kommission gegen Italien" (C-
540/07) zu verweisen.
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Hilfsweise sei darauf hinzuweisen, dass sich die Frage, ob die ausländische SAS durch
den Einbehalt der 5-%igen Kapitalertragsteuer diskriminiert werde, entgegen der vom
BFH in seiner Entscheidung vom 22. April 2009 vertretenen Auffassung nicht ohne eine
weitere Vorlage an den EuGH entscheiden lasse.
23
Am 8. Januar 2010 hat der Beklagte eine geänderte Freistellungsbescheinigung
gegenüber der Klägerin erlassen. Darin bescheinigt der Beklagte, dass die M-GmbH als
Schuldnerin der Kapitalerträge berechtigt sei, den Steuerabzug für die Kapitalerträge
der Klägerin im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG in Höhe von 0 v.H. des Bruttoertrags
vorzunehmen. Die Kapitalertragsteuer und der Solidaritätszuschlag seien nicht zu
erheben. Die Bescheinigung gelte nur für Kapitalerträge, die in der Zeit vom 16.
Dezember 2004 bis 23. Mai 2005 zuflössen.
24
Die Klägerin beantragt zuletzt,
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1. unter Abänderung der Freistellungsbescheinigung vom 27. Juni 2002 in Gestalt
der Freistellungsbescheinigungen vom 4. Januar 2010 und vom 8. Januar 2010
den Beklagten zu verpflichten, auch für den Zeitraum vom 13. Juni 2002 bis 15.
Dezember 2004 die Freistellung für den Gesamtbetrag der Kapitalerträge ohne
Steuerabzug zu gewähren und
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2. hilfsweise im Unterliegensfalle die Revision zuzulassen.
27
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
29
Der Beklagte trägt zur Begründung im Wesentlichen folgende Gesichtspunkte vor:
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Auf der Grundlage der Richtlinie des Rates vom 22. Dezember 2003 zur Änderung der
Richtlinie 90/435/EWG über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und
Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (2003/123/EG, Amtsblatt der
Europäischen Union – ABl. EU – 2004 Nr. L 7, 41, im Folgenden: Richtlinie
2003/123/EG) sei die Rechtsform der "SAS" als "Gesellschaft eines Mitgliedstaats" im
Sinne dieser Richtline anzusehen. Die Richtlinie sei durch das Gesetz zur Umsetzung
von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und zur Änderung weiterer Vorschriften
(Richtlinienumsetzungsgesetz, BGBl. I, S. 3310, - EURLUmsG -) vom 9. Dezember 2004
mit Wirkung ab dem 16. Dezember 2004 in das nationale Recht transformiert worden.
Daher sei für den Zeitraum vom 16. Dezember 2004 bis zum 31. Mai 2005 eine
geänderte Freistellungsbescheinigung zu erlassen.
31
Für den Zeitraum vom 13. Juni 2002 bis zum 15. Dezember 2004 komme eine volle
Freistellung nach der alten Richtlinie 90/435/EWG demgegenüber weiterhin nicht in
Betracht. Nach den bilateralen Vereinbarungen im DBA-Frankreich sei nur die vom
Beklagten bereits ausgesprochene beschränkte Freistellung zu gewähren.
32
Die bilateralen Vereinbarungen im DBA-Frankreich würden aber weder die
Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) noch die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EGV)
verletzen. Insoweit sei auf das zu einer dem Streitfall ähnlichen
Sachverhaltskonstellation ergangene BFH-Urteil vom 22. April 2009 (I R 53/07, a.a.O.)
zu verweisen.
33
Entscheidungsgründe
34
Die Klage ist unbegründet.
35
I. Die Freistellungsbescheinigung vom 8. Januar 2010 ist rechtmäßig und verletzt die
Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -).
36
1. Der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, der Klägerin nach § 50d Abs. 2 Satz 1 EStG
i.V.m. § 43b EStG 2002 auch für den Zeitraum vom 13. Juni 2002 bis 15. Dezember
2004 die Freistellung für den Gesamtbetrag der Kapitalerträge ohne Steuerabzug zu
gewähren.
37
a) Können Einkünfte, die dem Steuerabzug vom Kapitalertrag unterliegen, u.a. nach
§ 43b EStG 2002 nicht besteuert werden, so kann der Gläubiger der Kapitalerträge
gemäß § 50d Abs. 2 Satz 1 EStG die Freistellung vom Steuerabzug beanspruchen.
38
b) Gemäß § 43b Abs. 1 EStG 2002 wird auf Antrag die Kapitalertragsteuer für
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Kapitalerträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1, die einer Muttergesellschaft, die weder
ihren Sitz noch ihre Geschäftsleitung im Inland hat, aus Ausschüttungen einer
unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 des
Körperschaftsteuergesetzes oder aus der Vergütung zufließen, nicht erhoben.
