Urteil des FG Köln vom 09.05.2007
FG Köln: abkommen über soziale sicherheit, besitz, ausländer, aufenthaltserlaubnis, rückforderung, jstg, eltern, brd, duldung, ausschluss
Finanzgericht Köln, 10 K 4251/05
Datum:
09.05.2007
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 K 4251/05
Tenor:
Der Bescheid über die Aufhebung und Rückforderung des Kindergelds
vom 30. Mai 2005 und die Einspruchsentscheidung vom 26. September
2005 werden insoweit aufgehoben, als die Kindergeldfestsetzung auch
für den Monat November 2004 aufgehoben und das ausgezahlte
Kindergeld zurückgefordert wird.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung
vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der
Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Der Kläger ist gelernter Maurer und stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Er ist
Vater von fünf Kindern, ohne allerdings mit der Mutter der Kinder verheiratet zu sein
(Kindergeld-Akte, Bl. 33 ff., 52). Er lebt mit seiner Familie bereits seit mehreren Jahren
im Inland. In der Zeit von 1996 bis Oktober 2001 bezog der Kläger Sozialhilfe. Seit
Oktober 2001 ging er einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Er ist weder in
Besitz einer Aufenthaltserlaubnis noch einer Aufenthaltsberechtigung; im Juli 2001
wurde ihm allerdings eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung
(Duldung) erteilt, die mehrfach verlängert wurde. Am 26. Oktober 2002 wurde ihm eine
unbefristete Arbeitsgenehmigung erteilt. Später wurde ihm eine Aufenthaltsbefugnis (§
30 AuslG a. F.) erteilt (Kindergeld-Akte, Bl. 60 ff.).
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Der Kläger, an den das Kindergeld für die fünf Kinder laufend ausgezahlt wurde, bezog
bis Oktober 2004 Arbeitslosengeld. Auch für die Monate November und Dezember 2004
hat er jeweils 820 EUR Kindergeld erhalten. Im Rahmen einer persönlichen Vorsprache
bei der Beklagten im Dezember 2004 erklärte er, dass er seit dem 26. Oktober 2004
lediglich Arbeitslosenhilfe beziehe und nach wie vor im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis
sei. Seit Dezember 2004 steht die Kindesmutter in einem versicherungspflichtigen
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Arbeitsverhältnis. Ab Dezember 2004 wurde deshalb das Kindergeld gegenüber der
Kindesmutter festgesetzt, so dass das Kindergeld für den Monat Dezember 2004
doppelt ausgezahlt worden ist (Kindergeld-Akte, Bl. 77, 94).
Mit Bescheid vom 30. Mai 2005 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für den
Kläger für die Monate ab November 2004 auf und fordert das Kindergeld für die Monate
November und Dezember 2004 zurück. Ein Anspruch auf Kindergeld für Ausländer mit
Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland bestehe nach § 62 Abs. 2 Satz 1
EStG nur, wenn diese im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder eine
Aufenthaltserlaubnis seien. Deshalb sei dem Kläger das Kindergeld lediglich aufgrund
überstaatlicher Rechtsvorschriften bewilligt worden. Ab dem Monat November 2004
habe der Kläger jedoch auch die Voraussetzungen für das Abkommenskindergeld nach
Art. 28 Abs. 1 des deutsch-jugoslawischen Abkommen über soziale Sicherheit nicht
mehr erfüllt, da er seit dem 26. Oktober 2004 keine Lohnersatzleistungen
(Arbeitslosengeld) mehr beziehe.
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Mit der nach erfolglosem Einspruchsverfahren (Einspruchsentscheidung vom 26.
September 2005) erhobenen Klage, die zunächst gegen den Aufhebungs- und
Rückforderungsbescheid für die Monate November und Dezember 2004 insgesamt
gerichtet war, wehrt sich der Kläger jetzt noch gegen die Rückforderung des
Kindergelds für den Monat November 2004. Gegen die Rückforderung des Kindergelds
für den Monat Dezember 2004 erhebt der Kläger keine Einwendungen mehr, da der
Kindesmutter ab diesem Monat das Kindergeld aufgrund eines eigenen Anspruchs
gewährt worden ist. Betreffend die Aufhebung und Rückforderung des Kindergelds für
November 2004 führt der Kläger aus: Die Beklagte habe bei der Gewährung des
Kindergelds die persönliche Lage des Klägers gekannt. Der Kläger habe - vertrauend
auf das an ihn gezahlte Kindergeld - keinen weiteren Antrag auf ergänzende Hilfe zum
Lebensunterhalt gestellt. Deshalb sei die Rückforderung des Kindergelds für den Monat
November selbst dann, wenn es dem Kläger tatsächlich nicht zugestanden haben sollte,
zumindest treuwidrig.
