Urteil des FG Köln vom 07.06.2006

FG Köln: einkünfte, sozialversicherung, akte, einspruch, berufsausbildung, bekanntgabe, verwaltungsbehörde, steuervergütung, vollstreckbarkeit, aussetzung

Finanzgericht Köln, 10 K 4692/05
Datum:
07.06.2006
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 K 4692/05
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Aufhebungs- bzw.
Ablehnungsbe-scheide vom 31. März 2004 bzw. 29. April 2004 und der
Einspruchsentschei-dung vom 4. November 2005 verpflichtet, das
Kindergeld für das Kind S für die Monate Januar bis Mai 2004 zu
gewähren.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung
vorläu-fig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleis-tung oder Hinterlegung in Höhe des
Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der
Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
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Die 1983 geborene Tochter S der Klägerin befand sich auch im Jahr 2004 in
Ausbildung. Ende März 2003 zeigte die Klägerin der Beklagten an, dass die Einkünfte
und Bezüge von S, die in den Monaten Januar bis März einer bezahlten Nebentätigkeit
nachging, den Jahresgrenzbetrag für 2004 voraussichtlich überschreiten würden. Mit
Bescheid vom 31. März 2004 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für S für die
Monate ab April 2004 auf; mit weiterem Bescheid vom 29. April 2004 (Kindergeld-Akte,
Bl 178) hob die Beklagte auch die Kindergeldfestsetzung für die Monate ab Januar 2004
auf, weil die Einkünfte und Bezüge von S nach der damaligen Ansicht der Beklagten,
nach der die Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung unberücksichtigt blieben, den
Jahresgrenzbetrag für das Jahr 2004 (7.680 EUR) überschritten (Kindergeld-Akte, Bl
191); gleichzeitig wurde das für die Monate Januar bis März 2004 gezahlte Kindergeld
von 462 EUR zurückgefordert. Der dagegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg.
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Mit einem am 12. September 2005 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben,
welches als Einspruch bezeichnend war, beantragte die Klägerin unter Hinweis auf den
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welches als Einspruch bezeichnend war, beantragte die Klägerin unter Hinweis auf den
im Mai 2005 veröffentlichten Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02
sinngemäß erneut Kindergeld für das Jahr 2004, weil der Jahresgrenzbetrag unter
Berücksichtigung der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung nicht überschritten sei.
Denn die Einkünfte und Bezüge betrügen in diesem Falle lediglich 7.204 EUR
(Einnahmen: 9.961 EUR abzüglich 920 EUR Arbeitnehmerpauschbetrag und 1.837
EUR Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung Kindergeld-Akte, Bl 194).
Die Beklagte bewilligte das Kindergeld mit dem vorliegend streitgegenständlichen
Bescheid vom 7. Oktober 2005 jedoch lediglich für die Monate Juni bis Dezember 2004,
weil die Beklagte an die bestandskräftige Erst-Ablehnung gebunden sei und das
Kindergeld erst ab dem auf die Bekanntgabe des ursprünglichen Bescheids folgenden
Monat erneut bewilligen dürfe. Für die Monate Januar bis einschließlich Mai 2004 lehnte
die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab (Kindergeld-Akte, Bl 202).
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Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Zur Begründung führte die Beklagte in der
Einspruchsentscheidung vom 4. November 2005 aus: Der bestandskräftige
Ablehnungsbescheid entfalte Bindungswirkung bis zum Ende des Monats seiner
Bekanntgabe. Auch eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 bzw. § 70 Abs. 4
EStG scheide aus, weil es sich bei der geänderten Rechtsprechung zur
Berücksichtigung von Sozialversicherungsabgaben nicht um einen nachträglich
bekannt gewordenen Sachverhalt handle.
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Die Klägerin bezieht sich zunächst auf ihre Begründung im Einspruchsverfahren und
trägt ergänzend vor, der Ablehnungsbescheid vom 29. April 2004 habe zwar nicht in der
Formulierung aber zumindest der Sache nach unter dem Vorbehalt der Nachprüfung
gestanden, weil in diesen Bescheid der Hinweis aufgenommen worden sei: "Falls nach
Ablauf des Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den
Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf
Festsetzung des Kindergeld stellen" (GA Bl. 21). Im Übrigen würden auch die
Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 vorliegen, weil
die Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung der Beklagten im Zeitpunkt der Erstablehnung
noch nicht bekannt und zur damaligen Zeit auch nicht relevant gewesen seien.
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Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Aufhebungs- bzw.
Ablehnungsbescheide vom 31. März 2004 bzw. 29. April 2004 und der
Einspruchsentscheidung vom 4. November 2005 zu verpflichten, das Kindergeld für S
für die Monate Januar bis Mai 2004 zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt, das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des BFH in
der Sache III R 13/06 anzuordnen, hilfsweise die Klage abzuweisen.
