Urteil des FG Hamburg vom 18.02.2013

FG Hamburg: echte rückwirkung, änderung der rechtsprechung, öffentliche gewalt, jstg, steuerfestsetzung, festsetzungsverjährung, verlustvortrag, einkünfte, rechtsstaatsprinzip, gesetzesänderung

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Einkommensteuergesetz: Verlustfeststellung gem. § 10d EStG für 1999 - 2001
§ 10d Abs. 4 Satz 6 und § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG i. d. F. des JStG 2007 verstoßen nicht gegen das aus dem
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete Rückwirkungsverbot, denn die Neuregelung beschränkt
sich auf noch nicht feststellungsverjährte Zeiträume.
NZB, Az.: IX B 49/13
FG Hamburg 6. Senat, Urteil vom 18.02.2013, 6 K 43/11
§ 10d EStG, § 169 AO, § 170 AO, § 181 Abs 5 AO
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, für die Jahre 1999 bis 2001
Verlustfeststellungsbescheide gem. § 10d Einkommensteuergesetz (EStG) zu erlassen.
Die 19... geborene Klägerin studierte von November 1998 bis Oktober 2003 ... Seit Januar 2004 war sie als
Trainee im Bereich "..." beschäftigt. Anschließend erfolgte eine Festanstellung. Sie erzielte im Jahr 2004
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 45.440 €. Der Gesamtbetrag der Einkünfte betrug 44.156
€.
Die Klägerin hatte für 1999, 2002 und 2003 jeweils Einkommensteuererklärungen eingereicht. Für alle drei
Jahre betrug das zu versteuerndes Einkommen 0 €. Die von ihr in diesen Jahren gezahlte Lohnsteuer wurde
zurückerstattet. Durch den Einkommensteuerbescheid für 1999 vom 25.02.2000 wurde ein Gesamtbetrag der
Einkünfte in Höhe von 5.525 DM berücksichtigt. Zum 31.12.2003 wurde durch den Bescheid vom 11.02.2004
ein verbleibender Verlustvortrag in Höhe von 978 € festgestellt. Der zum 31.12.2004 verbliebene Verlustvortrag
wurde durch den Bescheid vom 23.03.2005 in Höhe von 0 € festgestellt.
Mit Schreiben vom 11.08.2009 beantragte die Klägerin die Verlustfeststellungen für die Jahre 1999 bis 2001.
Sie erklärte für 1999 bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Werbungskosten in Höhe von 29.287
DM, für 2000 in Höhe von 52.909 DM und für 2001 in Höhe von 25.050 DM.
Die erklärten Werbungskosten setzten sich insbesondere aus Aufwendungen für eine doppelte
Haushaltsführung, Umzüge, Fahrtkosten zwischen Wohnung und Bildungsstätte, Fortbildungs- bzw.
Dienstreisen und Arbeitsmittel zusammen. Auf die entsprechenden Erklärungen und Belege wird verwiesen.
Diesen Antrag auf Verlustfeststellung für die Jahre 1999 bis 2001 lehnte der Beklagte unter Hinweis auf die
eingetretene Festsetzungsverjährung durch Bescheid vom 24.08.2009 ab.
Hiergegen legte die Klägerin am 14.09.2009 Einspruch ein. Durch Einspruchsentscheidung vom 15.02.2011
wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück.
Am 17.03.2011 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG sei
verfassungswidrig, denn diese Regelung führe dazu, dass Verluste, die in den Streitjahren 1999 bis 2001
entstanden seien, rückwirkend verloren gingen. Die Regelung greife damit in unzulässiger Weise in
abgeschlossene Zeiträume ein, so dass es sich um eine unzulässige Rückwirkung handele. Denn
entscheidend sei nicht, wann der Antrag auf Verlustfeststellung gestellt worden sei, sondern wann die Verluste
entstanden seien. Dieses sei bereits in den Jahren 1999, 2000 und 2001 gewesen. Vor der Einführung dieser
gesetzlichen Regelung sei es möglich gewesen, die Verlustfeststellungen nahezu unbegrenzt durchzuführen,
denn gem. § 181 Abs. 5 Abgabenordnung (AO) habe eine Feststellung noch so lange durchgeführt werden
können, wie die gesonderte Feststellung für eine Steuerfestsetzung von Bedeutung gewesen sei. Da die drei
begehrten Feststellungen noch für den Einkommensteuerbescheid 2004 von Bedeutung seien, wäre nach der
alten Rechtslage die Verlustfeststellung möglich gewesen. Die Klägerin sei auch schutzbedürftig, denn es
entspreche dem Gebot der Leistungsfähigkeit, dass entstandene Verluste berücksichtigt werden müssten. In
diesem Zusammenhang verweist die Klägerin auf den Aufsatz von Kube, Die intertemporale
Verlustverrechnung zur Einbeziehung von Altverlusten in eine Neuregelung, DStR 2011, 1829. Da die erklärten
Verluste spätestens 2005 verbraucht sein müssten, könnten keine besonderen Gemeinwohlinteressen an der
gesetzlichen Rückwirkung bestehen. Dies sei auch daran zu erkennen, dass für die Jahre vor 1999 noch eine
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Verlustfeststellung möglich gewesen sei.