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Der Kläger beantragt, den Bescheid über die Aufhebung und Rückforderung des
Kindergelds vom 30. Mai 2005 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 26.
September 2005 dahin zu ändern, dass die Kindergeldfestsetzung lediglich für den
Monat Dezember 2004 aufgehoben und das Kindergeld nur in Höhe von 820 EUR
zurückgefordert wird.
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Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte ist der Ansicht, ein Kindergeldanspruch bestehe für Ausländer, die weder
in Besitz einer Aufenthaltsberechtigung noch einer Aufenthaltserlaubnis seien, nach der
die Regelung des § 62 Abs. 2 EStG ergänzenden sozialgerichtlichen Rechtsprechung
nur für die Zeiten, in denen der Kläger Arbeitnehmer i.S. Art. 28 Abs. 1 des deutsch-
jugoslawischen Abkommens über soziale Sicherheit gewesen sei. Dies sei nur der Fall,
wenn sie in Deutschland eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausübten bzw.
Krankengeld oder Arbeitslosengeld bezögen. Zu den Leistungsbezügen i.S. Art. 28 Abs.
1 Satz 2 dieses Abkommens gehöre ausdrücklich nur das Arbeitslosengeld, nicht aber
andere Leistungen an Arbeitslose wie beispielsweise die Arbeitslosenhilfe. Dies sei der
Beklagten entgegen den Ausführungen des Bevollmächtigten auch nicht bekannt
gewesen, weil sie erst im Rahmen der persönlichen Vorsprache des Klägers im
Dezember 2004 über die Tatsachenlage in Kenntnis gesetzt worden sei. Die
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Rückforderung sei auch nicht treuwidrig, weil allein der Zeitablauf von fünf Monaten
nicht genüge, um einen Vertrauenstatbestand zu schaffen. Dem sich danach
ergebenden öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch könne der Empfänger auch nicht
den Wegfall der Bereicherung entgegenhalten.
Mit Schreiben vom 29. März 2005 hat die Ausländerbehörde ergänzend bestätigt, dass
der Kläger und seine Ehefrau inzwischen im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß §
36 AufenthG seien.
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist begründet. Die Kindergeldberechtigung des Klägers für den Monat
November 2004 ergibt sich aus § 62 Abs. 2 EStG i. d. F. des JStG 1996, der vor dem
Hintergrund des BVerfG-Beschlusses vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL
6/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114) entgegen seinem Wortlaut
einschränkend dahin auszulegen ist, dass der Ausschluss von Ausländern von der
Kindergeldberechtigung nicht für solche ausländischen Eltern gilt, die auf unbestimmte
Zeit nicht abgeschoben werden können und die sich seit mindestens 1 Jahr
ununterbrochen in Deutschland aufhalten.
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1. Entgegen den Ausführungen des BFH in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil
vom 15. März 2007 III R 93/03 (auf der Homepage des BFH erschienen am 9. Mai 2007)
lehnt der erkennende Senat die Anwendung der Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG vom
13. Dezember 2006 auf den Streitfall ab, weil er deren Erstreckung auf Altfälle durch die
Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG für verfassungsrechtlich
unzulässig hält.
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a) Gemäß § 62 Abs. 2 EStG, der durch Art. 2 des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung
von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13.
Dezember 2006 (AuslAnsprG - BGBl I 2006, 2915, BStBl I 2007, 62) an die Systematik
der Aufenthaltstitel nach dem Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die
Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (AufenthG - BGBl I 2004,
1950) angepasst worden ist, hängt die Kindergeldberechtigung von nicht
freizügigkeitsberechtigten Ausländern, denen lediglich eine Aufenthaltserlaubnis nach §
23 Abs. 1 AufenthG wegen eines Krieges im Heimatland oder nach den §§ 23a, 24, 25
Abs. 3 bis 5 AufenthG erteilt worden ist (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG) davon ab,
dass sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im
Bundesgebiet aufhalten und darüber hinaus im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig
sind, laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch beziehen oder
Elternzeit in Anspruch nehmen (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG).
