Urteil des FG Hessen vom 21.06.2006

FG Frankfurt: zerrüttung der ehe, verwaltungsakt, gesetzliche frist, bindungswirkung, verfügung, rechtswidrigkeit, rücknahme, aufteilung, trennung, ermessensunterschreitung

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Gericht:
Hessisches
Finanzgericht 1.
Senat
Entscheidungsdatum:
Streitjahre:
1992, 1991, 1990
Aktenzeichen:
1 K 2763/02
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 130 Abs 2 Nr 4 AO 1977, §
37 Abs 2 AO 1977, § 102 FGO,
§ 36 Abs 2 Nr 1 EStG 1990, §
218 Abs 2 AO 1977
(Änderung einer fehlerhaften, bestandskräftigen
Anrechnung von Einkommensteuervorauszahlungen -
Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden
Verwaltungsakts)
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Anrechnung von Vorauszahlungen bei
den bestandskräftigen Veranlagungen des Klägers zur Einkommensteuer 1990 -
1992 fehlerhaft war und durch einen nachfolgenden Abrechnungsbescheid zu
Ungunsten des Klägers geändert werden konnte.
Der Kläger war mit seiner früheren Ehefrau bis zum Veranlagungszeitraum 1988
einschließlich (zunächst) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt worden. Am
01.04.1991 haben sich die Eheleute getrennt. Die Ehe ist in 1994 geschieden
worden.
Gegen die Eheleute, die vor und in den Streitjahren beide
einkommensteuerpflichtige Einkünfte - z.T. aus gemeinsamen gewerblichen
Unterbeteiligungen und aus gemeinschaftlichem Grundbesitz - erzielt haben,
waren als Gesamtschuldner für die Streitjahre durch Bescheid vom 07.09.1989
bzw. Einkommensteuerbescheid 1988 vom 16.08.1991 quartalsmäßig zu
entrichtende Vorauszahlungen festgesetzt worden, die auch entsprechend den im
Rahmen der automatisierten Verfahrensabläufe (aufgrund unveränderten
Datenbestands im Speicherkonto bis in das Jahr 1997) an die Eheleute gerichteten
periodischen Zahlungshinweisen durch Verrechnungsscheck bzw. in einem Fall an
den Vollziehungsbeamten in folgender Höhe gezahlt worden sind:
Einkommensteuer
Solidaritätszuschlag
Aufgrund nachträglichen Antrags des Klägers im Einspruchsverfahren vom
November 1998 hat der Beklagte für die Jahre 1986-1988 mit geänderten
Einkommensteuerbescheiden getrennte Veranlagungen durchgeführt und dabei
bei der Steuerabrechnung die für diese Jahre geleisteten
Einkommensteuervorauszahlungen beim Kläger jeweils nur noch zur Hälfte
berücksichtigt, wobei er vorab mit Schreiben an die Bevollmächtigten des Klägers
vom 28.06.1999 auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Aufteilung gemäß
der Vorschrift des § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) hingewiesen hatte.
Für die nachfolgenden Jahre hat der Kläger mit seinen am 01.02.1994 (1989 und
1990) bzw. 14.07.1997 (1991 und 1992) eingegangenen
Einkommensteuererklärungen jeweils getrennte Veranlagungen (1989-1991) bzw.
die Durchführung einer Einzelveranlagung (1992) beantragt. Dabei enthielt
erstmals die Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1991
einen Hinweis darauf, dass die Eheleute seit dem 01.04.1991 getrennt gelebt
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einen Hinweis darauf, dass die Eheleute seit dem 01.04.1991 getrennt gelebt
hatten. Der Beklagte hat mit - in der Folgezeit noch mehrfach geänderten -
Einkommensteuerbescheiden vom 28.10.1998 (1989-1991) bzw. 03.11.1998
(1992) die Veranlagungen durchgeführt. Dabei hat er im Rahmen der Abrechnung
(jeweils) die gemäß § 36 Abs. 2 Nr. 1 Einkommensteuergesetz in der für die
Streitjahre maßgeblichen Fassung (EStG) auf die Einkommensteuer
anzurechnenden Einkommensteuervorauszahlungen (§ 37 EStG) beim Kläger in
voller Höhe
berücksichtigt.
Die Einkommensteuerveranlagungen der früheren Ehefrau des Klägers für die
Jahre 1990-1992 sind (gleichfalls) im Oktober/November 1998 durchgeführt
worden. In den jeweiligen Anrechnungsverfügungen waren dabei die geleisteten
Einkommensteuervorauszahlungen zunächst unberücksichtigt geblieben.
Nachdem die frühere Ehefrau dem erstmals Ende des Jahres 2000 und danach
mehrfach widersprochen und die Anrechnung zumindest der hälftigen
Einkommensteuervorauszahlungen auf die gegen sie festgesetzte
Einkommensteuer 1990-1992 beantragt hatte, ist es im November 2001 zu einer
Besprechung an Amtsstelle mit dem Kläger und dessen steuerlichen Beratern
gekommen. Diese haben dabei die Auffassung vertreten, dass die
Vorauszahlungen - wie geschehen - ausschließlich dem Kläger zuzurechnen seien,
weil sie aus dessen Vermögen und für seine voraussichtlichen
Steuernachzahlungen entrichtet worden seien. Zudem seien auch die formellen
Voraussetzungen für eine nachträglich abweichende Aufteilung nicht gegeben, da
die Tatbestandvoraussetzungen des anzuwendenden § 130 AO nicht vorliegen
würden.