Entscheidend für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung sei, ob die Rechtsposition, die der
Steuerpflichtige vor der Neuregelung gehabt habe, durch die Gesetzesänderung entwertet worden sei. Dies sei
im Streitfall der Fall gewesen, denn nach der jahrzehntelangen und gefestigten Rechtsprechung habe die
Anwendbarkeit des § 181 Abs. 5 AO dazu geführt, dass die Verlustfeststellung gem. § 10d EStG auch noch
nach Ablauf der Feststellungsfrist möglich gewesen sei. § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG habe diese Rechtslage
praktisch ausgehebelt und auch für bereits abgeschlossene Veranlagungszeiträume geändert. Unter den
Gesichtspunkten von Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit liege eine unzulässige unechte Rückwirkung
vor.
Es könne auch nicht argumentiert werden, dass die Frist für die Geltendmachung nur für die Zukunft abgekürzt
worden sei, denn die alte Regelung habe gerade fristverlängernd gewirkt, so dass deren Abschaffung
automatisch fristverkürzend sei. Die Möglichkeit der Verlustfeststellung über die reguläre Feststellungsfrist
hinaus sei der Klägerin genommen worden. Eine Rückwirkung könne deshalb gerade nicht ausgeschlossen
werden. Dies sei insbesondere daran ersichtlich, dass eine andere Vorschrift, § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG, welche
ebenfalls durch das Jahressteuergesetz 2007 eingeführt worden sei, nach der Rechtsprechung anderer
Finanzgerichte eine unzulässige echte Rückwirkung beinhalte (FG Köln 10 K 6227/04, Vorlagebeschluss vom
28.11.2007, EFG 2008, 860), da der Lebenssachverhalt der Erzielung von negativen Einkünften in den
vergangenen Veranlagungszeiträumen längst abgeschlossen worden sei. Dies gelte auch für die hier streitige
Norm. Insofern müsse gegebenenfalls sogar von einer echten Rückwirkung ausgegangen werden. Auch das
Finanzgericht München habe in seinem Beschluss vom 14.08.2007 (5 V 1558/07) verfassungsrechtliche
Bedenken an § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG geäußert.
Es könne auch nicht argumentiert werden, dass der BFH die streitige Vorschrift § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG
bisher angewandt habe, ohne diese verfassungsrechtlich zu problematisieren, denn bei den vom BFH
entschiedenen Fällen habe sich das Problem der Verfassungswidrigkeit nicht gestellt, da kein Anlass
bestanden habe, zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit Stellung zu nehmen.
Die streitige Rechtsfrage habe grundsätzliche Bedeutung, da allein der Klägervertreter mehr als 50
vergleichbare Fälle bundesweit betreue.
Die von ihr, der Klägerin, erklärten Verluste seien auch in voller Höhe zu berücksichtigen, denn sie habe alle
Werbungskosten zumindest glaubhaft gemacht.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 24.08.2009 und der
Einspruchsentscheidung vom 15.02.2011 zu verpflichten, den verbleibenden Verlustvortrag zur
Einkommensteuer
zum 31.12.1999 auf 23.762 DM,
zum 31.12.2000 auf 76.671 DM und
zum 31.12.2001 auf 101.721 DM
festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verweist zur Begründung auf seine Einspruchsentscheidung vom 15.02.2011 und trägt ergänzend
vor, dass es kein Problem mit der Rückwirkung geben könne, da zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung noch
für keines der Jahre Festsetzungsverjährung eingetreten sei und somit die Verlustfeststellung noch hätte
beantragt werden können.