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b) Die Regelung ist mit Wirkung vom 1. Januar 2006 in Kraft getreten, erfasst aber
darüber hinaus alle Sachverhalte, bei denen das Kindergeld - wie auch im Streitfall -
noch nicht bestandskräftig festgesetzt worden ist (§ 52 Abs. 61a Satz 2 EStG). Wegen
der Anknüpfung der Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG an die Aufenthaltstitel nach dem
AufenthG einerseits und wegen der rückwirkenden Erstreckung des
Anwendungsbereichs der Vorschrift auf vor dem 1. Januar 2005 verwirklichte
Sachverhalte (Altfälle) andererseits, in denen sich die Aufenthaltstitel noch nach dem
AuslG richteten, müsste nach dieser Regelung für Altfälle jeweils geklärt werden,
inwieweit die Aufenthaltsrechte nach dem AuslG 1990 den in § 62 Abs. 2 EStG
genannten Aufenthaltstiteln entsprechen (BFH-Urteil vom 15. März 2007 III R 93/03, zur
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Veröffentlichung bestimmt, Homepage des BFH vom 9. Mai 2007 für einen geduldeten
Aufenthalt in der BRD seit 1992 betreffend Kindergeld für die Monate von Juli 1997 bis
Juli 1999). Ein Aufenthalt aufgrund einer Duldung berechtigte danach nicht zum Bezug
von Kindergeld; bei einer bloßen Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen hinge
die Kindergeldberechtigung in aller Regel davon ab, ob sich der Ausländer seit
mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet
aufgehalten hat und darüber hinaus im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig war bzw.
laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch bezogen oder
Elternzeit in Anspruch genommen hat.
c) Danach müsste die Kindergeldberechtigung im Streitfall versagt und die Klage
abgewiesen werden. Denn die dem Kläger erteilte Aufenthaltsbefugnis entspräche
allenfalls einem der nicht privilegierten Titel des § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c EStG und
einen der Ausnahmetatbestände des § 62 Abs. 2 Nr. 3 EStG hat er - wenn er auch
bereits seit Jahren gestattet in der BRD lebte - im November 2004 unstreitig nicht erfüllt.
Der erkennende Senat wendet die Neufassung des § 62 Abs. 2 EStG vom 13.
Dezember 2006 jedoch nicht auf den Streitfall an.
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aa) Das BVerfG hat mit Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97
(BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage 2, 114) entschieden, dass § 1 Abs. 3 Satz 1
BKGG in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs-
und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl. I 1993, 2353),
durch den Ausländer von Kindergeld ausgeschlossen wurden, die lediglich im Besitz
einer Aufenthaltsbefugnis waren, mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Insbesondere vor
dem Hintergrund, dass Ausländer ihren ausländerrechtlichen Status nicht beeinflussen
könnten, befand das BVerfG, dass eine an der Art des Aufenthaltstitels ausgerichtete
Differenzierung zwischen ausländischen Eltern nicht durch Gründe von hinreichendem
Gewicht gerechtfertigt sei. Denn der Gesetzgeber dürfe bei der Bestimmung der Art und
Weise des Familienleistungsausgleichs nicht allein aus fiskalischen Erwägungen eine
Gruppe von Personen, gegenüber denen der Staat aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1
GG grundsätzlich zu einem Ausgleich verpflichtet sei, von einer bestimmten Leistung
ausschließen, die anderen gewährt werde. Bei Ausländern, die legal in Deutschland
lebten, sei unabhängig von der Art des Aufenthaltstitels zu berücksichtigen, dass sie -
wie auch Deutsche - in gleicher Weise durch die persönlichen und finanziellen
Aufwendungen bei der Kindererziehung belastet seien. Soweit es Ziel der gesetzlichen
Neuregelung gewesen sei, Kindergeld nur solchen Ausländern zu gewähren, die sich
auf Dauer in Deutschland aufhalten, sei die Regelung ungeeignet, dieses Ziel zu
erreichen, weil einerseits diejenigen, die über eine Aufenthaltsbefugnis verfügten, sich
nicht typischerweise nur kurzfristig in Deutschland aufhielten, andererseits eine
Aufenthaltserlaubnis auch befristet bei kurzfristigem Aufenthalt erteilt werde. Ebenso hat
der EuGHMR mit Urteil vom 25. Oktober 2005 in der Sache 59140/00 (DStR 2006, 1404,
BFH/NV 2006, Beilage 3, 357) entschieden, dass der Ausschluss von im Inland
lebenden Ausländern ohne Aufenthaltsberechtigung vom deutschen Kindergeld gegen
das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.