Ungeachtet dieser Einwände hat der Beklagte mit Verfügung ohne
Rechtsbehelfsbelehrung vom 15.11.2001 eine von der bisherigen Abrechnung
abweichende nur hälftige Anrechnung der Einkommensteuervorauszahlungen
(1991 und 1992 auch bzgl. des Solidaritätszuschlags) vorgenommen. Er hat sich
dabei auf ein Schreiben der Rechtsberater des Klägers, der Rechtsanwälte L und
Partner, vom 05.02.1997 berufen. Danach sind die
Einkommensteuervorauszahlungen in den Jahren 1992 - 1995 vom Mietkonto der
Grundstücksgemeinschaft der Ehegatten gezahlt und zu jeweils 50 % dem
Kapitalkonto des Klägers und dem der Ehefrau als Entnahme belastet worden, da
beide in der Vergangenheit zusammen veranlagt worden seien. Die
Einkommensteuervorauszahlungen müssten daher ab dem ersten Jahr der
getrennten Veranlagung dem Kläger und der Ehefrau zu je 50 % zugerechnet
werden. Für die nachfolgenden Jahre 1993 und 1994 habe der Kläger einen Betrag
von 106.244 DM auf das Mietkonto überwiesen und anschließend vom Mietkonto
die Einkommensteuervorauszahlungen geleistet.
Mangels fristgemäßer Tilgung der Beträge laut Leistungsgebot entsprechend der
geänderten Abrechnung hat der Beklagte am 14.02.2002 gegen den Kläger eine
Vollstreckungsankündigung erlassen, gegen die der Kläger mit Schriftsatz seiner
Bevollmächtigten vom 19.02.2002 Einwendungen erhoben und die Erteilung eines
rechtsbehelfsfähigen Bescheids beantragt hat. Daraufhin hat der Beklagte am
11.03.2002 einen Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 AO für die Jahre
1989-1992 erlassen, mit dem die geleisteten Einkommensteuervorauszahlungen
beim Kläger nur noch zur Hälfte angerechnet worden sind. Wegen der Einzelheiten
wird auf den Abrechnungsbescheid vom 11.03.2002 verwiesen.
Den hiergegen gerichteten Einspruch hat der Beklagte mit der die Anrechnung von
Vorauszahlungen 1990 - 1992 betreffenden Einspruchsentscheidung vom
19.07.2002 als unbegründet zurückgewiesen. Bei Ehegatten sei davon
auszugehen, dass der auf eine gemeinsame Steuerschuld zahlende Ehegatte
nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen Ehegatten von der Steuerschuld
befreien wolle. Da im Streitfall Anhaltspunkte für eine andere Tilgungsabsicht
fehlten, seien die Zahlungen des Klägers auf die Vorauszahlungsschuld für die
Rechnung beider Eheleute vorgenommen worden mit der Folge, dass die
geleisteten Zahlungen entsprechend der ständigen Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofs (BFH) nach Köpfen auf die Ehegatten zu verteilen seien. Einer
Änderungsvorschrift bedürfe es für die Abweichung von der bisher
vorgenommenen Anrechnung nicht, denn § 218 Abs. 2 AO enthalte eine
gegenüber den §§ 130, 131 AO vorgreifliche Sonderregelung. Bei Erlass des
Abrechnungsbescheides habe deshalb für das Finanzamt keine Bindung an die
zuvor ergangenen Anrechnungsverfügungen bestanden.
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Hiergegen richtet sich die fristgerecht erhobene Klage. Mit ihr macht der Kläger in
materieller Hinsicht geltend, die geleisteten Vorauszahlungen seien bei ihm in
voller Höhe anzurechnen. Zwar sei wohl zum Zeitpunkt der Erhebung der
Vorauszahlungen von einer Gesamtschuldnerschaft auszugehen. Diese sei
allerdings durch die für die Jahre 1990 und 1991 erfolgten getrennten
Veranlagungen aufgehoben. Nach dem BFH-Urteil vom 09.12.1969 VII R 83/67,
Bundessteuerblatt (BStBl) II 1970, 351, seien im Fall einer solchen nachträglichen
getrennten Veranlagung die Vorauszahlungen demjenigen Ehegatten gut zu
bringen, der die Zahlungen geleistet habe. Für das Kalenderjahr 1992 habe
aufgrund der vorgenommenen Einzelveranlagung keine Gesamtschuldnerschaft
bestanden; eine solche sei wegen der Trennung der damaligen Ehegatten zum
01.04.1991 auch von vornherein ausgeschlossen gewesen. Soweit er - der Kläger -
für 1992 noch die vom Beklagten für "Herrn und Frau ….. und …… ……"
vorgedruckten und übersandten Überweisungsformulare verwandt habe, habe er
keine Vorauszahlungen auf die Steuerschuld der Ehefrau, sondern eine
Vorauszahlung auf die eigene Steuerschuld und aus eigenem Vermögen bewirkt.
Insoweit vermittele das Schreiben des Anwaltsbüros L und Partner vom 05.02.1997
ein falsches Bild.