Außerdem trägt er vor, dass für den Fall, dass das Gericht nicht von einer Feststellungsverjährung ausgehe,
auch nicht alle erklärten Werbungskosten zu berücksichtigen seien. Denn die Klägerin habe nicht alle
notwendigen Belege eingereicht. Zudem könne sie nur für einen Zeitraum von drei Monaten eine doppelte
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Haushaltsführung geltend machen, da sie nicht über einen eigenen Hausstand verfügt habe. Es seien deshalb
im Jahr 1999 lediglich 15.461 DM, im Jahr 2000 37.096 DM und in 2001 18.771 DM der Höhe nach
berücksichtigungsfähig.
Auf die Sitzungsprotokolle des Erörterungstermins vom 14.08.2012 und der mündlichen Verhandlung vom
18.02.2013 wird verwiesen.
Dem Gericht haben die Einkommensteuerakten und die Rechtsbehelfsakten zu der Steuernummer .../.../...
vorgelegen.
Entscheidungsgründe
I.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Ablehnung des Beklagten die Verlustfeststellungsbescheide zu
erlassen, war rechtmäßig und verletzte die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 101 Finanzgerichtsordnung
(FGO). Der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, für die Jahre 1999, 2000 und 2001
Verlustfeststellungsbescheide gem. § 10d EStG zu erlassen, denn für diese Jahre war bereits
Feststellungsverjährung eingetreten.
1. Nach § 10d Abs. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes i. d. F. der Streitjahre (EStG) ist der am Schluss
eines Veranlagungszeitraums verbleibende Verlustabzug gesondert festzustellen. Die Feststellung des
Verlustvortrags unterliegt gemäß § 181 Abs. 1 i. V. m. den §§ 169, 170 AO der Feststellungsverjährung. Da für
die Verlustfeststellung eine allgemeine Erklärungspflicht nach § 181 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 AO
besteht, ist die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu beachten. Dies gilt auch in den Fällen,
in denen keine Erklärungspflicht für die Einkommensteuer besteht und die Antragsfrist bereits abgelaufen war
(§ 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG; vgl. Bundesfinanzhof (BFH)-Urteil vom 10.07.2008 IX R 90/07, BStBl II 2009, 816).
Die Klägerin hat für die Streitjahre zunächst keine Erklärungen für die gesonderte Feststellung nach § 10d Abs.
4 EStG abgegeben, so dass sich der Beginn der Festsetzungsfrist gem. § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO bestimmt.
Gemäß dieser Vorschrift beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das
Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist.
Für die Verlustfeststellung 1999 begann damit die Feststellungsfrist mit Ablauf des 31.12.2002. Die vierjährige
Feststellungsfrist des § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO endete mit Ablauf des 31.12.2006. Für die Verlustfeststellung
2000 endete sie entsprechend mit Ablauf des 31.12.2007 und für 2001 mit Ablauf des 31.12.2008. Der Antrag
der Klägerin vom 11.08.2009, die Verlustfeststellungen für die Jahre 1999, 2000 und 2001 durchzuführen, ist
damit erst nach Eintritt der Festsetzungsverjährung gestellt worden.
2. Die gesonderte Feststellung ist auch nicht nach § 181 Abs. 5 AO zulässig. Hiernach kann eine gesonderte
Feststellung auch nach Ablauf der für sie geltenden Feststellungsfrist erfolgen, soweit die Feststellung für eine
Steuerfestsetzung von Bedeutung ist, für die die Festsetzungsfrist im Zeitpunkt der gesonderten Feststellung
noch nicht abgelaufen ist. Denn nach § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG ist § 181 Abs. 5 AO nur anzuwenden, wenn
die zuständige Finanzbehörde die Feststellung des Verlustabzugs pflichtwidrig unterlassen hat.
a) § 10d Abs. 4 Satz 6 gilt gem. § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG i. d. F. des Jahressteuergesetzes (JStG) 2007 für
alle bei Inkrafttreten des JStG 2007 noch nicht abgelaufenen Feststellungsfristen. Das JStG 2007 ist am
19.12.2006 in Kraft getreten.
b) Die Feststellungsfristen für die Streitjahre waren am 19.12.2006 noch nicht abgelaufen, so dass § 10d Abs.
