Urteil des FG Köln vom 13.06.2007

FG Köln (wiedereinsetzung in den vorigen stand, zustellung, datum, bekanntgabe, kläger, wiedereinsetzung, antrag, stand, öffentliche urkunde, tag)

Finanzgericht Köln, 11 K 3243/06
Datum:
13.06.2007
Gericht:
Finanzgericht Köln
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
11 K 3243/06
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1
Der Beklagte führte die Veranlagung der Kläger zur Einkommensteuer für das Streitjahr
ebenso wie die Veranlagung des Klägers zur Umsatzsteuer und Gewerbesteuer unter
Schätzung der Besteuerungsgrundlagen durch. Sämtliche Bescheide tragen das Datum
14.11.2005 sowie einen Stempelaufdruck "Zugestellt durch Postzustellungsurkunde".
Als Zahlungsfrist ist im Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheid jeweils der
19.12.2005 angegeben. In der Einkommensteuerakte befindet sich auf dem
Eingabebogen ein Stempelaufdruck in dem handschriftlich eingetragen ist, dass die
Bescheidausfertigungen an die Kläger am 14.11.2005 mit PZU abgesandt worden
seien. Tatsächlich wurden die Bescheide den Klägern bereits am 7.11.2005 durch
Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt. In den
Zustellungsurkunden (betreffend Einkommensteuer-, Umsatzsteuer- und
Gewerbesteuermessbetragsbescheid für den Kläger, betreffend den
Einkommensteuerbescheid für die Klägerin) ist angegeben, dass der Tag der Zustellung
auf dem Umschlag des Schriftstücks vermerkt wurde.
2
Hiergegen legten die Kläger, vertreten durch den Steuerbevollmächtigten .........., mit
Schreiben vom 14.12.2005 Einsprüche ein, die ausweislich des Poststempels am
selben Tag beim Beklagten eingingen.
3
Mit Schreiben vom 8.2.2006 wies der Beklagte die Kläger darauf hin, dass die auf den
14.11.2005 datierten Bescheide bereits am 7.11.2005 zugestellt worden seien. Die
Rechtsbehelfsfrist habe daher am 8.11.2005 begonnen und am 7.12.2005 um 24 Uhr
geendet. Die Einsprüche seien jedoch erst am 14.12.2005 und daher verspätet
eingegangen. Der Beklagte wies zugleich darauf hin, dass Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand auf Antrag gewährt werden könne, wenn die Frist ohne Verschulden
versäumt worden sei. Der Antrag sei innerhalb eines Monats nach Wegfall der
Hinderungsgründe zu stellen.
4
Daraufhin beantragte der Steuerbevollmächtigte ........ mit Schreiben vom 13.3.2006
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung machte er geltend, dem
Beklagten sei offensichtlich bei der Übergabe der Bescheide an das mit der Zustellung
beauftragte Unternehmen ein Fehler unterlaufen. Dies könne jedoch nicht zu Lasten der
Steuerpflichtigen gehen, die sich auf das in den Bescheiden angegebene Datum hätten
verlassen können und dementsprechend am 14.12.2005 Einsprüche eingelegt hätten.
Dies entspreche auch den aus den Bescheiden ersichtlichen Fälligkeitsdaten der
jeweiligen Nachzahlungen. Das Schreiben vom 13.3.2006 trägt den Eingangsstempel
14.3.2006.
5
Der Beklagte wies die Kläger mit Schreiben vom 7.4.2006 darauf hin, dass die Frist für
den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand am 13.3.2006 geendet habe, der
Antrag aber erst am 14.3.2006 - und damit verspätet - eingegangen sei.
6
Mit Schreiben vom 3.4.2006, das beim Beklagten am selben Tag einging, machten die
Kläger geltend, die Einsprüche seien rechtzeitig erfolgt. Die Zustellung eines
Bescheides, der ein konkretes Datum enthalte, dürfe vor diesem Zeitpunkt nicht
erfolgen. Geschehe dies dennoch, werde durch die insoweit fehlerhafte Zustellung eine
Rechtsbehelfsfrist entsprechend der im Bescheid erteilten Rechtsbehelfsbelehrung nicht
ausgelöst, es gelte die Jahresfrist. Die Zustellung könne zumindest nicht früher als zu
dem im Bescheid ausdrücklich aufgeführten Zeitpunkt als bewirkt gelten. Werde dem
nicht gefolgt, sei zumindest die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren. Der damalige Bevollmächtigte des Klägers habe auf die Angaben in den
Bescheiden des Beklagten vertrauen dürfen und nicht damit rechnen müssen, dass eine
Zustellung schon vor dem Datum der Bescheide erfolgt sein könnte. Vielmehr lasse die
im Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheid aufgegebene Zahlungsfrist
(19.12.2005) bei Fachkundigen keine Zweifel daran aufkommen, dass die in den
Bescheiden angegebenen Daten mit der Aufgabe zur Post übereinstimmen müssten.
Die fehlerhafte Grundlage für die Fristberechnung habe der Beklagte gesetzt; darauf zu
vertrauen, könne dem Bevollmächtigten nicht als Verschulden angelastet werden. Der
Antrag auf Wiedereinsetzung sei auch rechtzeitig beim Beklagten eingegangen. Der
Steuerbevollmächtigte ........ habe den Antrag am 13.3.2006 gefertigt und nach ständiger
Übung in seiner Praxis noch am gleichen Tag persönlich in den Hausbriefkasten des
Finanzamts eingelegt. Der Antrag hätte danach beim Beklagten den Eingangsstempel
13.3.2006 erhalten müssen; tatsächlich sei fehlerhafterweise der Eingang mit dem
14.3.2006 vermerkt worden. Dies sei dem Steuerbevollmächtigten ......... nicht
anzulasten. Vorsorglich beantragten die Kläger insoweit Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand. Zur Glaubhaftmachung reichten sie eine eidesstattliche Versicherung
des Steuerbevollmächtigen ........ ein, in der dieser erklärte, den Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand am Montag, dem 13.3.2006, gefertigt und am
selben Tag persönlich in den Hausbriefkasten des Beklagten eingeworfen zu haben.
