Urteil des FG Hamburg vom 16.08.2013

FG Hamburg: olaf, taiwan, china, ablauf der frist, ware, eugh, verordnung, rechtliches gehör, angemessene frist, unternehmen

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Finanzgerichtliches Verfahrensrecht, Zollrecht: Zulässigkeit einer "Untätigkeitsklage" gegen
einen ins Blaue hinein erlassenen Nacherhebungsbescheid über Antidumpingzoll
1. Erlässt die Zollbehörde kurz vor Ablauf der Festsetzungsfrist einen Nacherhebungsbescheid über
Antidumpingzoll ohne tragfähige Tatsachengrundlage und auf Grundlage einer unzutreffenden
Rechtsansicht und beginnt sie erst im Einspruchsverfahren mit den erforderlichen Ermittlungen, ist eine
Klage gemäß § 46 FGO auch ohne beendetes Vorverfahren zulässig.
2. Wird Antidumpingzoll nacherhoben, so trägt die Zollverwaltung die Beweislast dafür, dass die
eingeführte Ware ihren Ursprung in dem mit Antidumpingzoll belegtem Land hat und die Bearbeitung, die
in dem Land stattgefunden hat, das in der Zollanmeldung als Ursprungsland angegeben ist, nicht
ursprungsbegründend war.
FG Hamburg 4. Senat, Urteil vom 16.08.2013, 4 K 93/12
46/1 FGO, 220/1 ZK, 24 ZK, 25 ZK
Tatbestand
(Überlassen von Datev)
Gegenstand des Rechtsstreits ist ein Nacherhebungsbescheid über Antidumpingzoll, den der Beklagte mit
der Begründung erlassen hat, der zollrechtliche Ursprung des von der Klägerin eingeführten Siliziums sei die
Volksrepublik (VR) China.
I.
Beide Beteiligte nehmen Bezug auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom
11.02.2010 in der Rechtssache C-373/08 ("Hoesch Metals and Alloys GmbH"). In diesem Urteil hat der EuGH
entschieden, das Separieren, Zerkleinern und Reinigen von Siliziumblöcken sowie das anschließende Sieben,
Sortieren und Verpacken der durch das Zerkleinern entstandenen Siliziumkörner stelle im Ausgangsverfahren
keine ursprungsbegründende Be- oder Verarbeitung im Sinne von Art. 24 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92
des Rates vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Zollkodex - ZK -) dar.
Allerdings könne das Reinigen oder Zerkleinern eines Erzeugnisses, auch wenn es dabei nicht zu einem
Wechsel seiner Tarifunterposition komme, ursprungsbegründend sein, sofern das Reinigen auf einer
Herstellungsstufe des Erzeugnisses erfolge, in deren Verlauf mindestens 80 % der bestehenden Unreinheiten
beseitigt würden oder wenn das Zerkleinern nicht ein bloßes Zerbrechen sei, sondern eine beabsichtigte und
kontrollierte Reduktion des Erzeugnisses in Partikel, die andere physikalische und chemische Eigenschaften
aufwiesen als das Vormaterial (Rz. 52 des genannten Urteils). Der EuGH ging davon aus, dass in seinem
Ausgangsverfahren keine der beiden Voraussetzungen vorgelegen haben.
II.
1.Die Klägerin überführte am 10.09.2008 bzw. 17.10.2008 drei Partien Silizium (Pos. 2804 6900 KN) in den
zollrechtlich freien Verkehr. Als - nichtpräferentielles - Ursprungsland gab sie Taiwan an. Lieferant der
Klägerin war das taiwanesische Unternehmen A Co. Ltd. (im Folgenden: A), dessen Vorlieferant das
taiwanesische Unternehmen B Co. Ltd. (im Folgenden: B) war.
2.Fast drei Jahre nach der Einfuhr erhob der Beklagte mit Einfuhrabgabenbescheid vom 05.09.2011
Antidumpingzoll in Höhe von insgesamt EUR 54.835 nach. Zur Begründung gab er an, dass Silizium habe,
seinen zollrechtlichen Ursprung in der VR China.