4 Satz 6 EStG anwendbar ist. Auch ist unstreitig, dass kein pflichtwidriges Unterlassen der gesonderten
Verlustfeststellung vor Ablauf der Feststellungsfrist vorliegt.
3. Entgegen der Ansicht der Klägerin verstoßen § 10d Abs. 4 Satz 6 und § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG i. d. F. des
JStG 2007 auch nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) abgeleitete
Rückwirkungsverbot.
a) Ändert der Gesetzgeber zulasten des Steuerpflichtigen die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen
Verhaltens nachträglich, bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den
Grundrechten des Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte geschaffen wurden. Denn die Grundrechte
wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren die Verlässlichkeit der Rechtsordnung. Dürfte die öffentliche
Gewalt an das Verhalten des Steuerpflichtigen oder an ihn betreffende Umstände ohne weiteres im Nachhinein
belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten, würde
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dieser in seiner Freiheit erheblich gefährdet.
Eine "echte" Rückwirkung, also eine Rückbewirkung von belastenden Rechtsfolgen auf Tatbestände, die
bereits vor dem Zeitpunkt der Normverkündung abgeschlossen sind, ist grundsätzlich verfassungsrechtlich
unzulässig. Denn bis zur Verkündung der Rechtsnorm, zumindest aber bis zum endgültigen
Gesetzesbeschluss, muss der Steuerpflichtige grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf
geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen
Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird.
Nicht grundsätzlich unzulässig ist hingegen eine "unechte" Rückwirkung, in deren Rahmen die belastenden
Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, jedoch tatbestandlich von einem bereits ins
Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden ("tatbestandliche Rückanknüpfung"). Soweit nicht besondere
Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde
zukünftig unverändert fortbestehen, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (BVerfG-Beschluss
vom 07.07.2010 2 BvL 14/02, BGBl I 2010, 1296).
b) Im Streitfall ist durch das Inkrafttreten des Jahressteuergesetzes (JStG) 2007 vom 13. Dezember 2006
(BGBl I 2006, 2878) am 19.12.2006 (§ 52 Abs. 25 S. 5 EStG) keine rückwirkende Regelung eingetreten, denn
die Klägerin hätte auch noch nach Inkrafttreten der neuen Regelung die Verlustfeststellung beantragen können,
weil die Neureglung nur auf noch nicht feststellungsverjährte Zeiträume anzuwenden war. Die
Feststellungsverjährung aufgrund der Neuregelung des § 10d Abs. 4 S. 6 EStG ist erst mit Ablauf des
31.12.2006 für das Jahr 1999 und entsprechend später (31.12.2007 und 31.12.2008) für die Folgejahre
eingetreten. Durch die Neuregelung ist auch nicht der materiell entstandene Verlust selbst gekürzt bzw. die
Berechtigung, diesen Verlust zu nutzen, eingeschränkt worden, sondern es wurde lediglich die Möglichkeit
ausgeschlossen, die Verluste auch noch nach Ablauf der regulären Feststellungsverjährung feststellen zu
lassen. Die Neuregelung stellt damit lediglich eine Verfahrensvorschrift mit Wirkung für die Zukunft dar.
Insofern beruft sich die Klägerin auch zu Unrecht auf den Aufsatz von Kube. Auch der von der Klägerin zitierte
Vorlagebeschluss des FG Köln vom 28.11.2007 (10 K 6227/04, EFG 2008, 860) ist nicht auf den Streitfall
übertragbar, denn in dem dort entscheidungsrelevanten Sachverhalt war die Antragsfrist durch die Einführung
der Neuregelung des § 46 EStG bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes abgelaufen. Der
Steuerpflichtige hatte also gerade keine Möglichkeit mehr, auf die neue Gesetzeslage zu reagieren.