Muttergesellschaft im Sinne des Absatz 1 ist nach § 43b Abs. 2 Satz 1 EStG 2002 eine
Gesellschaft, die die in der Anlage 2 zu diesem Gesetz bezeichneten Voraussetzungen
des Artikel 2 der Richtlinie Nr. 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 (ABl. EG Nr. L
225, 6) erfüllt und die im Zeitpunkt der Entstehung der Kapitalertragsteuer gemäß § 44
Abs. 1 Satz 2 EStG 2002 nachweislich mindestens zu einem Viertel unmittelbar am
Nennkapital der unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft beteiligt ist. Weitere
Voraussetzung ist nach § 43b Abs. 2 Satz 2 EStG 2002, dass die Beteiligung
nachweislich ununterbrochen zwölf Monate besteht. Wird dieser Beteiligungszeitraum
nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Kapitalertragsteuer gemäß § 44 Abs. 1 Satz 2
EStG 2002 vollendet, so ist nach § 43b Abs. 2 Satz 3 EStG 2002 die einbehaltene und
abgeführte Kapitalertragsteuer nach § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG zu erstatten; das
Freistellungsverfahren nach § 50d Abs. 2 EStG ist ausgeschlossen.
c) In Anlage 2 zum Einkommensteuergesetz 2002 ist Folgendes ausgeführt:
40
"Gesellschaften im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie Nr. 90/435/EWG des Rates
vom 23. Juli 1990 (ABl. EG Nr. L 225, 6) über das gemeinsame Steuersystem der
Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ergänzt durch die
Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik
Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassung der die Europäische
Union begründenden Verträge vom 24. Juni 1994 (BGBl. II S. 2031).
41
Gesellschaft im Sinne des Artikels 2 der genannten Richtlinie ist jede Gesellschaft,
die
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1. eine der aufgeführten Formen aufweist:
43
44
...
45
- Gesellschaften französischen Rechts mit der Bezeichnung:
46
société anonyme, société en commandite par actions, société à responsabilité
limitée sowie die staatlichen Industrie- und Handelsbetriebe und –unterneh-men;
47
48
2. nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats in Bezug auf den steuerlichen
Wohnsitz als in diesem Staat ansässig und auf Grund eines mit einem dritten Staat
geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens in Bezug auf den steuerlichen
49
Wohnsitz nicht als außerhalb der Gemeinschaft ansässig betrachtet wird und
50
3. ohne Wahlmöglichkeit einer der nachstehenden Steuern
51
52
...
53
- impôt sur les sociétés in Frankreich
54
55
- oder irgendeiner Steuer, die eine dieser Steuern ersetzt, unterliegt, ohne davon
befreit zu sein."
56
d) Im Streitfall liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 43b Abs. 2 Satz 1
EStG 2002 nicht alle vor. Denn die Klägerin war in dem streitigen Zeitraum 13. Juni
2002 bis 15. Dezember 2004 keine Gesellschaft, die die in der Anlage 2 Nr. 1 zu diesem
Gesetz bezeichneten Voraussetzungen des Art. 2 der Richtlinie 90/435/EWG erfüllte.
57
aa) Der erkennende Senat ist dabei der Ansicht, dass die Regelung in § 43b Abs. 2 Satz
1 EStG 2002 i.V.m. der Anlage 2 Nr. 1 zu § 43b EStG 2002 in Übereinstimmung mit Art.
2 der Richtlinie 90/435/EWG auszulegen ist. Dafür spricht nach Überzeugung des
Senats schon der eindeutige Wortlaut der nationalen Regelung, die ausdrücklich auf die
Voraussetzungen des Art. 2 der Richtlinie 90/435/EWG verweist. Außerdem ist zu
berücksichtigen, dass der nationale Gesetzgeber durch die Regelung des § 43b EStG
2002 die Richtlinie 90/435/EWG, mit der zur Schaffung binnenmarkähnlicher Strukturen
in der EU die Unterschiede bei der Besteuerung von Gewinnausschüttungen einer
Tochter- an ihre Muttergesellschaft beseitigt werden sollen (vgl. v. Beckerrath, in
Kirchhof, EStG, 8. Auflage, § 43b, Rn. 1), in nationales Recht umsetzen wollte. Nach
dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers sollten damit durch die Regelung in §
43b Abs. 2 Satz 1 EStG 2002 i.V.m. der Anlage 2 Nr. 1 zu § 43b EStG 2002 nur die unter
die Richtlinie 90/435/EWG fallenden Gesellschaftsformen begünstigt werden.