3.Hintergrund der Nacherhebung war ein Schreiben des Zollfahndungsamtes C - Dienstsitz D - vom
25.08.2011 an den Beklagten (Beklagten-Akte - BA - Heft I, Bl. 14 ff.), in dem auf beigefügte Mitteilungen des
Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) Bezug genommen wurde (jeweils unter dem
Aktenzeichen .../.../...: Mitteilungen vom 27.10.2010, BA Heft I Bl. 18-24; vom 07.03.2011, BA Heft I Bl. 25-
30; vom 09.08.2011, BA Heft I Bl. 31-41; Auszug aus einer Masterliste - BA Heft I Bl. 42-46).
In der ersten Mitteilung hieß es, der Verbindungsausschuss der Ferrolegierungsindustrie der Europäischen
Union (EU) habe OLAF mitgeteilt, dass seit 2007 große Mengen taiwanesischen Siliziums in die EU
eingeführt worden seien, obwohl in Taiwan kein Silizium hergestellt werde. Es bestehe der Verdacht, aus der
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VR China stammendes Silizium sei über Taiwan umgelenkt worden, um die Antidumpingzölle der EU für
Silizium aus der VR China zu umgehen. Separieren, Zerkleinern und Reinigen von Siliziumblöcken sei nicht
ursprungsbegründend. Mit seiner Mitteilung vom 09.08.2011 kündigte OLAF einen Bericht über eine noch
nicht abgeschlossene Untersuchung von in der Mitteilung einzeln aufgelisteten Fällen an, in denen Silizium
mit einem Ursprungszeugnis für Taiwan in die EU eingeführt worden sei. Die streitgegenständlichen Einfuhren
waren nicht auf dieser Liste.
Das Zollfahndungsamt C teilte dem Beklagten in seinem Schreiben u. a. mit, OLAF habe für 110 der
insgesamt 135 bekannten Lieferungen von B bzw. für 132 von 186 bekannten Lieferungen von A festgestellt,
dass es sich tatsächlich nicht um taiwanesische Ursprungsware gehandelt habe. Soweit die Ware in Taiwan
bearbeitet worden sei, habe es sich im Wesentlichen um Zerkleinern und Reinigen von aus der VR China
stammenden Siliziums gehandelt, was nach der Entscheidung des EuGH vom 27.03.2010 (C-373/08) keinen
taiwanesischen Ursprung begründe. Aufgrund der Gesamtumstände sei bis zum Abschluss der
Untersuchungen auch hinsichtlich der übrigen Lieferungen davon auszugehen, dass es sich bei ihnen um
Silizium aus der VR China gehandelt habe, das in Taiwan lediglich geringfügig und nicht
ursprungsbegründend bearbeitet worden sei. In Fällen, in denen Festsetzungsverjährung drohe, werde eine
Nacherhebung von Antidumpingzoll angeregt.
III.
Die Klägerin legte mit Telefaxschreiben vom 16.09.2011 Einspruch gegen den Nacherhebungsbescheid ein,
über den noch nicht entschieden worden ist. Zugleich stellte sie einen Antrag auf Erlass der Abgaben gemäß
Art. 236 und 239 ZK; der Bitte der Klägerin entsprechend ruhen diese Anträge derzeit.
Im Einspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, das streitgegenständliche Silizium sei nach ihrer
Kenntnis in Taiwan entsprechend der Entscheidung des EuGH vom 27.03.2010 ursprungsbegründend
bearbeitet worden, indem die Schlacke entfernt worden sei. In ihrer Begründung bezieht sich die Klägerin
auch auf ein von ihr vorgelegtes Verhandlungsprotokoll des FG E vom 01.12.2010 und die in ihm
festgehaltenen Feststellungen des dort gehörten Sachverständigen, denen das FG E in seinem sodann
erteilten Hinweis gefolgt sei. Aus den Feststellungen des Sachverständigen ergebe sich, dass die Entfernung
von Schlacke sehr wohl zu einem Ursprungswechsel des Siliziums führe. Das Silizium erhalte durch die
Bearbeitung eine wesentlich andere chemische Zusammensetzung und weise in weiteren Schmelzprozessen
ein wesentlich verändertes Verhalten auf. Mit Schreiben vom 06.10.2011 ergänzte die Klägerin ihr Vorbringen.
Sie verfüge über Ursprungszeugnisse ("certificate of origin") sowie über eine Bestätigung des taiwanesischen
Außenhandelsministeriums über deren Richtigkeit; diese Unterlagen könnten vorgelegt werden.