In formeller Hinsicht macht der Kläger geltend, die Anrechnung von
Steuerabzugsbeträgen sei sowohl nach der Rechtsprechung des 7. Senats des
BFH (Urteile vom 15.04.1997 VII R 100/96,BStBl II 1997, 787, und vom 18.07.2000
VII R 32, 33/99, BStBl II 2001, 133) als auch nach der Verwaltungsauffassung (H 36
-Anrechnung- Nr. 1 Amtliches Einkommensteuer-Handbuch -ESt-Hdb- 2005) ein
Verwaltungsakt mit Bindungswirkung, welche auch bei Erlass eines
Abrechnungsbescheides zu beachten sei. Deshalb hätten im Rahmen der
Verfügung vom 15.11.2001 und des Abrechnungsbescheides vom 11.03.2002 die
ursprünglichen Steueranrechnungen nur dann geändert werden dürfen, wenn eine
Änderungsvorschrift eingreifen würde. Das sei indes nicht der Fall. Insbesondere
komme § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO nicht zum Zuge, weil er, der Kläger, als "normaler
Steuerbürger" eine etwaige Fehlerhaftigkeit der mit den Steuerbescheiden
vorgenommenen Abrechnungen nicht habe erkennen können und müssen. Die
Zuziehung eines Rechtsberaters nach Eingang der subjektiv als richtig
empfundenen Bescheide habe sich für ihn nicht aufgedrängt. Im Übrigen müsse er
sich die Steuerrechtskenntnisse seiner steuerlichen Berater zur
Aufteilungsproblematik des § 37 AO bei Ehegatten nicht zurechnen lassen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des klägerischen Vortrags wird auf die
Klagebegründung vom 06.09.2002 sowie die Schriftsätze der Bevollmächtigten
vom 13.01.2003, 30.11.2005, vom 06.01.2006 und vom 12.06.2006 Bezug
genommen.
Der Kläger beantragt, den Abrechnungsbescheid des Beklagten vom 11.03.2002 in
Form der Einspruchsentscheidung vom 19.07.2002 aufzuheben, hilfsweise für den
Fall der Klageabweisung, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Er ist nach wie vor der Auffassung, der angegriffene Bescheid sei weder inhaltlich
unzutreffend noch bestünden formell-rechtliche Bedenken gegen die nachträgliche
Änderung der Anrechnung:
Für die Steueranrechnung komme es nicht darauf an, in welcher Art und Weise die
Einkommensteuerveranlagungen der Streitjahre lange nach Ablauf der
Veranlagungszeiträume durchgeführt wurden. Entscheidend sei allein, dass die
Vorauszahlungen seinerzeit für die damals zusammen zur Einkommensteuer zu
veranlagenden Ehegatten festgesetzt worden seien. Im Rahmen einer
bestehenden und intakten Ehe - im Streitfall also bis mindestens April 1991 - sei in
Ermanglung eines für das Finanzamt erkennbar hervorgetretenen
entgegenstehenden Willens davon auszugehen, dass Zahlungen des einen
Ehegatten auf die gemeinsame Vorauszahlungsschuld für Rechnung beider
Ehegatten als Gesamtschuldner bewirkt worden seien und deshalb eine Aufteilung
der Vorauszahlungen nach Köpfen vorzunehmen sei. Dies gelte im Streitfall auch
für die Zeit nach Trennung der Eheleute. Insoweit verweist der Beklagte über die
Begründung in der Einspruchsentscheidung hinaus darauf, dass der Kläger noch
mit Scheckzahlung vom 09.03.1993 der an die Eheleute gerichteten
Zahlungsaufforderung betreffend Einkommensteuer und Kirchensteuer für das
erste Vierteljahr 1993 nachgekommen sei. Als Absender seien auf dem
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erste Vierteljahr 1993 nachgekommen sei. Als Absender seien auf dem
Scheckvordruck beide Eheleute (….. und ….. ….. ) aufgeführt. Wenn der Kläger
aber noch im März 1993, also lange Zeit nach der vollzogenen Trennung,
Zahlungen auf die gemeinsame Steuerschuld der Eheleute getätigt habe, könne
für die vorhergehenden Zahlungen keine andere Tilgungsabsicht angenommen
werden.
In formeller Hinsicht macht der Beklagte zuletzt geltend, dass es sich bei der sog.
Anrechnungsverfügung zwar um einen Verwaltungsakt i.S.v. § 118 AO handele.
Jedoch habe der BFH mit Beschluss vom 13.01.2005 VII B 147/04, BStBl II 2005,
457, bestätigt, dass nicht alles, was das Finanzamt in den Abrechnungsteil eines
Einkommensteuerbescheids aufnehme, in Bestandskraft mit der Folge einer
späteren Änderungsmöglichkeit nur unter den Voraussetzungen des § 130 AO
erwachse. Danach beruhe die Anrechnung der in § 36 Abs. 2 EStG genannten
Steuerzahlungen auf dem Gesetz und erwachse in Bestandskraft. Die
Entscheidung darüber, inwiefern Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis durch
bestimmte Zahlungen oder Verbuchungen bereits getilgt sind, beruhe dagegen
nicht auf gesetzlicher Grundlage und könne damit auch nicht in Bestandskraft
erwachsen, sondern sei jederzeit ohne Vorliegen einer gesonderten
abgabenrechtlichen Änderungsvorschrift durch einen Abrechnungsbescheid nach §
218 Abs. 2 AO korrigierbar. Dies gelte insbesondere für die Verbuchung von
Vorauszahlungen. § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG regele insoweit gesetzlich nur, in welcher
Höhe die Vorauszahlungen anzurechnen seien, nämlich in der Höhe, in der sie
entrichtet worden sind. Hinsichtlich der auch vorliegend allein streitigen Frage, für
wen die Vorauszahlungen entrichtet worden und wem sie deshalb zuzurechnen
sind, erwachse die Zuordnungsentscheidung des Finanzamts gerade nicht in
Bestandskraft und könne deshalb jederzeit durch Abrechnungsbescheid richtig
gestellt werden.