Weiterhin war ein Schreiben des Bevollmächtigten ...... beigefügt, in dem dieser
erläuterte, die Abgabe von Steuererklärungen und Schriftverkehr werde seit Jahren von
ihm beanstandungsfrei durch Einwurf in den Hausbriefkasten des Beklagten praktiziert.
So sei z.B. auch mit den Einspruchsschreiben vom 14.12.2005 verfahren worden, die
am 14.12.2005 beim Beklagte eingegangen seien. Warum dies bei dem Antrag auf
Wiedereinsetzung vom 13.3.2006 anders gewesen sein solle, entziehe sich seiner
Kenntnis.
7
Der Beklagte verwarf die Einsprüche mit Einspruchsentscheidungen vom 10.7.2006 als
8
unzulässig.
Mit der hiergegen gerichteten Klage machen die Kläger geltend, die Bekanntgabe der
angefochtenen Bescheide sei nicht ordnungsgemäß erfolgt. Soweit Rechtsbehelfe
überhaupt erforderlich gewesen seien, seien diese rechtzeitig eingelegt worden.
Bestandskraft der Bescheide sei jedenfalls nicht eingetreten.
9
Der Beklagte spiele das Datum der Bescheide herunter und erkläre es unter Hinweis
darauf, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung den Hinweis auf das "Datum des
Poststempels" ausreichen lasse, letztlich für bedeutungslos. Darauf komme es aber
gerade nicht an, weil die angefochtenen Bescheide sämtlich mit einem konkreten Datum
versehen seien. Das vom zuständigen Sachbearbeiter bewusst gesetzte
Bescheiddatum sei keine bloße Formalie. Der Beklagte verkenne, dass dem
Bescheiddatum über die Fristberechnung für einen Rechtsbehelf hinaus weitergehende
eigenständige Bedeutung zukomme. Durch das Datum des Bescheides werde die vom
Finanzamt getroffene Steuerfestsetzung zeitlich fixiert und der Bescheid in diesem
Sinne gekennzeichnet (z.B. BFH BStBl II 1985, 485, BFH/NV 2001, 1365). Dass der
Mangel der vorzeitigen Zustellung eines Bescheides vor dessen Erlassdatum durch
tatsächliche Bewirkung der Zustellung geheilt werde, ergebe sich aus dieser
Rechtsprechung nicht. Danach sei also im Streitfall davon auszugehen, dass die
angefochtenen Bescheide sämtlich am 14.11.2005 erlassen worden seien, zu einem
früheren Zeitpunkt also noch nicht existent gewesen seien. Denkgesetzlich sei die
Bekanntgabe eines nicht existenten Bescheides ausgeschlossen. Durch die tatsächlich
schon am 7.11.2005 erfolgte förmliche Zustellung dieser nicht existenten Bescheide
habe dieser absolute Mangel der Bekanntgabe nicht geheilt werden können; eine
Heilung sei ebenso wenig durch die angefochtenen Einspruchsentscheidungen des
Beklagten vom 10.7.2006 erfolgt (BFH BStBl II 1994, 603). Der Beklagte müsse also
Bekanntgabe und Zustellung der angefochtenen Bescheide vom 14.11.2005 nachholen.
10
Folge man dieser Darlegung nicht, so frage sich gleichwohl, ob die am 7.11.2005
tatsächlich bewirkte Zustellung der streitbefangenen Bescheide die einmonatige
Rechtsbehelfsfrist nach § 355 AO habe auslösen können. Angesichts der vom
Beklagten zu vertretenden offenbaren Fehler bei der Bekanntgabe und Zustellung der
Bescheide sei die erteilte Rechtsbehelfsbelehrung hinsichtlich des Fristbeginns und
somit der einzuhaltenden Frist fehlgegangen. Es käme also allenfalls die Jahresfrist
nach § 356 Abs. 2 AO in Betracht. Ausgehend von der Zustellung am 7.11.2005 wäre
Fristablauf am 7.11.2006 anzunehmen, so dass die Einsprüche nicht verspätet gewesen
seien.
11
Halte man die Rechtsbehelfsbelehrung dennoch für ausreichend für Fristberechnung
und Fristablauf, müsse die fristauslösende Bekanntgabe bzw. Zustellung der Bescheide
(§ 122 AO) unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Streitfalles bestimmt
werden. Entscheidend müsste dabei die Sicht der Steuerpflichtigen als Adressanten der
fraglichen Bescheide sein. Danach wäre zunächst jeweils der 14.11.2005 als Datum, an
dem die Bescheide hätten erlassen werden sollen, maßgeblich. Bekanntgabe bzw.
Zustellung der Bescheide hätten frühestens zu diesem Zeitpunkt erfolgen können. In
dieser Annahme hätten sich die Kläger durch die in den Bescheiden genannten
Zahlungsfristen (19.12.2005) bestätigt sehen dürfen. Das Bescheiddatum 14.11.2005
als frühester Bekanntgabe- bzw. Zustellungszeitpunkt sei also bewusst gewählt
gewesen. Dies werde im übrigen durch die konkreten handschriftlichen Anweisungen
und Hinweise in den Steuerakten des Beklagten nachdrücklich bestätigt. Bei der aus
12
Sicht der Kläger frühest zulässigen Zustellung am 14.11.2005 hätten Einsprüche gegen
die angefochtenen Steuerbescheide bis zum 14.12.2005 erhoben werden müssen. Dies
sei auch erfolgt. Bestandskraft der angefochtenen Schätzungsbescheide sei daher nicht
eingetreten; der Beklagte sei verpflichtet, die Steuerveranlagungen nach den
inzwischen vorliegenden Steuererklärungen durchzuführen.