IV.
Die Klägerin hat am 25.05.2012 Klage erhoben.
Sie ist der Ansicht, die Klage sei auch ohne Abschluss des Vorverfahrens gemäß § 46 FGO zulässig. Der
Beklagte habe ohne zureichenden Grund keine Einspruchsentscheidung getroffen. Ein weiteres Zuwarten sei
ihr nicht zuzumuten. Sie sei außer vom Beklagten von weiteren Zollstellen in vergleichbaren Einfuhrfällen mit
einer Fülle von Nacherhebungen belastet worden. Die Einlegung von Rechtsmitteln hiergegen enthebe sie
nicht von der bilanzrechtlichen Pflicht, insoweit Rückstellungen zu bilden, die sie zunehmend in ihrer
wirtschaftlichen Existenz bedrohten. Der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig. Ausweislich der vorgelegen
"certificates of origin" und ihrer amtlichen Bestätigungen sei das eingeführte Silizium taiwanesischen
Ursprungs.
Die Klägerin vertritt die Ansicht, die Beweislast für einen zollrechtlichen Ursprung der Ware in der VR China
liege beim Beklagten. Dem Beklagten, der sich allein auf die Berichte von OLAF stütze, sei der Beweis nicht
gelungen. Es sei schon nicht unstrittig, dass sämtliches Silizium zunächst aus der VR China stamme. Die
Klägerin nimmt insoweit Bezug auf einen (dem Gericht nicht vorliegenden) Bericht von OLAF (über eine
Missionsreise vom 22. bis 27.05.2011, THOR (2011)18655,27/07/2011). OLAF habe auch keine
Anhaltspunkte dafür ermittelt, dass bei der Bearbeitung der streitgegenständlichen Ware in Taiwan weniger
als 80% ihrer Verunreinigungen entfernt worden seien. Deswegen sei es auch unzulässig, wenn OLAF die
Behauptung aufstelle, es habe keine ursprungsbegründende Bearbeitung stattgefunden. Denn nach dem 10.
Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für
Betrugsbekämpfung dürfe OLAF Schlussfolgerungen nur auf beweiskräftige Tatsachen stützen, die
vorliegend allerdings nicht existierten. Die Klägerin behauptet, dass durch die Entfernung der am Roh-Silizium
anhaftenden Schlacke das für metallurgische Zwecke bestimmte Silizium zu mehr als 80% gereinigt werde,
und trägt dazu näher vor.
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Die Klägerin ist der Ansicht, es sei nicht zulässig gewesen, dass der Beklagte den Nachforderungsbescheid
ohne Tatsachengrundlage vorsorglich wegen drohender Festsetzungsverjährung erlassen habe, und nimmt
insoweit Bezug auf die Dienstvorschriften der Bundesfinanzverwaltung (VSF-Nachrichten N 41 2004, S. 4).
Die Klägerin nimmt im Übrigen hilfsweise Vertrauensschutz nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b) ZK für sich in
Anspruch. Aufgrund der nun vorgelegen, von taiwanesischen Behörden bestätigten Ursprungszeugnisse,
habe die Klägerin auf den taiwanesischen Ursprung vertraut und vertrauen dürfen. Würden die Zeugnisse als
unzutreffend angesehen, so wären die taiwanesischen Behörden einem Irrtum unterlegen, der gemäß
Unterabsatz 1 der genannten Norm, die auch nichtpräferentielle Ursprungszeugnisse erfasse,
Vertrauensschutz zugunsten des Einführers begründe.