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bb) Das BVerfG hat dem Gesetzgeber in seinem o. a. Beschluss vom 6. Juli 2004 eine
Frist bis zum 1. Januar 2006 gesetzt, die verfassungswidrige Norm durch eine
Neuregelung zu ersetzen. Andernfalls sollte auf alle noch nicht rechts- oder
bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren das bis zum 31. Dezember 1993 geltende
Recht anzuwenden sein, d.h., das BKGG in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung
des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I 1990, 1354). Nach dieser Regelung
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haben Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in der BRD aufhalten, einen
Kindergeldanspruch, wenn sie nach den §§ 51, 53 und 54 AuslG auf unbestimmte Zeit
nicht abgeschoben werden können, frühestens jedoch für die Zeit nach einem
gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.
cc) Vor diesem Hintergrund teilt der erkennende Senat nicht die Auffassung des III.
Senats des BFH, der sowohl die Neuregelung des § 62 Abs. 2 EStG als auch die
Anwendungsvorschrift des § 52 Abs. 61a Satz 2 EStG über die rückwirkende
Erstreckung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf vor dem 1. Januar 2005
verwirklichte Sachverhalte (Altfälle) für verfassungsrechtlich unbedenklich hält (BFH-
Urteil vom 15. März 2007 III R 93/03, a.a.O.).
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aaa) Die Anordnung einer derartigen Rückwirkung auch auf Altfälle ist weder
verfassungsgemäß noch entspricht sie dem Grundsatz der gegenseitigen Achtung von
Verfassungsorganen. Das BVerfG hatte dem Gesetzgeber in seinem Beschluss vom 6.
Juli 2004 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97 (BVerfGE 111, 160, BFH/NV 2005, Beilage
2, 114) einen klaren, bis zum 1. Januar 2006 befristeten Regelungsauftrag erteilt und die
Nichterfüllung dieses Auftrags mit der Anordnung der Anwendbarkeit des bis zum 31.
Dezember 1993 gültigen Rechts sanktioniert. Daraus ergibt sich, dass sämtliche offenen
Altfälle ab Januar 2006 entscheidungsreif waren, da der Gesetzgeber den
verfassungsgerichtlichen Regelungsauftrag ignoriert hat. In einer Vielzahl der offenen
Fälle hätte deshalb das Kindergeld auf der Grundlage des bis 1993 gültigen Rechts
gewährt werden müssen, wenn die Gerichte dem verfassungsrechtlichen
Beschleunigungsgebot entsprochen hätten. Der erkennende Senat hat - wie viele
andere Finanzgerichte und der BFH - von einer Entscheidung der Fälle nur deshalb
abgesehen, weil die beklagte Behörde immer wieder um ein Zuwarten mit der
Entscheidung im Hinblick auf die zu erwartende Neuregelung gebeten hatte. Wenn der
Gesetzgeber es in einer solchen Situation in der Hand hätte, durch eine rückwirkende
Anwendungsregelung eines verspätet erlassenen Gesetzes den klaren
Sanktionsausspruch des Verfassungsgerichts zu umgehen, hätte dies zur Konsequenz,
dass Kindergeld in allen Fällen hätte gewährt werden müssen, in denen die Gerichte
sogleich unter Beachtung des Beschleunigungsgebotes entschieden hätten, während
es in allen anderen Fällen, in denen die Gerichte im Vertrauen auf die zu erwartende
Neuregelung gewartet hätten, nicht zu gewähren wäre. Eine derart unterschiedliche
Behandlung gleicher Tatbestände hält der erkennende Senat für verfassungsrechtlich
nicht hinnehmbar.
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bbb) Darüber hinaus hält der erkennende Senat auch die Neuregelung selbst für nicht
verfassungsgemäß. Insoweit wird Bezug genommen auf die zur Veröffentlichung
bestimmten Vorlagebeschlüsse betreffend das Kindergeld für die Monate ab Januar
2005 in den Sachen 10 K 1689/07 und 10 K 1690/07 vom heutigen Tage.
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ccc) Die rückwirkende Anwendung der Neuregelung ist auch nicht aufgrund der
Verwerfungskompetenz des BVerfG gemäß Art. 100 GG geboten. Ein unterinstanzliches
Gericht kann einer für verfassungswidrig gehaltenen Norm in eigener Zuständigkeit die
Anwendung versagen, wenn das BVerfG bereits eine Entscheidung zu einer
vergleichbaren Rechtsvorschrift getroffen hat (vgl. BFH-Urteil vom 1. Juni 2004 IX R
35/04, BStBl II 2005, 26; Niedersächsisches FG, Urteil vom 23. Januar 2006 16 K 12/04,
EFG 2006, 751). Dies muss auch gelten, wenn der Gesetzgeber eine
verfassungsgerichtliche Regelungsfrist dadurch umgeht, dass er den
Anwendungsbereich einer Neuregelung auf bereits abgeschlossene Sachverhalte
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vorverlagert.