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bb) Mit dem oben zitierten Urteil vom 1. Oktober 2009 (C-247/08, a.a.O.) hat der EuGH
jedoch entschieden, dass Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 90/435/EWG in Verbindung mit
Buchst. f ihres Anhangs dahin auszulegen ist, dass eine französische Gesellschaft in
der Rechtsform einer "société par actions simplifiée" nicht als "Gesellschaft eines
Mitgliedstaats" im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann, bevor diese durch die
Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 geändert wurde. Da die von
der Richtlinie 90/435/EWG erfassten Gesellschaftsformen des französischen Rechts in
Buchst. f ihres Anhangs abschließend aufgezählt werden, kann die Anwendung dieser
Richtlinie nach der Auffassung des EuGH auch nicht im Wege der Analogie auf andere
Arten von Gesellschaften des französischen Rechts wie z.B. die "société par actions
simplifiée" ausgedehnt werden, mögen sie auch vergleichbar sein (vgl. Rdnr. 43 des
59
Urteils).
cc) Entgegen der Rechtsansicht der Klägerin kann im Streitfall § 43b Abs. 2 Satz 1 EStG
2002 i.V.m. der Anlage 2 Nr. 1 zu § 43b EStG 2002 auch nicht aufgrund einer rein
nationalen Regelungslücke analog dahingehend ausgelegt bzw. ergänzt werden, dass
abweichend von der Richtlinie 90/435/EWG auch die Rechtsform einer "société par
actions simplifiée" als "Gesellschaft eines Mitgliedstaats" i.S. dieser nationalen
Regelung angesehen werden könnte. Zwar kann auch bei einem eindeutigen
Gesetzeswortlaut eine Gesetzeslücke entstehen, die durch eine Analogie geschlossen
werden kann (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 2. Juli 1997 I R 32/95, BFHE 183, 496, BStBl II
1998, 176, m.w.N.). Voraussetzung für eine Analogie ist in diesem Fall jedoch, dass das
Gesetz, gemessen an dem zugrunde liegenden Plan des Gesetzgebers, lückenhaft
geblieben ist (vgl. BFH-Urteil vom 2. Juli 1997 I R 32/95, a.a.O., m.w.N.). Wie oben
ausgeführt wurde, wollte der nationale Gesetzgeber durch die Regelung in § 43b Abs. 2
Satz 1 EStG 2002 i.V.m. der Anlage 2 Nr. 1 zu § 43b EStG 2002 aber gerade nur die
unter die Richtlinie 90/435/EWG fallenden Gesellschaftsformen begünstigen. Eine
planwidrige Regelungslücke im nationalen Recht liegt daher nicht vor.
60
dd) Aus dem gleichen Grund sieht der erkennende Senat auch keine Möglichkeit, die
Vorschrift des § 43b Abs. 2 Satz 1 EStG 2002 i.V.m. der Anlage 2 Nr. 1 zu § 43b EStG
2002 im Wege einer verfassungskonformen Auslegung zu Gunsten der Klägerin
anzuwenden. Der Klägerin ist zwar zuzugestehen, dass ihre Benachteiligung
gegenüber den vergleichbaren Gesellschaftsformen einer "société anonyme" oder einer
"société à responsabilité limitée" unter Berücksichtigung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz - GG -
verfassungsrechtlich bedenklich sein könnte. Jede verfassungskonforme Auslegung
findet ihre Grenze aber dort, wo sie mit dem Wortlaut der Vorschrift und dem klar
erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (vgl. z.B. Beschluss
des BVerfG vom 19. Januar 1999 1 BvR 2161/94, BVerfGE 99, 341, 358). Daher darf ein
Gericht einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigem Gesetz nicht durch Berufung auf
verfassungsrechtliche Grundsätzen einen entgegengesetzten Inhalt geben (vgl. BFH-
Urteil vom 24. Oktober 2000 VI R 65/99, BFHE 193, 361, BStBl II 2001, 109).
61
e) Im Ergebnis scheidet damit die begehrte vollständige Freistellung vom
Kapitalertragsteuerabzug durch das beklagte BZSt auf der Grundlage des § 50d Abs. 2
Satz 1 EStG 2002 aus, da die Klägerin keine Muttergesellschaft im Sinne des § 43b
Abs. 2 Satz 1 EStG 2002 ist.
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2. Eine weitere Anspruchsgrundlage für eine vollständige Freistellung vom Kapitaler-
tragsteuerabzug steht der Klägerin zumindest gegenüber dem beklagten BZSt nicht zu.