Ergänzend hat der Beklagte im Laufe des Verfahrens geltend gemacht, die
fehlerhafte Anrechnungsverfügung sei ohnehin auch nach § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO zu
ändern gewesen. Denn der Kläger müsse sich die Erkenntnismöglichkeiten seiner
steuerlichen Berater über die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen
Anrechnungsbescheide auf der Grundlage der vom BFH seit dem Urteil vom
25.07.1989 VII R 118/87, BStBl II 1990, 41, ständig vertretenen Rechtsauffassung
zurechnen lassen. Bei Überprüfung der erstmaligen Anrechnungsverfügungen
hätte sich dem die Tatsachen kennenden Kläger und dessen steuerlich versierten
Beratern aufdrängen müssen, dass eine alleinige Zuordnung der geleisteten
Einkommensteuervorauszahlungen beim Kläger rechtsfehlerhaft war.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze des Beklagten vom
05.11.2002, vom 08.12.2005, vom 02.02.2006 und vom 31.05.2006 verwiesen.
Dem Gericht haben von den für den Kläger und seine damalige Ehefrau beim
Beklagten zur Steuernummer geführten Akten fünf Bände
Einkommensteuerakten sowie ein Band "Anrechnung
Einkommensteuervorauszahlungen 1989-1992" vorgelegen und waren
Gegenstand des Verfahrens.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Denn zwar ist der Auffassung des Beklagten beizutreten,
dass die Vorauszahlungen bei dem Kläger nur zur Hälfte anzurechnen gewesen
wären. Jedoch hat es der Beklagte verabsäumt, hinsichtlich der (teilweisen)
Rücknahme der bestandskräftigen Anrechnungen in voller Höhe eine nach § 130
Abs. 1 und 2 AO erforderliche Ermessensentscheidung zu treffen, so dass der
angefochtene Abrechnungsbescheid wegen Ermessensunterschreitung
aufzuheben ist.
1. Der Beklagte geht zutreffend davon aus, dass die Vorauszahlungen zur
Einkommensteuer bei dem Kläger nur zur Hälfte hätten angerechnet werden
dürfen. Denn nach § 37 Abs. 2 AO ist erstattungsberechtigt derjenige, auf dessen
Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist. Hierfür ist entgegen der Auffassung des
Klägers nicht entscheidend, wer die Zahlungen geleistet hat. Das von dem Kläger
angeführte Urteil des BFH in BStBl II 1970, 351, ist durch die neuere
Rechtsprechung überholt (vgl. das Urteil des BFH in BStBl II 1990, 41, 43).
Entscheidend kommt es vielmehr darauf an, wessen Steuerschuld nach dem
Willen des Zahlenden, wie er im Zeitpunkt der Zahlung dem Finanzamt gegenüber
erkennbar hervorgetreten ist, getilgt werden sollte. Nach dem Urteil des BFH in
BStBl II 1990, 41 (seither ständige Rechtsprechung) ist zwar im Fall der
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BStBl II 1990, 41 (seither ständige Rechtsprechung) ist zwar im Fall der
Gesamtschuldnerschaft im Zweifel davon auszugehen, dass jeder
Gesamtschuldner nur seine eigene Schuld tilgen will, sofern nicht ein anderer Wille
- Zahlung für Rechnung aller Gesamtschuldner - erkennbar hervorgetreten ist. Bei
zusammen veranlagten Ehegatten entspricht es jedoch natürlicher
Betrachtungsweise und der regelmäßigen Absicht der Ehegatten, dass derjenige,
der die Zahlung auf die gemeinsame Steuerschuld bewirkt, auch den anderen
Ehegatten von seiner Steuerschuld befreien will, solange die Ehe besteht und
intakt ist. Die letztgenannte Einschränkung - bestehende Ehe und nicht dauerndes
Getrenntleben, d.h. bestehende Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft - ist in
nachfolgenden Entscheidungen des BFH wiederholt aufgegriffen worden (z.B. Urteil
vom 15.11.2005 VII R 16/05, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter
Entscheidungen des BFH -BFH/NV- 2006, 648, Beschluss vom 26.01.2006 VII B
312/05, BFH/NV 2006, 907).
Im Streitfall haben zwar der Kläger und seine frühere Ehefrau bereits seit dem
01.04.1991 getrennt gelebt. Gleichwohl rechtfertigt dies für die Zeit danach keine
abweichende Beurteilung. Denn zum einen kommt es für die Bestimmung des
Erstattungs- bzw. Anrechnungsberechtigten nach § 37 Abs. 2 AO auf die dem
Finanzamt im Zeitpunkt der Zahlung erkennbaren Umstände an, und zwar auch,
was eine etwaige Zerrüttung der Ehe oder ein Getrenntleben der Ehegatten
anbelangt (Urteil des BFH vom 04.04.1995 VII R 82/94, BStBl II 1995, 492, vgl. S.
495 mit 496, jeweils li. Sp., Beschluss des BFH vom 04.11.2003 VII B 382/02,
BFH/NV 2004, 314). Jedenfalls nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag
des Beklagten hat dieser aber erst aus der in 1997 eingereichten Steuererklärung
des Klägers für 1991 Kenntnis von der Trennung der Eheleute erhalten. Zum
anderen kann auch bei einer nicht intakten Ehe nicht generell davon ausgegangen
werden, dass der Zahlende nur auf eigene Rechnung leisten will (BFH-Urteil in
BStBl II 1995, 492, 496). Auch in dem dem BFH-Beschluss vom 11.01.2005 VII B
136/04, BFH/NV 2005, 833, zugrunde liegenden Fall hatten sich die Eheleute
während des Streitzeitraums getrennt. Gleichwohl hat der BFH auch hier erkannt,
dass wer Zahlungen auf eine - wie im Streitfall - gegen ihn und seinen Ehepartner
als Gesamtschuldner festgesetzte Einkommensteuervorauszahlungsschuld
geleistet hat, deren Erstattung nur dann in voller Höhe verlangen kann, wenn im
Zeitpunkt des Zahlungseingangs für das Finanzamt sein Wille erkennbar war, mit
den Vorauszahlungen nur seine eigene Schuld zu tilgen.