Halte man auch diese Auffassung nicht für zutreffend, bleibe die Frage der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu prüfen.
13
Der Antrag vom 13.3.2006 sei dem Beklagten laut Eingangsstempel am 14.3.2006
zugegangen. Damit wäre die am 13.3.2006 ablaufende Antragsfrist von einem Monat
überschritten. Eine Fristversäumnis liege jedoch nicht vor. Der damalige
Bevollmächtigte des Klägers habe den Wiedereinsetzungsantrag vom 13.3.2006 noch
am gleichen Tag in den Hausbriefkasten des Beklagten eingelegt. Nach der beim
Beklagten bestehenden Regelung, die bei der ersten Morgenleerung im
Hausbriefkasten vorgefundene Post mit dem Eingangsdatum des Vortages zu versehen,
hätte der Antrag den Eingangsstempel 13.3.2006 erhalten müssen. Der Beklagte habe
die vom damaligen Bevollmächtigten der Kläger zur Glaubhaftmachung dieses
Sachvortrags abgegebene eidesstattliche Versicherung als nicht geeignet befunden, die
Beweiskraft des Posteingangsstempels als öffentliche Urkunde zu widerlegen. Dies sei
unzutreffend. Die vom Bundesfinanzhof aufgestellten einschlägigen Kriterien (vgl.
BFH/NV 1998, 1242) seien erfüllt: Entscheidend sei, dass der frühere Bevollmächtigte
durch seine konkrete eidesstattliche Versicherung das Einlegen des Antrags in den
einzigen Hausbriefkasten des Beklagten am 13.3.2006 glaubhaft gemacht habe.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit dieser eidesstattlichen Versicherung mache der
Beklagte nicht geltend. Sei die vorliegende eidesstattliche Versicherung aus
formalrechtlichen Gründen nicht hinreichend geeignet, die Richtigkeit des
Eingangsstempels des Beklagten als öffentliche Urkunde zu widerlegen, so sei in dem
jetzigen Verfahren der entsprechende Zeugenbeweis möglich und ggf. geboten. Es
werde deshalb beantragt, nicht ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden und den
Steuerbevollmächtigten ......... sowie seine Tochter Dipl.-Kffr. ......... als Zeugen zu hören.
14
Der damalige Bevollmächtigte könne sich an den Geschehensablauf bei Abfassung des
Wiedereinsetzungsantrages vom 13.3.2006 noch sehr genau erinnern. Durch die vom
Beklagten behauptete Fristversäumnis habe er sich beruflich diskreditiert und im
Verhältnis zu seinen Mandanten in eine äußerst missliche Situation gebracht gesehen.
Der Bedeutung einer eventuellen Fristversäumnis und des damit drohenden Verlust des
Rechtsbehelfs sei er sich sehr wohl bewusst gewesen. Bevor er seine Tochter und
Mitarbeiterin am Freitag, dem 10.3.2006, in das Wochenende verabschiedet habe, habe
er mit ihr u.a. den am Montag, dem 13.3.2006, zu erledigenden Antrag besprochen. Wie
vorgesehen hätten am späten Nachmittag des 13.3.2006 der damalige Bevollmächtigte
und seine Tochter gemeinsam den Wiedereinsetzungsantrag formuliert. Die Tochter
habe den Antrag in den PC übernommen, der Bevollmächtigte habe anschließend den
für den Beklagten bestimmten Ausdruck unterzeichnet. Die Tochter des
Bevollmächtigten habe den Antrag danach postfertig gemacht und ihn auf den
Schreibtisch des Bevollmächtigten gelegt. Die Tochter sei mit den steuerlichen
Angelegenheiten der Kläger vertraut gewesen und habe gewusst, dass die Antragsfrist
am 13.3.2006 ablief. Sie habe daher den Bevollmächtigten zur Posterledigung gedrängt.
Dieser habe mit dem Antrag gegen 20.30 Uhr zu Fuß das Haus verlassen, um diesen
Antrag in den Hausbriefkasten des Beklagten einzuwerfen. Der Bevollmächtigte sei sich
sicher, den Einwurf in den Hausbriefkasten des Beklagten kurz vor 21 Uhr am 13.3.2006
15
vorgenommen zu haben.