4. Es war auch verfassungskonform, dass der Gesetzgeber die Vorschrift eingefügt hat, um auf die
Rechtsprechung des BFH zu reagieren. Denn nach den Entscheidungen des Bundesfinanzhofs bestand die
Verpflichtung zum Erlass eines Verlustfeststellungsbescheids zeitlich unbegrenzt, da nach § 181 Abs. 5 AO
trotz des Ablaufs der Feststellungsfrist eine Feststellung zeitlich unbegrenzt möglich war und die Regeln des §
10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG nicht eingriffen.
a) Der BFH hatte mit seinen Urteilen vom 01.03.2006 (XI R 33/04) und vom 12.06.2002 (XI R 26/01, BStBl
2002 II S. 681) entschieden, dass auf die Feststellung des Verlustvortrags § 181 Abs. 5 AO anzuwenden sei.
Nach dieser Vorschrift kann eine Feststellung auch nach Ablauf der für sie geltenden Feststellungsfrist
erfolgen, wenn sie für eine Steuerfestsetzung von Bedeutung ist, für die die Festsetzungsfrist im Zeitpunkt der
Feststellung noch nicht abgelaufen ist. Entsprechendes gilt, wenn die Feststellung einen Grundlagenbescheid
für einen anderen Feststellungsbescheid darstellt. Diese Voraussetzungen lagen nach den Entscheidungen des
BFH bei der Feststellung des Verlustvortrags vor. Entweder werden die Verluste im unmittelbar darauf
folgenden Veranlagungszeitraum abgezogen und haben somit einen Einfluss auf die Steuerfestsetzung, oder
sie wirken sich auf die nachfolgende Verlustfeststellung aus. Diese Rechtsprechung führte letztlich dazu, dass
bei der Verlustfeststellung des § 10d Abs. 4 EStG die Feststellung zeitlich unbegrenzt möglich war.
Zwar ist eine Verlustfeststellung nach § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG nur durchzuführen, soweit sich die für
den Verlustvortrag maßgeblichen Beträge ändern und der entsprechende Einkommensteuerbescheid noch zu
erlassen, aufzuheben oder zu korrigieren ist, oder diese Folgerungen mangels steuerlicher Auswirkungen
unterbleiben. Der BFH ging in dem Urteil vom 01. März 2006 (XI R 33/04) aber davon aus, dass diese
Vorschriften nur eingreifen, wenn sich die Bezugsgröße für die Bemessung des Verlustvortrags - also der
Gesamtbetrag der Einkünfte - ändert. Nach diesem Urteil soll § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG Widersprüche
zwischen der Steuerfestsetzung und dem Feststellungsbescheid verhindern. Liegt für das
Verlustentstehungsjahr kein Einkommensteuerbescheid vor und kann dieser auch nicht mehr erlassen werden,
weil die für Steuerbescheide geltende Festsetzungsverjährung eingetreten ist, konnten solche Widersprüche
nicht entstehen. Entsprechendes gilt, wenn der Einkommensteuerbescheid nicht mehr ergehen konnte, weil die
zweijährige Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG abgelaufen war. Wurde in derartigen Fällen später
erstmals die Feststellung eines verbleibenden Verlustes geltend gemacht, blieb nach den genannten
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Entscheidungen des Bundesfinanzhofs die Verpflichtung zum Erlass eines Verlustfeststellungsbescheids
zeitlich unbegrenzt bestehen.
b) Der Gesetzgeber war der Ansicht, dass dieses Ergebnis nicht mit dem bei der Einführung der
Verlustfeststellung verfolgten Ziel einer zeitnahen Entscheidung über die Höhe des Verlustabzugs vereinbar
sei, und entschloss sich deshalb, § 181 Abs. 5 AO in § 10d Abs. 4 EStG ausdrücklich auszuschließen, um zu
erreichen, dass Verlustfeststellungsbescheide grundsätzlich nur innerhalb der auch für
Einkommensteuerbescheide geltenden allgemeinen Verjährungsfrist (regelmäßig sieben Jahre, § 181 Abs. 1 i.
V. m. den §§ 169, 170 AO) ergehen können (BT-DS 16/2712, Seite 43 f.). Dieses Ziel war verfassungsrechtlich
unbedenklich; auch hat der Gesetzgeber sich zu Recht dafür entschieden, diese Neuregelung nur auf die noch
nicht verjährten Jahre zu beschränken.
c) § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG führt auch nicht zu einem Verstoß gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip, denn
durch diese Regelung wird es dem Steuerpflichtigen nicht verwehrt, seine Verluste feststellen zu lassen,
sondern es wird lediglich sichergestellt, dass diese Verlustfeststellung innerhalb von sieben Jahren erfolgt.
