Urteil des FG Hamburg vom 14.06.2012

FG Hamburg: krankheitskosten, belastungsgrenze, existenzminimum, sammlung, steuerrecht, unternehmen, einverständnis, einkünfte, gleichstellung, einspruch

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Krankheitskosten: Berücksichtigung der zumutbaren Belastung ist verfassungsgemäß
Die Regelung über die zumutbare Belastung ist auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung
des BVerfG zur Abzugsfähigkeit von Krankenversicherungsbeiträgen verfassungsgemäß.
NZB, Az.: VI B 116/12
FG Hamburg 1. Senat, Urteil vom 14.06.2012, 1 K 28/12
§ 33 Abs 1 EStG, § 33 Abs 3 EStG
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob Aufwendungen für die Praxisgebühr und Zuzahlungen zu
Medikamenten als außergewöhnliche Belastung ohne Berücksichtigung einer zumutbaren Belastung
anzusetzen sind.
Die Kläger leisteten im Jahr 2010 sogenannte Praxisgebühren in Höhe von insgesamt 120 € sowie
Zuzahlungen zu Medikamenten in Höhe von insgesamt 52 €. Der Gesamtbetrag der Einkünfte der
zusammenveranlagten Kläger, die im Streitjahr keine Kinder hatten, belief sich auf 35.708 €.
Der Beklagte erließ am 25.07.2011 einen Einkommensteuerbescheid für 2010, in dem sich die geltend
gemachten Aufwendungen als außergewöhnliche Belastungen steuerlich nicht auswirkten, da sie die
zumutbare Belastung (5 % von 35.708 €) nicht überstiegen. Hiergegen legten die Kläger am 18.08.2011
Einspruch ein, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 29.12.2011 zurückwies.
Am 02.02.2012 erhoben die Kläger Klage. Sie sind der Auffassung, die geltend gemachten Aufwendungen
seien steuerlich in voller Höhe zu berücksichtigen. Die Zuzahlungen gehörten zu der Krankenversorgung der
Kläger, die aus verfassungsrechtlichen Gründen freizustellen sei. Die Zuzahlungen dienten einer Versorgung
auf Sozialhilfeniveau, was dazu führe, dass sich die Zuzahlungen in voller Höhe steuermindernd auswirken
müssten.
Die Kläger beantragen,
den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 25.07.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom
29.12.2011 in der Weise zu ändern, dass 172 € als außergewöhnliche Belastung ohne Anrechnung
einer zumutbaren Belastung berücksichtigt werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, die Regelung zur Berücksichtigung einer zumutbaren Belastung auch bei den
Aufwendungen, die die Kläger geltend machen, sei verfassungsgemäß.
Die Kläger haben mit Schriftsatz vom 04.05.2012 und der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 09.05.2012 auf
eine mündliche Verhandlung verzichtet.
Dem Gericht hat ein Hefter ESt-Akten des Finanzamtes Hamburg-1 zur Steuernummer .../.../... vorgelegen.
Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
I.
Das Gericht entscheidet gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) mit Einverständnis der
Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.
II.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Einkommensteuerbescheid 2010 vom 25.07.2011 in Gestalt der
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Einkommensteuerbescheid 2010 vom 25.07.2011 in Gestalt der
Einspruchsentscheidung vom 29.12.2011 ist rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
1. Die geltend gemachten Aufwendungen sind außergewöhnliche Belastungen im Sinne des § 33 Abs. 1, Abs.
2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Die sogenannte Praxisgebühr (Zuzahlung gemäß §§ 28 Abs.
4 Satz 1, 61 Satz 2 des Sozialgesetzbuches [SGB] - Fünftes Buch [V] - Gesetzliche Krankenversicherung)
und die Zuzahlungen zu Arzneimitteln (§§ 31 Abs. 3 Satz 1, 61 Satz 1 SGB V) gehören als Abgaben sui
generis, die der Eigenbeteiligung der Versicherten an den Krankheitskosten dienen, zu den Krankheitskosten,
die als außergewöhnliche Belastungen geltend zu machen sind. Die Zuzahlungen sind keine - versteckten -
Krankenversicherungsbeiträge, die als Sonderausgaben geltend gemacht werden können, da die Zuzahlungen
erst bei tatsächlicher Inanspruchnahme zu leisten sind und nicht schon - wie Krankenversicherungsbeiträge -
für die potentielle Inanspruchnahme einer Einrichtung erhoben werden (vergleiche - vgl. - Finanzgericht - FG -
Baden-Württemberg, Urteil vom 30.03.2011, 4 K 1053/09, juris, mit weiteren Nachweisen - m. w. N. -,
insbesondere unter Hinweis auf Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 25.06.2009 B 3 KR 3/08 R,
Entscheidungen des BSG - BSGE - 103, 275).