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Eine Korrektur der bestandskräftigen Ablehnung nach § 70 Abs. 4 EStG allein wegen
der nach Rechtsprechungsänderung des BVerfG zu erfassenden Pflichtbeiträge zur
Sozialversicherung sei ausgeschlossen, weil die Änderung der Rechtsprechung nicht
zu einem nachträglichen Bekanntwerden i.S. des § 70 Abs. 4 EStG führe.
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist begründet.
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1. Eine Verfahrensaussetzung bis zum Abschluss des beim BFH anhängigen
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Verfahrens III R 13/06 kommt nicht in Betracht.
a) Nach § 74 FGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz
oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses
abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von
einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur
Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der
Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
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b) Auch im Falle Vorgreiflichkeit der "anderen" Entscheidung bleibt die Entscheidung
über die Aussetzung des Verfahrens eine Ermessensentscheidung. Bei der Ausübung
seines Ermessens hat das FG prozessökonomische Gesichtspunkte einerseits und die
Interessen der Beteiligten andererseits gegeneinander abzuwägen (BFH-Beschlüsse
vom 28. Februar 2001 I R 41/99, DB 2001,1074, vom 18. September 2002 XI B 126/01,
BFH/NV 2003, 189, vom 4. April 2003 V B 199/02, BFH/NV 2003, 1081; BFH-Urteil vom
7. Juli 1998 VIII R 84/96 BFH/NV, 1999, 318).
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c) So ist das FG nicht verpflichtet, das Verfahren nach § 74 FGO auszusetzen, wenn ein
Musterverfahren nicht beim BVerfG, sondern beim BFH anhängig ist (BFH-Beschluss
vom 18. September 2002 XI B 126/01, BFH/NV 2003, 189). Dies gilt insbesondere dann,
wenn das FG keine Zweifel am Ausgang des Verfahrens beim BFH hat, etwa weil
ähnliche Rechtsfragen bereits entschieden worden sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2.
September 2005 XI B 224/04, BFH/NV 2006, 556 vom 18. September 2002 XI B 126/01,
BFH/NV 2003, 189). Im Streitfall ergibt sich die Beantwortung der Rechtsfrage, in
wieweit eine bestandskräftige Erstablehnung von Kindergeld im Zuge einer
Prognoseentscheidung der Kindergeld-Festsetzung aufgrund eines erneuten Antrags
nach Abschluss des Jahres entgegensteht, nach Auffassung des erkennenden Senats
bereits aus der bestehenden Rechtsprechung des VI. und des VIII. Senat des BFH (vgl.
unten 3.)
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2. Der Klägerin stand das für die Monate Januar bis Mai 2004 beantragte Kindergeld zu,
weil der maßgebliche Jahresgrenzbetrag nicht überschritten war.
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a) Nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2, 67 EStG i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG
wird ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, unter
anderem beim Kindergeldberechtigten auf Antrag berücksichtigt, wenn es für einen
Beruf ausgebildet wird (Buchst. a) und wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur
Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von
nicht mehr als 7.680 EUR im Kalenderjahr hat (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG).
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b) Im Streitfall lagen diese Voraussetzungen während des gesamten Jahres 2004
unstreitig vor. Das Kind befand sich während des gesamten Jahres in Berufsausbildung.
Die Einkünfte und Bezüge des Kindes überschritten den maßgeblichen
Jahresgrenzbetrag unter der nach dem BVerfG-Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR
167/02 (DStR 2005, 911, BFH/NV 2005 , 260) gebotenen Berücksichtigung
der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung nicht.
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3. Die Beklagte war auch durch die Bestandskraft der Bescheide vom 31. März 2004
bzw. 29. April 2004 nicht gehindert, das Kindergeld für die noch streitbefangenen Januar
bis Mai 2004 Monate zu gewähren.
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a) Nach § 70 Abs. 4 EStG ist eine Kindergeldfestsetzung aufzuheben oder zu ändern,
wenn nachträglich bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den
Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 EStG über- oder unterschreiten.