Durch die Zeugenvernehmung werde der Beweis für die fristgerechte Einlegung des
ursprünglichen Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beim Beklagten
erbracht werden mit der Folge, dass eine etwaige Fristüberschreitung bei der Einlegung
der Einsprüche als entschuldbar zu behandeln sei. Der damalige Bevollmächtigte habe
sich bei der Berechnung der Frist für die Einlegung der Einsprüche auf die in den
Bescheiden unmittelbar enthaltenen Angaben einschließlich der
Rechtsbehelfsbelehrung gestützt. Er habe daher vom Erlass der Bescheide am
14.11.2005 sowie von der Aufgabe zur Post am gleichen Tage ausgehen und insoweit
darauf vertrauen dürfen, dass auch bei dem Vermerk "Zugestellt durch
Postzustellungsurkunde" die Zustellung des Bescheides frühestens am selben Tage,
also am 14.11.2005, habe erfolgt sein können. Dementsprechend habe er dafür gesorgt,
dass die Einsprüche vom 14.12.2005 noch am selben Tage, nämlich am 14.12.2005,
dem Beklagte zugegangen seien. Dies sei nach seiner Berechnung rechtzeitig
gewesen. Dem damaligen Bevollmächtigten sei jedoch nicht bewusst gewesen, dass
entgegen den Angaben in den Steuerbescheiden deren Zustellung schon vor dem
Erlassdatum, nämlich am 7.11.2005, erfolgt sei. Dieser Irrtum sei entschuldbar. Der
damalige Bevollmächtigte habe nicht damit rechnen können und müssen, dass die
fraglichen Bescheide vorzeitig zugestellt worden sein könnten. Möge man über einen
Tag noch streiten, so sei eine vorzeitige Zustellung von einer Woche als
ausgeschlossen anzunehmen. Angesichts der eindeutigen Daten in den angefochtenen
Bescheiden sei aus Sicht des damaligen Bevollmächtigten eine Feststellung des
konkreten Zustellungsdatum erläßlich gewesen. Es sei widersprüchlich, wenn der
Beklagte im nachhinein die von den zuständigen Mitarbeitern bewusst und gewollt
gesetzten Bescheiddaten für bedeutungslos halte und ausschließlich die nicht
nachvollziehbar vorzeitige Zustellung für verbindlich erkläre, um letztlich die eigenen
Fehler bei Bekanntgabe und Zustellung zu überdecken. Das Zustandekommen dieser
Fehler im Hause des Beklagten bedürfe dringend der Aufklärung, ob es sich um Fehler
im Einzelfall oder um Organisationsmängel handele. Dass Fehler in der Poststelle bei
Massenversand von Steuererklärungen vorkommen könnten und eine
Postausgangskontrolle insoweit zu hohen Aufwand erfordern könnte, möge hinnehmbar
sein. Eine solche Kontrolle sei aber zumutbar und geboten für die Versendung von
fristwahrenden Schriftsätzen, also auch bei der förmlichen Zustellung von
Schätzungsbescheiden. Wäre eine solche Kontrolle hier durchgeführt worden, hätte es
nicht zur vorzeitigen Zustellung der angefochtenen Bescheide kommen können:
Entweder wäre das Bescheiddatum manuell an den tatsächlichen Versandtag
angepasst oder die Aufgabe zur Post bis zum Bescheiddatum aufgeschoben worden. In
jedem Fall hätte Klarheit über die Grundlagen zur Fristberechnung bestanden. Gerade
die Fehler und Versäumnisse des Beklagten seien ursächlich für die objektiv fehlerhafte
Berechnung der Einspruchsfrist durch den damaligen Bevollmächtigten gewesen. Das
Verschulden insoweit liege also eindeutig beim Beklagten, nicht bei den Klägern bzw.
ihrem damaligen Bevollmächtigten, so dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren sei.
16
Die Vorschriften der AO gälten für und gegen Staat und Bürger gleichermaßen. Der
Beklagte erkläre einerseits seine aktenkundige Fehlleistung bei der Zustellung der
fraglichen Bescheide als Formfehler für unerheblich, um sich andererseits wegen
Verfristung der Rechtsbehelfe auf die formelle Bestandskraft dieser Bescheide zu
berufen. Dies sei nicht nachvollziehbar, zumal der Fehler wesentlich durch die
Formfehler des Beklagten verursacht worden sei. Es dürfe nicht sein, dass
17
voraufgehende Fehler des Beklagten durch mögliche Fehler des seinerzeitigen
Bevollmächtigten sozusagen geheilt würden und dadurch materielles Unrecht mit
formeller Bestandskraft festgesetzt werde. Für die Kläger bedeute das eine
ungerechtfertigte steuerliche Mehrbelastung von 121.690 €.
Soweit das Finanzgericht Köln im Beschluss vom 20.11.2006 (11 V 3752/06) feststelle,
für die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes komme es nicht auf das in dem Bescheid
ausgewiesene Datum, sondern ausschließlich auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe an,
könne dem nur bedingt gefolgt werden. Bei aller Fehlsamkeit des damaligen
Bevollmächtigten der Kläger müsse betont werden, dass dieser bei der Fristberechnung
auf die Richtigkeit der Bescheiddatierung vertraut habe: Die Bescheiddatierung in
diesem Zusammenhang für völlig irrelevant zu erklären, gehe einseitig zu Lasten der
Kläger. Die offensichtlichen Fehler des Beklagten würden für unbeachtlich erklärt,
obwohl es völlig ausgeschlossen scheine, dass ein Bescheid bereits sieben Tage vor
dem Bescheiddatum beim Steuerpflichtigen eingehe (so FG Saarbrücken EFG 1993,
196, 198).
18
Ebenso wenig sei die Berufung des Beklagten auf die einschlägigen Bestimmungen
des AEAO zu § 122 überzeugend. Nach AEAO § 122 Nr. 4.4.4 würden
Bekanntgabemängel des ursprünglichen Bescheides durch die ordnungsgemäße
Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung geheilt. Dies gelte aber nicht, wenn der
Einspruch in der Einspruchsentscheidung als unzulässig verworfen werde. Gerade eine
solche Fallgestaltung liege hier vor.
19
Angesichts der Fehler auf beiden Seiten – sowohl beim Beklagten als auch beim
damaligen Bevollmächtigten der Kläger – wäre eine Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand geboten gewesen.