Die geltend gemachten Aufwendungen wirken sich steuerlich nicht aus, da ihr Betrag nicht die zumutbare
Belastung gemäß § 33 Abs. 1 und Abs. 3 EStG übersteigt. Der Beklagte hat unstreitig die gesetzliche
Regelung zutreffend angewendet.
2. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass die Berücksichtigung einer zumutbaren Belastung bei
Aufwendungen für die sogenannte Praxisgebühr oder für Zuzahlungen zu Medikamenten verfassungswidrig ist.
Die Regelungen über die zumutbare Belastung sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs
(BFH) sowie des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verfassungsgemäß. Verfassungsrechtliche Bedenken
gegen den Ansatz einer zumutbaren Belastung nach § 33 Abs. 3 EStG bestehen nach Auffassung des BFH
nicht, soweit dem Steuerpflichtigen wie im Streitfall ein verfügbares Einkommen verbleibt, das über dem
Existenzminimum liegt (BFH-Urteil vom 24.06.2004 III R 141/95 Sammlung der Entscheidungen des BFH -
BFH/NV - 2004, 1635 m. w. N.). Diese Einschätzung hat das BVerfG geteilt (BVerfG-Beschluss vom
29.10.1987 1 BvR 672/87, Der Betrieb - DB - 1988, 368; vgl. auch BVerfG-Beschluss vom 14.03.1997, 2 BvR
861/92, Die Information über Steuer und Wirtschaft - Information StW - 1997, 543).
Soweit die Kläger meinen, dass nach der Entscheidung des BVerfG zur Abzugsfähigkeit der Beiträge zur
Kranken- und Pflegeversicherung (BVerfG-Beschluss vom 13.02.2008 2 BvL 1/06, Entscheidungen des
BVerfG - BVerfGE - 120, 125) die Aufwendungen für die sogenannte Praxisgebühr und die Zuzahlungen ohne
eine zumutbare Belastung zu berücksichtigen sind, überzeugt dies den Senat nicht. Der Senat schließt sich
der Auffassung des Niedersächsischen FG an, dass eine zumutbare Belastung auch bei Krankheitskosten zu
berücksichtigen ist (Niedersächsisches FG, Urteil vom 07.12.2011, 2 K 19/11, juris). Denn die hier in Rede
stehenden Zuzahlungen gehören zu den Krankheitskosten, die nicht zu einer dem Sozialhilfeniveau
entsprechenden Krankenversorgung gehören. Mit den Zuzahlungen sollen alle Versicherten eine angemessene
Beteiligung an ihren Krankheitskosten tragen. Lediglich die in § 62 SGB V normierte Belastungsgrenze nimmt
Rücksicht auf soziale Belange und schützt vor unzumutbaren finanziellen Belastungen, indem die Versicherten
von Zuzahlungen bei Überschreiten der Belastungsgrenze zu befreien sind. Dabei enthalten § 62 Abs. 2 Sätze
5 und 6 SGB V zwar besondere Bestimmungen zur Berechnung des maßgebenden Bruttoeinkommens der
Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII bzw. der Empfänger von Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach SGB II (vgl. auch BSG-Urteil vom 25.06.2009 B 3 KR 3/08 R, BSGE 103, 275).
Diese Bestimmungen gehen jedoch grundsätzlich davon aus, dass auch diese Versicherten Zuzahlungen zu
leisten haben. Da bei den Klägern die entsprechende sozialhilferechtliche Belastungsgrenze nicht erreicht ist
und den Klägern ein über dem Existenzminimum liegendes verfügbares Einkommen verbleibt, ist ein Absehen
von der zumutbaren Belastung in steuerlicher Hinsicht verfassungsrechtlich nicht geboten.
Soweit die Kläger sich auf Stimmen in der Literatur berufen, wonach die Kürzung einer zumutbaren Belastung
bei den Krankheitskosten der Rechtsprechung des BVerfG widerspreche (vgl. z. B. Haupt, Deutsches
Steuerrecht - DStR - 2010, 960; Karrenbrock/Petrak, DStR 2011, 552), folgt der Senat dem aus den eben
genannten Gründen nicht (vgl. auch schon Kanzler, in Herrmann/Heuer/Raupach, § 33 EStG Anm. 216 mit
Nachweisen zu früheren kritischen Literaturstimmen).
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht vorliegen.