Insofern beruft sich die Klägerin auch zu Unrecht auf den Aufsatz von Kube. Zwar vertritt dieser die Ansicht,
dass es für die rechtliche Beurteilung, ob eine unzulässige Rückwirkung vorliege, nicht darauf ankomme, ob
bereits Verlustfeststellungsbescheide ergangen seien. Allerdings kann man hieraus nicht herleiten, dass diese
Verluste auch noch unendlich festgestellt werden können.
d) Der BFH hat in seinen bisherigen Entscheidungen ebenfalls keine Bedenken an der Verfassungswidrigkeit
geäußert. In seinem Urteil vom 25.05.2011 IX R 36/10 (BFH/NV 2011, 1552) hat er die Vorschrift angewandt,
ohne sich mit einer etwaigen Verfassungswidrigkeit zu befassen. Auch in seiner Entscheidung vom 29.06.2011
IX R 38/10 (BStBl. II 2011, 963) thematisiert er die Verfassungswidrigkeit nicht. Sofern die Klägerin vorträgt,
dass der BFH sich in diesen Entscheidungen nicht mit der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift habe
auseinandersetzen müssen, weil diese Frage von den dortigen Beteiligten nicht thematisiert worden sei, kann
dies nicht überzeugen, denn die Frage der Verfassungsmäßigkeit prüft das Gericht von Amts wegen. Hätte der
BFH Bedenken wegen der Verfassungsgemäßheit gehabt, hätte er die Revision in der Sache IX R 36/10 nicht
als unbegründet zurückweisen dürfen. Die vom Finanzgericht München in seinem Beschluss vom 14.08.2007 5
V 1558/07 geäußerten Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit des 10d Abs. 4 Satz 6 EStG können nicht
nachvollzogen werden, zumal Streitjahr in der dortigen Entscheidung das Jahr 1996 gewesen ist, für welches
die Regelung des § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG noch nicht zur Anwendung gelangen konnte.
e) Selbst wenn man aber vor einer Rückwirkung ausgehen würde, wäre diese ausnahmsweise zulässig. Eine
echte Rückwirkung scheidet nach Ansicht des Senats aus, denn durch die Neuregelung wird weder die
Möglichkeit, Verluste zu erklären, noch diese in späteren Jahren zu berücksichtigen, eingeschränkt. Insofern
wird auch nicht auf einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalt eingewirkt. Die Anforderungen,
welche an die Zulässigkeit einer echten Rückwirkung gestellt werden, sind höher als die Anforderungen an eine
unechte Rückwirkung. Selbst eine echte Rückwirkung wäre jedoch im Streitfall zulässig gewesen. Zwar hat
regelmäßig der Vertrauensschutz des Bürgers bei einer echten Rückwirkung Vorrang, weil der in der
Vergangenheit liegende Sachverhalt mit dem Eintritt der Rechtsfolge kraft gesetzlicher Anordnung einen Grad
an Abgeschlossenheit erreicht hat, über den sich der Gesetzgeber vorbehaltlich besonders schwerwiegender
Gründe nicht mehr hinwegsetzen darf (BVerfG Beschlüsse vom 07.07.2010 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL
13/05, BverfGE 127, 1; 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BVerfGE 127, 61). Das Vertrauen des
Bürgers in den Fortbestand von Regelungen, die einmal für schon abgewickelte Tatbestände gefunden worden
sind, schließt eine nachträgliche Verschlechterung der Rechtslage prinzipiell aus. Dieser Grundsatz, wonach
Gesetze mit einer echten Rückwirkung verfassungsrechtlich unzulässig sind, kann jedoch ausnahmsweise
durchbrochen werden, wenn zwingende Gründe des gemeinen Wohls oder ein nicht - oder nicht mehr -
vorhandenes schutzbedürftiges Vertrauen des Einzelnen eine Durchbrechung des rechtsstaatlichen
Rückwirkungsverbots zugunsten der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers rechtfertigen oder gar erfordern
können (BVerfG Beschluss vom 14.05.1986 2 BvL 2/83, BVerfGE 72, 200 (258)). Das BVerfG hat