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b) Mit der Einführung des § 70 Abs. 4 EStG durch Art. 1 Nr. 21 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 des
Zweiten Gesetzes zur Familienförderung vom 16. August 2001 (BGBl I 2001, 2074,
BStBl I 2001, 533) sollte sichergestellt werden, dass die Festsetzung von Kindergeld für
ein volljähriges Kind nach Ablauf des Kalenderjahres korrigiert werden kann, wenn die
Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag entgegen einer früheren
Prognose der Familienkasse überschreiten oder entgegen der Prognose nicht
überschreiten (BT-Drucks 14/6160, S. 14). Die Korrekturmöglichkeit trägt dem Umstand
Rechnung, dass das Kindergeld als Steuervergütung bereits im Laufe des
Kalenderjahres monatlich gezahlt wird, obwohl der Gesetzgeber sich mit der Festlegung
des Grenzbetrags, den die Einkünfte und Bezüge eines Kindes nicht übersteigen dürfen,
für einen Jahres- und nicht für einen Monatsgrenzbetrag entschieden hat, sodass das
Bestehen oder Nichtbestehen des Kindergeldanspruchs materiellrechtlich letztlich erst
nach Ablauf des Jahres feststeht. Demgegenüber ist vor Ablauf des Kalenderjahres nur
eine mehr oder weniger sichere Prognose möglich, nach der die Familienkasse die
Entscheidung über die Gewährung oder Nichtgewährung des Kindergeldes für das noch
laufende Kalenderjahr trifft (BFH-Urteil vom 15. Dezember 2005 III R 82/04, BFH/NV
2006, 1008).
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c) Die gesetzliche Konzeption der monatlichen Vorauszahlung des Kindergelds als
Steuervergütung bereits zu einem Zeitpunkt, in welchem die Höhe der Einkünfte und
Bezüge in aller Regel noch nicht abschließend feststeht, macht es erforderlich,
Kindergeldfestsetzungen wieder aufheben oder ändern zu können, die vor Beginn oder
während eines Kalenderjahres erlassen worden sind, wenn abzusehen ist oder bekannt
wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag entgegen der
Prognose überschreiten bzw. nicht überschreiten (BFH-Urteile vom
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30. November 2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890 m.w.N.; vom 26. Juli 2001 VI R
55/00, BFHE 196, 270 , BStBl II 2002, 86, in denen die Änderungsgrundlage selbst
sogar offen gelassen worden ist). Denn für die Berücksichtigung eines Kindes i.S. des §
32 Abs. 4 Satz 2 EStG kommt es nicht auf die voraussichtliche, sondern auf die
tatsächliche Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes an. Dies gebietet nach
Auffassung des erkennenden Senats eine Auslegung des Tatbestandsmerkmals
"nachträglich bekannt" in § 70 Abs. 4 EStG dahin, dass die tatsächliche Höhe der
Einkünfte und Bezüge - von besonderen Ausnahmefällen abgesehen - gegenüber der
Prognoseentscheidung immer "nachträglich bekannt" wird. Damit eröffnet § 70 Abs. 4
EStG stets eine Berichtigungsmöglichkeit, soweit die abschließende Überprüfung nach
Ablauf des Jahres ein Unter- oder Überschreiten des Grenzbetrages abweichend von
der Prognoseentscheidung ergibt, und zwar auch dann, wenn die Korrektur - wie im
Streitfall - auf einer geänderten Rechtsauffassung beruht, etwa wenn die Familienkasse
bei der Prognoseentscheidung voraussichtliche Werbungskosten berücksichtigt, die sie
bei abschließender Prüfung dann doch nicht als Werbungskosten anerkennt (BFH-
Urteile vom 26. Juli 2001, VI R 55/00, BFHE 196, 270, BStBl II 2002, 86 vom 30.
November 2004 VIII R 6/03, BFH/NV 2005, 890). Entsprechendes muss auch für den
umgekehrten Fall gelten, dass bestimmte Aufwendungen im Rahmen der
Prognoseentscheidung als nicht abzugsfähig behandelt wurden, was sich nachträglich
als rechtlich unzutreffend herausstellt. Insofern tragen derartige
Prognoseentscheidungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht den Charakter der
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Vorläufigkeit in sich (ebenso FG Düsseldorf, Urteil vom 12. Januar 2006 14 K 4078/05
Kg, zur Veröffentlichung bestimmt). Der dem entgegenstehenden Ansicht der
Familienkasse folgt der Senat nicht, weil deren Auslegung des Tatbestandsmerkmals
"nachträglich bekannt" auf einer Verkennung der Sachgesetzlichkeiten des
Kindergeldrechts beruht.
d) Danach war im Streitfall die Gewährung des Kindergelds auch für die Monate Januar
bis Mai 2004 geboten. Denn bei der Überprüfung der auf einer Prognoseentscheidung
beruhenden Aufhebungs- bzw. Ablehnungsbescheide vom 31. März 2004 bzw. 29. April
2004 nach Abschluss des Kalenderjahres 2004 hat sich herausgestellt, dass die
Einkünfte und Bezüge des Kindes unter Berücksichtigung der gesetzlichen
Sozialversicherungsbeiträge den maßgeblichen Grenzbetrag unterschreiten (vgl. dazu
BVerfG-Beschluss vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, DStR 2005, 911, BFH/NV 2005
, 260).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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5. Die Revision war zuzulassen, weil die aufgeworfene Rechtsfrage eine Vielzahl beim
FG anhängiger Verfahren betrifft.
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