Im Streitfall war ein Wille des Klägers zur Tilgung nur seiner eigenen Schuld selbst
dann auch für den Zeitraum ab April 1991 nicht erkennbar, wenn der Beklagte
noch zeitnah Kenntnis von dem Getrenntleben der Eheleute erlangt haben sollte.
Nach dem Schreiben der von dem Kläger mandatierten Rechtsanwälte L und
Partner vom 05.02.1997 an die Bevollmächtigten der früheren Ehefrau ist davon
auszugehen, dass ein dahingehender Wille des Klägers zumindest bis 1995
überhaupt nicht bestanden hat, da ansonsten die Zahlung der Vorauszahlungen
(zumindest) ab 1992 von dem Mietkonto der Grundstücksgemeinschaft bei je
hälftiger Belastung der Kapitalkonten keinen Sinn ergeben würde. Ein solcher Wille
wäre aber jedenfalls auch nicht nach außen erkennbar hervorgetreten, da die
Zahlungen entsprechend den noch an die Eheleute gerichteten
Zahlungshinweisen unter der bisherigen Steuernummer und unter Angabe beider
Eheleute erfolgt sind. Dies ist durch Vorlage der Scheckkopie vom 09.03.1993
betreffend die Vorauszahlung I/1993 belegt. Für die zurückliegenden Jahre liegen
offenbar wegen abgelaufener Aufbewahrungsfristen keine Unterlagen mehr vor. Es
muss jedoch mit dem Beklagten davon ausgegangen werden und wird auch von
dem Kläger nicht in Abrede gestellt, dass frühere Zahlungen in gleicher Weise
erfolgt sind.
Hiernach ergibt sich, dass die Vorauszahlungen gemäß § 37 Abs. 2 AO bei dem
Kläger und seiner vormaligen Ehefrau nach Köpfen, d.h. je zur Hälfte anzurechnen
gewesen wären.
2. In verfahrensrechtlicher Hinsicht bedurfte die Teilrücknahme der
bestandskräftigen Anrechnungsverfügungen wegen deren Bindungswirkung einer
entsprechenden Änderungsnorm. Insoweit haben die tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO, wie der Beklagte zuletzt zutreffend
geltend gemacht hat, vorgelegen:
a) In der Rechtsprechung besteht Einigkeit darüber, dass es sich bei der - aus
Zweckmäßigkeitsgründen i.d.R. wie auch im Streitfall mit der Steuerfestsetzung in
einem Bescheid verbundenen - Verfügung über die Anrechnung von entrichteten
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einem Bescheid verbundenen - Verfügung über die Anrechnung von entrichteten
Vorauszahlungen oder einbehaltenen Steuerabzugsbeträgen auf die im Wege der
Veranlagung festgesetzte Jahressteuerschuld (§ 36 Abs. 2 und 4 EStG) um einen
dem Steuererhebungsverfahren zugehörigen deklaratorischen (bestätigenden)
Verwaltungsakt handelt, dessen Außenwirkung (§ 118 AO) sich je nach dem
Ergebnis der Anrechnung in einem Leistungsgebot oder in einer
Erstattungsverfügung äußert. Weiterhin besteht auch noch Einigkeit darüber, dass
bei Streitigkeiten über die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem
Steuerschuldverhältnis das Abrechnungsverfahren gemäß § 218 Abs. 2 AO als das
speziellere und umfassendere Verfahren vorrangig ist gegenüber einer Anfechtung
der Anrechnungsverfügung (z.B. Urteil des BFH in BStBl 1997, 787).
Streitig ist indes, ob eine bestandskräftige Anrechnungsverfügung
Bindungswirkung in dem Sinne erzeugt, dass hiervon - auch im Rahmen eines
Abrechnungsverfahrens - nur unter den Voraussetzungen der §§ 129 - 131 AO
abgewichen werden kann:
Nach Auffassung des I. Senats des BFH besteht in einem späteren Verfahren nach
§ 218 Abs. 2 AO keine Bindung an eine zuvor erlassene Anrechnungsverfügung. §
218 Abs. 2 AO enthalte eine gegenüber den §§ 129 ff. AO vorgreifliche
Sonderregelung. Es sei gerade der Sinn und Zweck der in § 218 Abs. 2 AO
getroffenen Regelung, dass das Finanzamt über das Bestehen oder Nichtbestehen
eines Anspruchs ohne Bindung an frühere Anrechnungsverfügungen entscheiden
könne und müsse. Der Abrechnungsbescheid gehe einer früheren
Anrechnungsverfügung vor, ohne diese förmlich aufzuheben (Urteile vom
28.04.1993 I R 100/92, BStBl II 1993, 836, und I R 123/91, BStBl II 1994, 147;
inzwischen offen gelassen im Urteil vom 27.06.2001 I R 65/00, BFH/NV 2001,
1528).