20
Letztlich sei auch nicht nachvollziehbar, dass der Beklagte die fraglichen
Schätzungsbescheide nicht unter den Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) gestellt
habe. Gerade im Fall der Steuerfestsetzung im Wege der Schätzung sei wegen der
Unsicherheit über die Grundlagen naturgemäß eine vorläufige Steuerfestsetzung
geboten. Dies sei auch bundesweit Praxis der Finanzämter. Der Beklagte bestreite auch
nicht, dass Schätzungsbescheide unter den Vorbehalt der Nachprüfung gestellt werden
dürften. Eine Schätzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung sei insbesondere dann
geboten, wenn für eine zutreffende Schätzung kaum ausreichende Anhaltspunkte aus
den Steuerakten ersichtlich seien oder die Schätzung wegen Nichtabgabe der
Steuererklärungen erfolge, die Schätzung daher als abschließende Prüfung nicht
verantwortet werden könne. Daher hätten verschiedene Mittelbehörden eine
Verpflichtung zum Vorbehaltsvermerk statuiert, soweit Schätzungen infolge fehlender
Steuererklärungen erforderlich würden (vgl. OFD Nürnberg DStR 1994, 99; OFD
Koblenz DStR 1995, 1062). Warum die für den Beklagten zuständige Mittelbehörde trotz
wiederholter Forderungen der Steuerberaterkammer Köln sich diesen sinnvollen
Regelungen nicht angeschlossen habe, bleibe unerfindlich. So halte das
Finanzministerium des Saarlandes (StEK AO 1977, § 164 Nr. 26) die endgültige
Steuerveranlagung ohne Steuererklärung allein auf der Grundlage einer Schätzung nur
für zulässig, wenn das Finanzamt seine Sachaufklärungspflicht erfüllt und alle
Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich sei,
ausgeschöpft habe. Es seien ernstliche Zweifel angezeigt, ob der Beklagte im Streitfall
die zumutbare Sachaufklärung betrieben habe. Aus den Steuerakten sei dies nicht
ersichtlich. Hinzu komme, dass der Kläger zum 1.1.2003 die Apotheke und das
21
Reformhaus seines verstorbenen Vaters übernommen habe, er insoweit also für das
Streitjahr erstmals steuerlich veranlagt worden sei. Akten und Erkenntnisse aus den
Veranlagungen für die Vorjahre hätten dem Beklagten somit nicht vorgelegen. Die Höhe
der materiell unberechtigt festgesetzten Steuern sei Beleg dafür, dass die endgültigen
Schätzungsbescheide sich tatsächlich als Sanktion darstellten, nicht aber den Zweck
erfüllten, die Abgabe der Steuererklärungen zu erreichen. Die fehlende Anordnung des
Vorbehalts der Nachprüfung sei also ermessensfehlerhaft.
Die Kläger beantragen,
22
den Einkommensteuerbescheid vom 14.11.2005, betreffend beide Kläger, und die
Einspruchsentscheidung vom 10.7.2006,
23
den Umsatzsteuerbescheid vom 14.11.2005, betreffend den Kläger, und die
Einspruchsentscheidung vom 10.7.2006 sowie
24
den Bescheid über den Gewerbesteuermessbetrag vom 14.11.2005, betreffend den
Kläger, und die Einspruchsentscheidung vom 10.7.2006
25
aufzuheben und darüber hinaus den Beklagten zu verpflichten, die
Einkommensteuer der Kläger sowie die Umsatzsteuer und den
Gewerbesteuermessbetrag, beide den Kläger betreffend, entsprechend der
inzwischen vorgelegten Steuererklärungen festzusetzen,
26
hilfsweise, den Klägern hinsichtlich der Einsprüche vom 14.12.2005 gegen die
angefochtenen Steuerbescheide Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren.
27
Der Beklagte beantragt,
28
die Klage abzuweisen.
29
Soweit die Kläger die nicht ordnungsgemäße Bekanntgabe der Einkommen-, Umsatz-
und Gewerbesteuermessbescheide 2003 rügten, sei ihnen entgegen zu halten, dass die
angefochtenen Steuerbescheide unstreitig mit Postzustellungsurkunde am 7.11.2005
bekannt gegeben worden seien. Nach § 124 AO werde ein Verwaltungsakt gegenüber
demjenigen, für den er bestimmt sei oder der von ihm betroffen werde, in dem Zeitpunkt
wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben werde. Fehler beim technischen Ablauf der
Übermittlung des Verwaltungsaktes und Verletzungen von Formvorschriften seien nach
§ 127 AO unbeachtlich, wenn der Betroffene den für ihn bestimmten Verwaltungsakt
tatsächlich zur Kenntnis genommen habe (AEAO Textziffer 4.4 zu § 122 AO). Werde ein
schriftlicher Verwaltungsakt durch die Post übermittelt, so hänge die Wirksamkeit der
Bekanntgabe nicht davon ab, dass der Tag der Aufgabe des Verwaltungsaktes zur Post
in den Akten vermerkt werde. Um den Bekanntgabezeitpunkt im Rahmen der
Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO berechnen zu können, sei der Tag der
Aufgabe zur Post (in der Regel das Bescheiddatum) in geeigneter Weise festzuhalten.
Werde – wie im Streitfall – eine förmliche Zustellung durch Postzustellungsurkunde
vorgenommen, ergebe sich der Tag der Bekanntgabe und somit der Beginn der
Rechtsbehelfsfrist im Sinne des § 355 AO aus der Postzustellungsurkunde. Nach der
BFH-Rechtsprechung begründeten Postzustellungsurkunden den vollen Beweis der in
ihnen bezeugten Tatsachen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 4.6.1993 V B 9/93, BFH/NV
30
1993, 183, und vom 27.9.2005 XI B 123/04, BFH/NV 2006, 301), im Streitfall die
Bekanntgabe an die Kläger am 7.11.2005 durch Einlegung der angefochtenen
Steuerbescheide in deren Hausbriefkasten.