diesbezüglich - ohne dass dies abschließend wäre - Fallgruppen entwickelt, bei deren Vorliegen von einer
ausnahmsweise zulässigen echten Rückwirkung auszugehen ist. Ein solcher Fall ist u. a. gegeben, wenn sich
kein schützenswertes Vertrauen des Bürgers auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte, weil die
Rechtslage unklar und verworren oder lückenhaft war und durch eine eindeutige Regelung ersetzt wird (BVerfG
Entscheidungen vom 19.12.1961 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (272); vom 23.03.1971 2 BvL 2/66, 2 BvR
168/66, 2 BvR 196/66, 2 BvR 197/66, 2 BvR 210/66, 2 BvR 472/66, BVerfGE 30, 367 (388 f.);
Nichtannahmebeschluss vom 15.10.2008 1 BvR 1138/06, juris, Rn. 14). Ein solcher zulässiger Ausnahmefall
wird ebenfalls bejaht, wenn eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung zu einer bestimmten
Steuerrechtsfrage nach Änderung der Rechtsanwendungspraxis rückwirkend gesetzlich festgeschrieben wird
(BVerfG-Beschlüsse vom 23.01.1990 1 BvL 4/87, 1 BvL 5/87, 1 BvL 6/87, 1 BvL 7/87, BVerfGE 81, 228; vom
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15.10.2008 1 BvR 1138/06, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts --BVerfGK-- 14, 338, und
vom 21. Juli 2010 1 BvL 11/06, 1 BvL 12/06, 1 BvL 13/06, 1 BvR 2530/05, BVerfGE 126, 369; BFH Urteil vom
19.04.2012 VI R 74/10, BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577).
Ein solcher Fall liegt hier vor. Gemessen hieran durfte der Gesetzgeber die Feststellungsfrist für
Verlustfeststellungsbescheide i. S. d. § 10d EStG regeln, die in der Vergangenheit liegende Sachverhalte
betrafen. Damit hat der Gesetzgeber die Rechtslage auch mit Wirkung für die Vergangenheit so geregelt, wie
sie bis zur Änderung der Rechtsprechung durch das Urteil des BFH vom 01.03.2006 (XI R 33/04) und damit
allgemeiner Rechtsanwendungspraxis auch auf Seiten der Steuerpflichtigen entsprach. Denn die Klägerin hätte
vor 2006 ebenfalls keinen Anspruch auf Verlustfeststellung gehabt. Erst durch das Urteil vom 01.03.2006 ergab
sich für die Klägerin die Möglichkeit, ihre Verluste für die Jahre 1998 bis 2003 geltend zu machen. Der
Gesetzgeber war jedoch befugt, auf die sich so ergebende Regelungslücke zu reagieren und eine Vorschrift zu
erlassen, die zur Wiedereinführung einer Verjährung führte.
Die Klägerin war auch nicht schutzbedürftig. Denn die Klägerin konnte innerhalb der kurzen Zeit zwischen
Rechtsprechungsänderung und Reaktion des Gesetzgebers kein Vertrauen darauf aufbauen, dass die
geänderte Rechtsprechung unendlich fortbestehen würde. Sie hat auch keine Vermögensdispositionen wegen
der Rechtsprechungsänderung getroffen. Tatsächlich hat sie die Geltendmachung von Verlusten noch nicht
erwogen, da sie anderenfalls durch eine Beantragung der Verlustfeststellung bis zum 31.12.2006 noch die
begehrten Bescheide hätte erhalten können. Wie der BFH bereits in seiner Entscheidung vom 29.02.2012 IX R
3/11 festgestellt hat, hätte ein gewissenhaft handelnder Verfahrensbeteiligter seine Studienaufwendungen
rechtzeitig geltend gemacht (vgl. BFH-Urteil vom 29.02.2012 IX R 3/11, BFH/NV 2012, 915), da die Rechtslage
schon ab dem Jahr 2002 im Schrifttum mit Blick auf die (geänderte) BFH-Rechtsprechung zu Aufwendungen
im Zusammenhang mit berufsbegleitenden erstmaligen Hochschulstudien (vgl. die Urteile vom 04.12 2002 VI R
120/01, BFHE 201, 156, BStBl II 2003, 403; vom 17.12.2002 VI R 137/01, BFHE 201, 211, BStBl II 2003, 407,
und vom 22.07.2003 VI R 50/02, BFHE 202, 563, BStBl II 2004, 889) kontrovers erörtert worden ist.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision
gem. § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.