Der (für AO-Fragen zuständige) VII. Senat vertritt demgegenüber die Auffassung,
dass aus der rechtlichen Einordnung der Anrechnungsverfügung als
deklaratorischer Verwaltungsakt nach dem eindeutigen Wortlaut des § 130 Abs. 2
AO (Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil
begründet oder "bestätigt") folge, dass die Anrechnungsverfügung, wenn sie einen
Fehler zugunsten des Steuerpflichtigen enthalte (begünstigender Verwaltungsakt),
nur zurückgenommen oder geändert werden könne, wenn die Voraussetzungen
einer Änderungsvorschrift vorlägen, wobei der Bestandsschutz und die
Bindungswirkung einer vorangegangenen Anrechnungsverfügung auch im Rahmen
eines Abrechnungsverfahrens nach § 218 Abs. 2 zu beachten seien. Selbst wenn
der Abrechnungsbescheid die Anrechnungsverfügung nicht formell aufhebe, trete
er doch faktisch an deren Stelle und regele denselben Sachverhalt. Dann müsse
er bei der Feststellung der noch zu zahlenden Restschuld auch die Wirkung und
den Vertrauenstatbestand beim Steuerpflichtigen berücksichtigen, die sich durch
das Bestehen der Anrechnungsverfügung ergeben hätten (Urteile vom 16.10.1986
VII R 159/83, BStBl II 1987, 405, sowie in BStBl II 1997, 787, Beschluss vom
21.05.2001 VII B 217/00, Juris). Von einer Anrufung des Großen Senats hat der VII.
Senat mit der zutreffenden Begründung abgesehen, dass es sich in den
Entscheidungen des I. Senats jeweils nur um beiläufige Äußerungen einer
Rechtsansicht - obiter dicta - gehandelt habe (vgl. das Urteil in BStBl II 1997, 787).
Die Auffassung des VII. Senats ist in Rechtsprechung und Literatur inzwischen
absolut vorherrschend und entspricht auch der Auffassung der Verwaltung (vgl.
Urteile des Finanzgerichts -FG- Köln vom 16.03.2000 6 K 2223/96, Entscheidungen
der Finanzgerichte -EFG- 2000, 714, des FG Hamburg vom 08.10.2001 III 164/01,
EFG 2002, 341, des FG München vom 17.12.2001 13 K 1533/01, Juris, des FG Berlin
vom 14.02.2002 1 K 1076/99, EFG 2002, 876, des FG Berlin vom 27.05.2002 8 K
8592/99, Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst 2002, 1205, des FG
Nürnberg vom 03.07.2003 VII 368/2001, Juris, des FG Thüringen vom 01.09.2004 III
982/00, EFG 2005, 206, und des Hessischen FG vom 10.11.2004 11 K 1855/02,
Juris; aus der Literatur z.B. Völlmeke, Der Betrieb 1994, 1746, 1751, Brenner in
Kirchhof/Söhn, EStG, § 36 Rdnr. A 238, Seibel in Herrmann/Heuer/Raupach,
Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, § 36 EStG Anm. 7, Loose in
Tipke/Kruse, AO/Finanzgerichtsordnung -FGO-, vor § 172 AO Tz. 28; zur
Verwaltungsauffassung vgl. neben H 36 ESt-Hdb 2005 auch den
Anwendungserlass zur AO zu § 218, Nr. 3). Auch der erkennende Senat schließt
sich dieser Auffassung an, weil sie - wie der VII. Senat des BFH überzeugend
dargelegt hat - allein mit dem Wortlaut des § 130 Abs. 2 AO vereinbar ist und
anderenfalls der Anrechnungsverfügung als bestandskräftigem Verwaltungsakt
unter Missachtung des durch diesen geschaffenen Vertrauenstatbestands jegliche
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unter Missachtung des durch diesen geschaffenen Vertrauenstatbestands jegliche
Bedeutung genommen würde.
Soweit der Beklagte zuletzt den in einem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren
ergangenen Beschluss des BFH in BStBl II 2005, 457, dahingehend interpretiert
hat, dass eine Bindungswirkung der Anrechnung von
Einkommensteuervorauszahlungen nur hinsichtlich der Höhe der anzurechnenden
Vorauszahlungen, nicht aber hinsichtlich der "Zuordnungsentscheidung" und damit
wohl der Frage, bei wem die Vorauszahlungen anzurechnen sind, bestehe, vermag
der Senat diese feinsinnige Differenzierung der genannten Entscheidung nicht zu
entnehmen. Vielmehr differenziert der BFH in dieser Entscheidung ersichtlich
ausschließlich zwischen einerseits der auf dem Gesetz (§ 36 Abs.2 EStG)
beruhenden Anrechnung von Steuerzahlungen auf die Einkommensteuer, die bei
Bestandskraft Bindungswirkung auch für einen später ergehenden
Abrechnungsbescheid entfaltet, und andererseits allen sonstigen Zahlungen und
Verbuchungen bzw. der Entscheidung darüber, inwiefern durch diese (sonstigen)
Buchungen Ansprüche bereits getilgt bzw. Erstattungsansprüche entstanden sind,
die keine Bindungswirkung entfaltet. Eine Entscheidung über die Anrechnung von
Vorauszahlungen nach § 36 Abs. 2 Nr. 1 EStG in einem Steuerbescheid muss aber
immer zwangsläufig als Vorfrage die Entscheidung mit einschließen, ob und in
welchem Umfang geleistete Vorauszahlungen dem Steuerpflichtigen zuzurechnen,
d.h. z.B. i.S.v. § 37 Abs. 2 AO auf seine Rechnung bewirkt worden sind. Anders ist
eine Entscheidung über die Anrechnung von Vorauszahlungen (ebenso von
Lohnsteuer, Kapitalertragsteuer und Körperschaftsteuer) nach § 36 Abs. 2 EStG
überhaupt nicht denkbar.