Da die Steuerbescheide für das Streitjahr 2003 ordnungsgemäß bekannt gegeben
worden seien, habe die Monatsfrist am 7.12.2006 geendet; die am 14.12.2005
eingegangenen Einsprüche seien verspätet erhoben worden. Dem Einwand, die
Zustellung könne aufgrund der Datierung der angefochtenen Bescheide nicht früher als
zu dem in den Steuerbescheiden aufgeführten Zeitpunkt als bewirkt gelten, stehe
entgegen, dass das Datum der Bescheide nicht mit dem Tag der Aufgabe zur Post im
Sinne des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO identisch sein müsse. Das Datum eines Bescheides
habe die Funktion, die vom Finanzamt vorgenommene Steuerfestsetzung zeitlich zu
fixieren und in diesem Sinne den Bescheid zu kennzeichnen. Das Datum der Aufgabe
zur Post betreffe dagegen nur die Bekanntgabe des Steuerbescheides. Der Nachweis
des Zeitpunktes des Zugangs der Verwaltungsakte sei im Streitfall eindeutig durch die
Postzustellungsurkunde erfolgt. Da die den Klägern zugegangenen Steuerbescheide
den Hinweis auf die Zustellung durch Postzustellungsurkunde aufgewiesen hätten, sei
der Steuerbevollmächtigte gehalten gewesen, anhand des Umschlages die
erforderliche Fristenberechnung vorzunehmen.
31
Den Klägern könne keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die
Frist für die Einreichung des Wiedereinsetzungsantrags nach § 110 AO sei unstreitig am
13.3.2006 abgelaufen. Das Schreiben des steuerlichen Vertreters sei jedoch
ausweislich des Posteingangsstempels erst am 14.3.2006 und damit verspätet beim
Beklagten eingegangen.
32
Die Tatsachen zur Begründung eines erneuten Wiedereinsetzungsantrags (zur
Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist des § 110 Abs. 2 Satz 1 AO) seien ebenfalls
innerhalb eines Monats darzulegen. Ein Nachschieben von Wiedereinsetzungsgründen
nach Ablauf der Antragsfrist sei unzulässig. Werde wie im Streitfall vorgetragen, das
fristwahrende Schriftstück sei rechtzeitig in den Hausbriefkasten des Finanzamts
eingeworfen worden, hätte es bereits mit dem Antrag vom 3.5.2006 neben der
lückenlosen und schlüssigen Darstellung des Vorganges dessen Glaubhaftmachen
durch Vorlage präsenter Beweismittel bedurft, die mit hinreichender Sicherheit den
Schluss auf die Richtigkeit des zur Entschuldigung Vorgetragenen zuließen. Neben der
lückenlosen Darstellung des Vorganges sei bei einem Bevollmächtigten, der die
steuerliche Beratung berufsmäßig ausübe, die Schilderung der Fristenkontrolle sowie
der Postausgangskontrolle nach Art und Umfang erforderlich und diese durch Vorlage
des Fristenkontrollbuchs und des Postausgangsbuchs glaubhaft zu machen. Da neben
der eidesstattlichen Versicherung des Bevollmächtigten entsprechende präsente
Beweismittel fehlten, könne ein Verschulden des Bevollmächtigten an der
Fristversäumnis nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.
Mängel der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags könnten nach Ablauf der
Monatsfrist auch nicht mehr beseitigt werden, sie gingen zu Lasten des Vertreters.
33
Soweit der Steuerbevollmächtigte mit der eidesstattlichen Versicherung vom 26.4.2006
angebe, er habe den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand am Montag,
dem 13.3.2006, gefertigt und am gleichen Tag persönlich in den Hausbriefkasten des
Finanzamts eingeworfen, könne sich das Finanzamt aufgrund dieses Vorbringens nicht
vom rechtzeitigen Eingang des Wiedereinsetzungsantrages überzeugen. Der
Eingangsstempel einer Behörde oder eines Gerichts erbringe grundsätzlich den Beweis
34
für Zeit und Ort des Eingangs eines Schreibens. Der nach § 418 Abs. 2 ZPO zulässige
(Gegen-) Beweis der Unrichtigkeit einer öffentlichen Urkunde erfordere den vollen
Nachweis eines anderen Geschehensablaufs. Bloße Zweifel an der Richtigkeit der
urkundlichen Feststellungen genügten nicht, vielmehr müsse zur Überzeugung des
Finanzamts oder eines Gerichts jegliche Möglichkeit ihrer Richtigkeit ausgeschlossen
sein. Die Beweiskraft einer öffentlichen Urkunde könne nicht durch eine eidesstattliche
Versicherung, die lediglich ein Mittel der Glaubhaftmachung, aber nicht des Beweises
sei, widerlegt werden. Die bloße Behauptung, ein Schriftstück sei zu einem bestimmten
Termin in den Hausbriefkasten des Finanzamtes eingeworfen worden, könne deshalb
kein geeigneter Gegenbeweis sein. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand sei daher wegen Verfristung abzulehnen.