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a) Die Klägerin weist zwar zu Recht darauf hin, dass nach der inzwischen gefestigten
Rechtsprechung des EuGH die Richtlinie 90/435/ EWG es einem Mitgliedstaat nicht
gestattet, an Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten, die nicht unter den
Anwendungsbereich der Richtlinie fallen, ausgeschüttete Gewinne ungünstiger zu
behandeln als die an vergleichbare inländische Gesellschaften ausgeschütteten
Gewinne (vgl. EuGH-Urteil vom 1. Oktober 2009 C-247/08, a.a.O., Rz. 59). Für nicht von
der Richtlinie 90/435/EWG erfasste Beteiligungen obliegt es danach den
Mitgliedstaaten, festzulegen, ob und in welchem Umfang die wirtschaftliche
Doppelbesteuerung der ausgeschütteten Gewinne vermieden werden soll, und dazu
einseitig oder durch Abkommen mit anderen Mitgliedstaaten Mechanismen zur
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Vermeidung oder Abschwächung dieser wirtschaftlichen Doppelbesteuerung
einzuführen, doch erlaubt dieser bloße Umstand es ihnen nicht, Maßnahmen
anzuwenden, die gegen die vom Vertrag garantierten Verkehrsfreiheiten verstoßen (vgl.
EuGH-Urteil vom 12. Dezember 2006 C-374/04, "Test Claimants in Class IV of the ACT
Group Litigation”, Slg. 2006, I-11673, Rz. 54; vom 8. November 2007 C-379/05,
"Amurta”, Slg. 2007, I-9569, Rz. 24; vom 18. Juni 2009 C-303/07, "Aberdeen Property
Fininvest Alpha", Slg. 2009, I-0000, Rz. 28 und vom 1. Oktober 2009 C-247/08, a.a.O.,
Rz. 60). Will ein Mitgliedstaat die gebietsansässigen Muttergesellschaften vor einer
mehrfachen Belastung der von einer gebietsansässigen Tochtergesellschaft
ausgeschütteten Gewinne bewahren, so muss er zur Vermeidung eines Verstoßes
gegen die in den Art. 43 und 56 EG garantierten Verkehrsfreiheiten entweder die für
gebietsansässige Muttergesellschaften geltenden Regelungen auf die gebietsfremden
Muttergesellschaften ausdehnen oder aber durch den Abschluss von entsprechenden
Doppelbesteuerungsabkommen sicherstellen, dass die von ihm auf die
Gewinnausschüttungen erhobenen Quellensteuern in den Ansässigkeitsstaaten der
gebietsfremden Muttergesellschaften tatsächlich angerechnet werden (EuGH-Urteil vom
14. Dezember 2006 C-170/05, "Denkavit International und Denkavit France", Slg. 2006,
I-11949, Rz. 37, 45 ff., und vom 18. Juni 2009 C-303/07, "Aberdeen Property Fininvest
Alpha", Slg. 2009, I-0000, Rz. 44).
b) Auf der Basis dieser Rechtsprechung des EuGH kann die Klägerin jedoch keinen
Anspruch auf Freistellung vom Kapitalertragsteuerabzug gegenüber dem BZSt geltend
machen. Als gebietsfremde Muttergesellschaft hat sie gegenüber der Bundesrepublik
Deutschland vielmehr "allenfalls" einen Anspruch darauf, dass die dort für
gebietsansässige Muttergesellschaften geltenden Regelungen auf sie ausgedehnt
werden, wenn bzw. soweit die deutsche Quellensteuer nicht auf der Grundlage des
DBA-Frankreich auf die in Frankreich bestehende Steuerschuld der Klägerin
angerechnet werden kann (vgl. Benecke, IStR 2009, 777). Die Klägerin könnte unter
diesen Voraussetzungen damit aber "nur" beanspruchen, dass die durch § 32 Abs. 1 Nr.
2 KStG 2002 für sie als beschränkt Steuerpflichtige angeordnete Abgeltungswirkung der
Körperschaftsteuer, die im Wege des Steuerabzugs von den Kapitaleinkünften
einzubehalten ist, nicht eintritt. Die Klägerin könnte dann für ihre nach § 8b Abs. 1 Satz 1
KStG 2002 steuerfreien Dividenden nach § 50d Abs. 1 EStG 2002 in analoger
Anwendung einen Freistellungsbescheid beantragen. Zuständig für die Entscheidung
über dieses Freistellungsbegehren wäre aber das örtlich zuständige Finanzamt und
nicht das BZSt (vgl. BFH-Urteil vom 22. April 2009 I R 53/07, a.a.O., m.w.N.; Gosch,
BFH/PR 2009, 333, 335; Benecke, IStR 2009, 777). Denn das BZSt ist nach § 5 Abs. 1
Nr. 2 Finanzverwaltungsgesetz - FVG - 2002 nur für die Entlastung von deutschen
Abzugsteuern (Erstattung und Freistellungen) in den - im Streitfall nach den obigen
Ausführungen nicht gegebenen - Fällen des § 43b EStG sowie auf Grund von
Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zuständig.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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III. Die Revision zum Bundesfinanzhof war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen der
grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
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