b) Eine Änderung der bestandskräftigen Anrechnungsverfügung nach § 129 AO
wegen offenbarer Unrichtigkeit kommt im Streitfall nicht in Betracht, da die
Rechtslage hinsichtlich der Anrechnung der Vorauszahlungen nicht eindeutig und
eine fehlerhafte rechtliche Würdigung bei den Veranlagungen / Anrechnungen nicht
auszuschließen ist, jedenfalls aber eine einem Schreib- oder Rechenfehler
vergleichbare offenbare Unrichtigkeit i.S. der Vorschrift nicht vorliegt.
c) In Betracht kommt nur die Vorschrift des § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO, wonach ein
rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden kann,
wenn seine Rechtswidrigkeit dem Begünstigten bekannt oder infolge grober
Fahrlässigkeit nicht bekannt war. Mit dem Beklagten ist auch von dem Vorliegen
der Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift auszugehen.
Für die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen kommt es nach zutreffender Auffassung
auf die Umstände im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Verwaltungsakts (der
Anrechnungsverfügung) an (Urteil des FG Köln in EFG 2000, 714, Frotscher in
Schwarz, AO, § 130 Rdnr. 28). Es kommt entgegen der Auffassung des Klägers
auch auf die Kenntnis bzw. Erkenntnismöglichkeiten eines Bevollmächtigten an,
wenn der Bescheid diesem bekannt gegeben worden ist oder er verpflichtet war,
den Verwaltungsakt auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen; dann sind dessen
Rechtskenntnisse oder das rechtliche Kennenmüssen dem Begünstigten
zuzurechnen (Urteil des BFH in BStBl II 1997,787, 791 a.E., Beschluss des BFH
vom 10.03.2005 VII B 214/04, BFH/NV 2005, 1222, Urteile des FG Köln in EFG
2000, 714, des FG Hamburg in EFG 2002, 341, und des FG München vom
17.12.2001 13 K 1533/01, Juris, Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 130 AO Tz. 32 m.N.).
Vorliegend ist von Kenntnis bzw. Kennenmüssen bereits des Klägers selbst
angesichts des Schreibens seiner Berater, der Rechtsanwälte L und Partner, vom
05.02.1997 an die Berater der Ehefrau auszugehen, in dem die hälftige Aufteilung
der Vorauszahlungen als gerechtfertigt dargestellt worden war. Es kann nicht
angenommen werden, dass der Kläger in die diesbezüglichen Erörterungen nicht
eingebunden gewesen ist und die gewechselten Schriftsätze nicht gekannt hat. Im
Übrigen hat er sich die Kenntnisse seiner Bevollmächtigten im vorliegenden
Verfahren zurechnen zu lassen, die nicht nur bei der Anfertigung der
Einkommensteuererklärungen 1991 und 1992 mitgewirkt hatten, sondern denen
der Kläger offenkundig auch die (erstmaligen) Einkommensteuerbescheide 1990 -
1992 zur Überprüfung vorgelegt hatte, wie deren Antrag auf Änderung der
Abrechnung zum Einkommensteuerbescheid 1990 (betreffend Anrechnung von
Körperschaftsteuer) mit Schreiben vom 16.11.1998 und die Einsprüche gegen die
Einkommensteuerbescheide 1991 und 1992 durch die Schreiben vom 17.11.1998
belegen.
d) Die Entscheidung der Finanzbehörde, von der ihr durch § 130 Abs. 1 mit Abs. 2
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d) Die Entscheidung der Finanzbehörde, von der ihr durch § 130 Abs. 1 mit Abs. 2
AO eingeräumten Möglichkeit, einen rechtswidrigen (begünstigenden)
Verwaltungsakt zurückzunehmen, stellt jedoch eine Ermessensentscheidung dar,
wie sich aus der Formulierung "kann" in Abs. 1 der Vorschrift, auf den sich Abs. 2 -
einschränkend- bezieht, ergibt (vgl. z.B. Urteil des BFH vom 03.08.1983 II R
144/80, BStBl II 1984, 321, Urteile des FG Düsseldorf vom 03.05.2000 5 K 5963/92
U, Juris, und des FG Köln vom 27.06.2003 14 K 6586/99, EFG 2005, 456, Kruse in
Tipke/Kruse, a.a.O., § 130 AO Tz. 37 ff., Balmes in Kühn/von Wedelstädt, AO/FGO,
18. Aufl., § 130 AO Rz. 3). Eine Ermessensentscheidung der Verwaltung unterliegt
gemäß § 102 FGO nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch die
Gerichte. Demzufolge ist auch im Fall der gerichtlichen Anfechtung die
Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts nur auf
Ermessensüberschreitung, Ermessensunterschreitung oder (sonstigen)
Ermessensfehlgebrauch zu überprüfen. Dabei ist das Gericht im Fall der
Aufdeckung von Ermessensfehlern auf die Aufhebung der angefochtenen
Verwaltungsentscheidung beschränkt. Es darf grundsätzlich nicht sein eigenes
Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen. Nur in
den Fällen der sog. Ermessenseinengung oder Ermessensreduzierung auf Null, in
denen den Gesamtumständen nach nur eine bestimmte Entscheidung als
ermessensfehlerfrei in Betracht kommt, ist das Gericht befugt, seine Entscheidung
an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen (vgl.
z.B. das BFH-Urteil in BStBl II 1984, 321, Urteil des BFH vom 10.10.2001 XI R
52/00, BStBl II 2002, 201, Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 102 FGO Tz. 9 f.).