2. Aus diesem Grund richtet sich die Kindergeldberechtigung des Klägers im Streitfall für
den Monat November 2004 nach § 62 Abs. 2 EStG i. d. F. des JStG 1996. Nach dieser
Vorschrift hing der Anspruch eines Ausländers auf Kindergeld davon ab, dass er im
Besitz einer Aufenthaltsberechtigung (§ 27 AuslG 1990) oder Aufenthaltserlaubnis (§ 15
AuslG 1990) war. Eine Aufenthaltsbewilligung (§§ 28, 29 AuslG 1990), eine
Aufenthaltsbefugnis (§ 30 AuslG 1990) oder eine Duldung (§§ 55, 56 AuslG 1990)
reichten nicht aus. Entgegen ihrem Wortlaut ist die Vorschrift allerdings einschränkend
dahin auszulegen, dass der Ausschluss von Ausländern von der
Kindergeldberechtigung nicht für solche ausländischen Eltern gilt, die auf unbestimmte
Zeit nicht abgeschoben werden können und die sich seit mindestens 1 Jahr
ununterbrochen in Deutschland aufhalten (Anschluss an das Urteil des
Niedersächsischen FG vom 23. Januar 2006 16 K 12/04, EFG 2006, 751).
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a) Die Erwägungen, aus denen das BVerfG § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG i. d. F. des 1.
SKWPG vom 21. Dezember 1993 (BGBl. I 1993, 2353), durch den wegen der
Anknüpfung an den Aufenthaltstitel Ausländer vom Kindergeld ausgeschlossen wurden,
die lediglich im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis waren, für verfassungswidrig erklärt hat
(Beschluss vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97, 1 BvL 5/97, 1 BvL 6/97, BVerfGE 111, 160,
BFH/NV 2005, Beilage 2, 114; s.o. 1. c aa), treffen wegen der Identität der
Tatbestandsmerkmale in gleicher Weise auf § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG i. d. F. des JStG
1996 zu (ebenso die Gesetzesbegründung der Neuregelung vom 13. Dezember 2006,
BT-Drucks. 16/1368, S. 8; ferner BFH-Urteil vom 15. März 2007 III R 93/03, a.a.O.).
Deshalb ist es unerheblich, dass die Regelung aufgrund der Systemänderung durch das
JStG 1996 nunmehr in § 62 EStG eingebettet wurde. § 62 Abs. 2 EStG i. d. F. des JStG
1996 verstößt ebenso gegen Art. 3 Abs. 1 GG wie § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der
Fassung vom 21. Dezember 1993. Aus diesem Grund ist § 62 Abs. 2 EStG i. d. F. des
JStG 1996 entsprechend dem Entscheidungsausspruch des BVerfG entgegen seinem
Wohnort einschränkend dahin auszulegen, dass ausländischen Eltern, die sich ohne
den erforderlichen Aufenthaltstitel in Deutschland aufhalten, Kindergeld zu gewähren
ist, wenn sie nach den §§ 51, 53 und 54 AuslG auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben
werden können, dies allerdings frühestens für die Zeit nach einem gestatteten oder
geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr (so bereits Niedersächsisches
FG, Urteil vom 23. Januar 2006 16 K 12/04, EFG 2006, 751).
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b) Wie bereits das Niedersächsische FG a.a.O. ist auch der erkennende Senat der
Auffassung, keine Entscheidung des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG darüber einholen
zu müssen, ob die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG gegen Art. 3 Abs. 1 GG
verstößt. Denn wenn das BVerfG bereits eine Entscheidung zu einer vergleichbaren
Rechtsvorschrift getroffen hat (im Streitfall zu § 1 Abs. 3 Satz 1 BKGG), kann das
unterinstanzliche Gericht diese Entscheidung in eigener Entscheidungszuständigkeit
auf die andere Rechtsnorm übertragen (vgl. BFH-Urteil vom 1. Juni 2004 IX R 35/04,
BStBl II 2005, 26).
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c) Danach stand dem Kläger im Streitfall das Kindergeld für den Monat November 2004
entgegen der Ansicht der Beklagten zu, weil er sich zumindest seit 1996 bis auf den
heutigen Tag ununterbrochen in der BRD aufhält, unstreitig jedenfalls faktisch auf
unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden konnte und sein Aufenthalt im Jahr 2004
bereits über mehrere Jahre andauerte.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 151 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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4. Die Revision wird sowohl wegen grundsätzlicher Bedeutung als auch wegen
Abweichung von dem BFH-Urteil vom 15. März 2007 III R 93/03 (a.a.O.) zugelassen.
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