Die fehlende Aufnahme des Vorbehalts der Nachprüfung in den angefochtenen
Bescheiden könne keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründen. § 164
Abs. 1 Satz 1 AO stelle die Aufnahme des Vorbehaltsvermerks in einen Steuerbescheid
in das nach § 5 AO pflichtgemäß, jedoch ohne Begründungspflicht auszuübende
Ermessen der Finanzbehörde. Folglich bedürfe die Nichtaufnahme des Vorbehalts der
Nachprüfung noch um so weniger einer besonderen Begründung, weil der Erlass
vorbehaltloser Steuerbescheide die gesetzliche Regel bilde. Die Verpflichtung zur
Aufnahme des Nachprüfungsvorbehalts in allen Schätzfällen sei weder aus dem Gesetz
abzuleiten noch den geltenden Verwaltungsvorschriften zu entnehmen. Aus der
fehlenden Begründungspflicht, die als lex specialis eine Einschränkung des § 121
Abs. 1 AO enthalte und nicht nur die Aufnahme der Nebenbestimmung, sondern erst
recht für deren Nichtbeifügung gelte, ergebe sich zugleich, dass die Finanzverwaltung
bei der Entscheidung über die Aufnahme frei sei. Dies gelte auch, wenn es sich um
Schätzungsveranlagungen handle. Die Interessen des Steuerpflichtigen würden zum
einen durch die Änderungsvorschriften und zum anderen durch die
Anfechtungsmöglichkeiten des Schätzungsbescheides hinreichend geschützt.
35
Entscheidungsgründe
36
Die Klage ist unbegründet.
37
Der Beklagte hat zu Recht die Einsprüche als unzulässig verworfen und den Klägern
keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
38
Die angefochtenen Bescheide wurden den Klägern am 7.11.2005 bekannt gegeben und
damit wirksam.
39
Ein Verwaltungsakt wird gemäß § 124 Abs. 1 AO gegenüber demjenigen, für den er
bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm
bekannt gegeben wird. Dies ist bei schriftlicher Bekanntgabe der Zeitpunkt, in dem der
Verwaltungsakt dem Inhaltsadressaten zugegangen ist, d.h. derart in seinen
Machtbereich gelangt ist, dass die Kenntnisnahme ihm normalerweise möglich ist und
nach den Gepflogenheiten des Rechtsverkehrs auch erwartet werden kann (vgl. Tipke in
Tipke/Kruse, § 122 AO Rz. 7). Dies war - unstreitig – am 7.11.2005 mit dem Einwurf in
den zur Wohnung gehörenden Briefkasten der Fall.
40
Dem Wirksamwerden des angefochtenen Bescheids im Zeitpunkt der Bekanntgabe
steht nicht entgegen, dass die Bekanntgabe eine Woche vor dem im Bescheid
angegebenen Datum erfolgte. Dies hat nicht zur Folge, dass der Bescheid als nicht oder
41
jedenfalls nicht vor dem 14.11.2005 existent anzusehen wäre.
Ein Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird
(§ 124 Abs. 1 Satz 2 AO). Der Inhalt eines Verwaltungsakts ergibt sich aus dem sog.
Ausspruch (Entscheidungssatz, Tenor). Nicht zum Inhalt eines Verwaltungsakts im
Sinne des § 119 AO gehört neben der Begründung und der Rechtsbehelfsbelehrung
insbesondere das Datum des Verwaltungsakts (vgl. Tipke in Tipke/Kruse, § 119 AO
Rz. 7). Wie sich aus § § 119 Abs. 3 und 157 Abs. 1 AO ergibt, muss der Steuerbescheid
selbst kein Datum enthalten. Das Datum des Bescheides hat (nur) die Funktion, die vom
Finanzamt vorgenommene Steuerfestsetzung zeitlich zu fixieren und in diesem Sinne
den Bescheid zu kennzeichnen (vgl. BFH-Urteile vom 19.12.1985 I R 7/82, BStBl II
1985, 485, und vom 3.5.2001 III R 56/98, BFH/NV 2001, 1135). Für die Wirksamkeit
eines Verwaltungsakts kommt es nicht auf das in dem Bescheid ausgewiesene Datum,
sondern ausschließlich auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe (Zugang am 7.11.2005) an.
Dass die Versendung der Bescheide ausweislich des (offensichtlich vordatierten)
Stempelaufdrucks auf dem Eingabewertbogen erst an dem (vom Rechenzentrum
vorgegebenen) Datum (14.11.2005) erfolgen sollte, ist unerheblich. Im Streitfall ist nicht
ernstlich zweifelhaft und durch den ausgefüllten Stempelaufdruck dokumentiert, dass
der Beklagte die Schätzungsbescheide mit dem bekannt gegebenen Inhalt absenden
wollte und damit mit Bekanntgabewillen handelte. Dass die Absendung vor dem
vorgesehenen Termin erfolgte, spielt bereits deshalb keine Rolle, weil die
Finanzbehörde den Bescheid ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe mit dem erklärten
Inhalt gegen sich gelten lassen muss; soll das Bekanntgegebene nicht gelten, muss
dies dem Betroffenen spätestens gleichzeitig mit der Bekanntgabe mitgeteilt werden
(vgl. Tipke in Tipke/Kruse, § 124 AO Rz.14).
42
Der am 14.12.2005 beim Beklagte eingegangene Einspruch wurde verspätet eingelegt.