Da sich der Beklagte im Streitfall - trotz bereits seinerzeit entgegenstehender
Verwaltungsanweisungen - stets auf die Rechtsprechung des I. Senats des BFH
gestützt und eine unbeschränkte Änderungsmöglichkeit im Rahmen des § 218
Abs. 2 AO angenommen hat, hat er - insoweit folgerichtig - weder das Bewusstsein
noch den Willen gehabt, eine Ermessensentscheidung zu treffen. Folglich fehlen im
Abrechnungsbescheid wie auch in der Einspruchsentscheidung jegliche
Ermessenserwägungen. In diesem Fall der irrtümlichen Annahme einer
gebundenen Entscheidung liegt eine Ermessensunterschreitung vor, die aufgrund
der nur eingeschränkten Prüfungskompetenz des Gerichts die Aufhebung des
angefochtenen Abrechnungsbescheids zur Folge hat (z.B. Pahlke in Pahlke/Koenig,
AO, § 130 Rz. 49). Auch von einem Fall der sogen. Ermessenseinengung oder
Ermessensreduzierung auf Null kann vorliegend angesichts des Umstandes, dass
dem Beklagten der maßgebliche Sachverhalt bei Gewährung der begünstigenden
Anrechnungen der Einkommensteuervorauszahlungen in voller Höhe beim Kläger
im Rahmen der Einkommensteuerbescheide 1990 - 1992 vom 28.10. bzw.
03.11.1998 vollends bekannt war und dem Beklagten lediglich ein nicht vom Kläger
veranlasster Rechtsfehler unterlaufen ist, nicht ausgegangen werden. Es kann
deshalb dahinstehen, ob das Gericht selbst bei bewusster Nichtausübung von
Ermessen durch die Verwaltungsbehörde wie im Streitfall überhaupt befugt wäre,
in Ausübung eigenen Ermessens eine Ermessenseinengung feststellen und dies
zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen.
e) Es bestehen zudem Bedenken, ob die Jahresfrist des § 130 Abs. 3 Satz 1 AO
gewahrt worden ist. Danach ist die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres ab dem
Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Finanzbehörde von Tatsachen, welche die
Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts rechtfertigen,
zulässig. Vorliegend ist die Notwendigkeit einer hälftigen Aufteilung der
Vorauszahlungen für die Jahre 1986 - 1988 bereits in 1999 erkannt worden, wie das
Schreiben des Beklagten an die Bevollmächtigten des Klägers vom 28.06.1999
ausweist, während die Rücknahmeverfügung erst vom 15.11.2001 datiert. Im
Zusammenhang mit der Diskussion für diese Jahre hätte wohl auch die nach
Auffassung des Beklagten fehlerhafte Zuordnung der Vorauszahlungen für die
Folgejahre erkannt werden können und erkannt werden müssen. Die
vorherrschende Auffassung stellt jedoch für den Beginn des Laufs der Jahresfrist
auf den Zeitpunkt ab, in dem die Behörde die Rechtswidrigkeit des
Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung
außerdem erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind (Urteile des BFH vom
28.09.1993 VII R 107/92, BFH/NV 1994, 751, zu § 48 Abs. 4 Satz 1
Verwaltungsverfahrensgesetz im Anschluss an den Beschluss des Großen Senats
des Bundesverwaltungsgerichts -BverwG- vom 19.12.1984 1 und 2.84,
Entscheidungen des BVerwG -BverwGE- 70, 356, des BVerwG vom 14.01.2001 8 C
8/00, BVerwGE 112, 360, und des FG Köln in EFG 2005, 456). Das Abstellen auf
den Zeitpunkt der Erkenntnis über die Rechtswidrigkeit dürfte allerdings mit dem
Wortlaut der Vorschrift - Kenntnis von "Tatsachen" - schwerlich zu vereinbaren sein
und macht die gesetzliche Frist bedeutungslos (so mit einiger Berechtigung Kruse
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und macht die gesetzliche Frist bedeutungslos (so mit einiger Berechtigung Kruse
in Tipke/Kruse, a.a.O., § 130 AO Tz. 51). Die Frage, welcher Auffassung zu folgen ist
und wann vorliegend bei dem Beklagte die Rechtswidrigkeit der
Anrechnungsverfügungen erkannt worden ist, lässt der Senat letztlich
dahinstehen, da der angefochtene Bescheid ohnehin - wie oben unter 3.
ausgeführt - wegen Ermessensfehlers (Ermessensunterschreitung) aufzuheben ist.
3. Nach allem waren der Abrechnungsbescheid vom 11.03.2002 und die
Einspruchsentscheidung vom 19.07.2002 entsprechend dem Antrag des Klägers
aufzuheben. Eine Aufhebung der Verfügung des Beklagten vom 15.11.2001
kommt nicht in Betracht, da eine solche nicht beantragt ist (§ 96 Abs. 1 Satz 2
FGO). Der Aufhebung der Verfügung vom 15.11.2001 bedarf es nach Auffassung
des Senats auch nicht, da diese aufgrund der Vorrangigkeit des
Abrechnungsverfahrens verdrängt worden ist.
Da der Beklagte im Rechtsstreit unterliegt, sind ihm gemäß § 135 Abs. 1 FGO die
Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten ergibt
sich aus § 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 und 711 Satz 1
Zivilprozessordnung.
Der Senat lässt gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Frage der Bindungswirkung einer bestandskräftigen Anrechnung
der Steuerzahlungen nach § 36 Abs. 2 EStG dem Grunde und dem Umfang nach
und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung diesbezüglich zu.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.