Wie der Beklagte zutreffend berechnet hat, endete die einmonatige Rechtbehelfsfrist am
7.12.2005. Die Rechtsbehelfsfrist begann gemäß § 108 Abs. 1 AO in Verbindung mit
§ 187 Abs. 1 BGB mit Ablauf des Tages der Bekanntgabe, d.h. am 8.11.2005. Die
vorzeitige Bekanntgabe des Bescheides hatte nicht zur Folge, dass die
Rechtsbehelfsfrist später begann. Nach der eindeutigen gesetzlichen Regelung ist der
Einspruch "innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts"
einzulegen (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO). Da der Steuerbescheid kein Datum zu enthalten
braucht, anhand dessen es dem Adressaten möglich ist, mit Hilfe der beigefügten
Rechtsbehelfsbelehrung ohne Berücksichtigung weiterer Umstände die Frist zu
berechnen, beginnt die Rechtsbehelfsfrist auch dann zu laufen, wenn ein
Steuerbescheid ohne Datum ergangen ist. Ist eines angegeben, so ist damit – wie der
Streitfall anschaulich verdeutlicht - nicht in jedem Fall sichergestellt, dass es mit dem
Datum der Aufgabe zur Post übereinstimmt. Deshalb kommt in Zweifelsfällen stets dem
Datum des Poststempels entscheidende Bedeutung zu (vgl. BFH-Urteile vom 18.7.1986
III R 216/81, BFH/NV 1987, 12,vom 8.4.1987 X R 69/81, BFH/NV 1988, 72, und vom
29.3.1990 V R 19/85, BFH/NV 1992, 783). Eine Verlängerung der Rechtsbehelfsfrist auf
ein Jahr (§ 356 Abs. 2 AO) scheidet ebenfalls aus. Denn die Rechtsbehelfsbelehrung ist
nicht unrichtig. In ihr wird zutreffend darauf hingewiesen, dass die einmonatige
Einspruchsfrist mit Ablauf des Bekanntgabetages beginnt und bei Zustellung mit
Zustellungsurkunde Tag der Bekanntgabe der Tag der Zustellung ist.
43
Den Klägern kann wegen der Versäumung der Einspruchsfrist keine Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand gewährt werden.
44
Es kann offen bleiben, ob die Tatsachen zur Begründung des Antrags auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb der Monatsfrist des § 110 Abs. 2 AO
vorgetragen und glaubhaft gemacht wurden, denn der Antrag ist unbegründet.
45
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO auf Antrag
zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist,
einzuhalten. Dabei ist das Verschulden eines Vertreters dem Vertretenen zuzurechnen
(§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO).
46
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Kläger haben nicht glaubhaft gemacht,
dass die Frist ohne Verschulden ihres früheren Bevollmächtigten versäumt wurde.
47
Bei Beteiligung rechtskundiger Prozessvertreter kann eine Fristversäumung nur dann
als entschuldigt angesehen werden, wenn sie durch die äußerste, den Umständen
angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden
kann (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 24.1.2005 III B 34/04,
BFH/NV 2005, 720). Der frühere Bevollmächtigte der Kläger hat entweder ohne
Ermittlungen zum Datum der Zustellung unterstellt, dass die Bekanntgabe jedenfalls
nicht vor dem im Bescheid ausgewiesenen Datum erfolgt sein könne, oder ihm ist ein
Fehler bei der Berechnung der Rechtsbehelfsfrist unterlaufen. In beiden Fällen hat er
schuldhaft gehandelt.
48
Zu den Sorgfaltspflichten eines Bevollmächtigten gehört, insbesondere wenn die
Rechtsbehelfsfrist (zulässigerweise) bis zum Ende ausgenutzt werden soll, die
Überprüfung der Art und des Zeitpunkts der Bekanntgabe (vgl. BFH-Urteil vom
17.3.1994 V R 136/92, BFH/NV 1995, 465). Dass der Schätzungsbescheid nicht mit
einfachem Brief, sondern mit Postzustellungsurkunde bekannt gegeben wurde, ergibt
sich bereits aus dem Stempelaufdruck auf dem Bescheid. Eine korrekte Fristberechnung
ist in diesem Fall nur möglich, wenn der Umschlag des Schriftstücks, auf dem
ausweislich der Zustellungsurkunde der Tag der Zustellung vermerkt war,
hinzugezogen wird. Wäre dies geschehen, wäre ohne weiteres aufgefallen, dass der
Bescheid bereits am 7.11.2005 zugestellt wurde und die Rechtsbehelfsfrist folglich
früher endete. Wenn der Bevollmächtigte diese, für eine ordnungsgemäße
Fristenberechnung erforderliche Ermittlung unterließ und sich allein auf das Datum des
Bescheides verließ, ist dies zwar nachvollziehbar, kann ihn aber nicht entschuldigen.
Denn als Bevollmächtigtem, von dem grundsätzlich die Kenntnis des Verfahrensrechts
erwartet wird (vgl. Gräber/Stapperfend, § 56 FGO Rz. 20 "Rechtsirrtum über
Verfahrensfragen"), musste ihm bekannt sein, dass das Datum des Bescheides nicht mit
dem Datum der Bekanntgabe gleichgesetzt werden kann. Dass diese Daten nicht
übereinstimmen, ist insbesondere dann nicht auszuschließen, wenn – wie bei der
Bekanntgabe durch förmliche Zustellung - kein automatischer Versand durch das
Rechenzentrum erfolgen kann.
49
Wenn der Bevollmächtigte zwar das Datum der Zustellung ermittelt, seiner Berechnung
der Rechtsbehelfsfrist aber dennoch das Datum des Bescheides zugrunde gelegt hat,
weil er dies für ausschlaggebend hielt, stellt dies einen Irrtum über das Verfahrensrecht
dar, der ihn als rechtskundigen Bevollmächtigten nicht entschuldigen kann.
50
Dass die angefochtenen Bescheide nicht mit dem Vorbehalt der Nachprüfung versehen
wurden, führt weder zur Nichtigkeit der angefochtenen Bescheide noch hat dies Einfluss
auf die Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Wie der Beklagte zutreffend
51
dargelegt hat, bestand weder eine gesetzliche Verpflichtung noch eine innerdienstliche
Weisung, Schätzungsbescheide unter den Vorbehalt der Nachprüfung zu stellen.
Der Beklagte hat daher zu Recht die Einsprüche als unzulässig verworfen.
52
Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen; der Senat hat der
Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen.
53
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
54