Die Klägerin beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 05.09.2011 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Der Beklagte wendet die Unzulässigkeit der Klage ein. Die Voraussetzungen des § 46 FGO seien nicht
erfüllt. Der Grund für das Ausbleiben der Einspruchsentscheidung liege darin, dass die Ermittlungen des
Sachverhalts zur Verifizierung des Einspruchsvorbringens vor Ort in Taiwan vorzunehmen und deswegen
sehr zeitaufwendig seien. Dieser Grund sei der Klägerin auch mitgeteilt worden. Der Beklagte habe alles in
seiner Macht stehende beigetragen, um den Fortgang des Verfahrens zu fördern. Es hätten zum Zeitpunkt
der Bekanntgabe des Nacherhebungsbescheids gewichtige Gründe dafür gesprochen, dass das Silizium, das
nach Ansicht des Beklagten unstrittig zunächst aus der VR China nach Taiwan eingeführt worden sei, in
Taiwan nicht ursprungsbegründend bearbeitet worden sei. Diese Gründe bestünden fort. Zwar habe der
Lieferant der Klägerin, B, angegeben, Silizium in einem Verfahren zu bearbeiten, das mehr als 80% der
Verunreinigungen entferne. Konkrete Angaben habe das Unternehmen unter Hinweis auf
Geheimhaltungsinteressen jedoch versagt. Auch ohne, dass bereits ein OLAF-Abschlussbericht vorliege,
gehe der Beklagte davon aus, OLAF habe beim Besuch des Betriebs der B im September 2012 feststellen
können, dass Silizium in der dort eingesetzten Anlage nur unwesentlich gereinigt werde. In verschiedenen
Produktionsschritten werde lediglich die Oberfläche des Siliziums zerstört und entfernt. Das Unternehmen
verfüge auch nicht über ein - in den von der Klägerin vorgelegten Herstellererklärungen allerdings als
Unterzeichner benanntes - "Quality Control Department", das eine chemische Kontrolle des Siliziums hätte
durchführen können. Unter Hinzuziehung einer unabhängigen niederländischen Chemikerin sei OLAF zu dem
Ergebnis gekommen, dass durch den insgesamt stattfindenden Reinigungsprozess weniger als 80% der
Verunreinigungen entfernt würden. Die Klägerin könne keinen Vertrauensschutz nach Art. 220 Abs. 2 Buchst.
b) ZK beanspruchen; jedenfalls habe die zunächst zu niedrige Abgabenfestsetzung nicht auf einem
behördlichen Irrtum beruht.
VI.
Dem Gericht lagen außer den Schriftsätzen der Beteiligten nebst Anlagen noch zwei Heftstreifen mit
Verfahrensunterlagen des Beklagten vor (Heft I mit 46 paginierten Blättern, Heft II mit 136 paginierten
Blättern).
Ergänzend wird Bezug genommen auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 16.01.2013 und der
mündlichen Verhandlung vom 16.08.2013.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig - der Abschluss eines Vorverfahrens ist ausnahmsweise entbehrlich - (I) und eine
Aussetzung des Klageverfahrens bis zum Erlass einer Einspruchsentscheidung ist nicht angezeigt (II). Die
Klage ist auch begründet, denn die Voraussetzungen von Art. 220 Abs. 1 Zollkodex (ZK) für eine
Nacherhebung von Antidumpingzoll für Silizium mit Ursprung in der Volksrepublik China sind nicht erfüllt, weil
ein solcher Ursprung der Waren nicht positiv festgestellt werden kann (III).
I.
Die Klage ist zulässig, insbesondere steht der Zulässigkeit nicht entgegen, dass das außergerichtliche
Vorverfahren noch nicht abgeschlossen worden ist.
1.Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO ist eine Verpflichtungsklage abweichend von § 44 FGO ohne vorherigen
Abschluss des Vorverfahrens zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung
eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist.
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Nach ständiger Rechtsprechung des BFH handelt es sich bei den in § 46 Abs. 1 FGO angeführten
Tatbestandsvoraussetzungen nicht um Zugangsvoraussetzungen, sondern um
Sachentscheidungsvoraussetzungen, die erst im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung erfüllt sein
müssen. Eine Untätigkeitsklage kann daher in die Zulässigkeit hineinwachsen und für die Zulässigkeit der
Klage kommt es somit darauf an, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 46 Abs. 1 FGO zum Zeitpunkt
der Entscheidung gegeben sind (BFH, Beschluss vom 07.03.2006, VI B 78/04, BFHE 211, 433, BStBl II
2006, 430, m. w. N.). Aus § 46 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Satz 2 FGO folgt, dass eine Frist von bis zu sechs
Monaten nach Einlegung des Einspruchs regelmäßig als angemessen anzusehen ist (BFH, Beschluss vom
27.06.2012, XI B 8/12, m. w. N). Das Tatbestandsmerkmal "in angemessener Frist" kann aber auch eine
Frist von mehr als sechs Monaten bedeuten. Es ist nach den gesamten Umständen des Falles zu beurteilen,
ob eine darüber hinausreichende Frist noch "angemessen" ist. Abzuwägen sind auf der einen Seite der
Umfang und die rechtlichen Schwierigkeiten des Falles und auf der anderen Seite das Interesse des
Rechtsbehelfsführers an einer baldigen Entscheidung (BFH, Beschluss vom 27.06.2012, XI B 8/12, m. w. N).
Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO muss ein Steuerpflichtiger eine Verzögerung der Entscheidung über seinen
außergerichtlichen Rechtsbehelf über eine ansonsten angemessene Frist hinaus nur dann hinnehmen, wenn
dafür ein zureichender Grund besteht und dieser ihm mitgeteilt worden ist (BFH, Beschluss vom 27.06.2012,
XI B 8/12, m. w. N). Ein zureichender Grund liegt vor, wenn es nach den besonderen Umständen des
Einzelfalles einleuchtend erscheint, dass das Rechtsbehelfsverfahren noch nicht abgeschlossen wurde (BFH,
Beschluss vom 27.06.2012, XI B 8/12, m. w. N), z. B. wenn umfangreiche Auslandsermittlungen notwendig
sind und nicht festgestellt werden kann, dass die Behörde die notwendigen Ermittlungsmaßnahmen nicht mit
dem gebotenen Nachdruck betreibt (vgl. BFH, Beschluss vom 07.03.2006, VI B 78/04, BFHE 211, 433,
BStBl II 2006, 430). Nach § 46 Abs. 1 Satz 3 FGO kann das Gericht das Klageverfahren nach seinem
Ermessen bis zum Ablauf einer bestimmten Frist aussetzen. Diese Aussetzung kommt sowohl bei einer
unzulässigen, weil verfrüht erhobenen Untätigkeitsklage (s. BFH, Beschluss vom 07.03.2006, VI B 78/04,
BFHE 211, 433, BStBl II 2006, 430, m. w. N.), als auch bei einer zulässigen Untätigkeitsklage in Betracht.
2.Die Klage der Klägerin ist nach § 46 Abs. 1 FGO zulässig, weil der Beklagte nicht in angemessener Frist
über den Einspruch entschieden hat. Es ist kein zureichender Grund dafür gegeben, dass über den Einspruch
vom 16.09.2011 nach nunmehr fast zwei Jahren noch immer nicht entschieden worden ist. Insbesondere ist
der vom Beklagten angegebene Grund, dass die streitige Frage des zollrechtlichen Ursprungs des Siliziums
durch Ermittlungen in Taiwan und damit im außereuropäischen Ausland geklärt werden müsse, im
vorliegenden Fall nicht zureichend. Der Senat verkennt dabei nicht, dass bei derartigen Sachverhalten eine
Zeitspanne von sechs Monate regelmäßig knapp bemessen sein dürfte und unter Berücksichtigung der im
europäischen Kontext zwangsläufigen Arbeitsteilung der Behörden auch ein gewisses Maß an Verzögerungen
unvermeidbar ist. Für die Frage der Zumutbarkeit ist allerdings auch zu beachten, dass der Beklagte den
angefochtenen Nacherhebungsbescheid erst kurz vor Ablauf der Festsetzungsfrist ohne annähernd tragfähige
Tatsachengrundlage und damit geradezu "ins Blaue hinein" erlassen hat. In der Dienstvorschrift der
Bundesfinanzverwaltung für die nachträgliche Prüfung von Präferenznachweisen (VSF-Nachrichten N 41 2004
Abs. 6) ist ausdrücklich geregelt, dass eine vorsorgliche Nacherhebung von Abgaben wegen drohender
Festsetzungsverjährung unzulässig ist. Weiter ist zu beachten, dass die Nacherhebung in rechtlicher Hinsicht
auf der unzutreffenden Grundlage erlassen worden ist, dass Reinigung und Zerkleinerung von Silizium
generell nicht ursprungsbegründend sein könne. Unter Berücksichtigung auch des der genannten
Dienstvorschrift zugrunde liegenden Rechtsgedankens ist der Klägerin kein weiteres Abwarten zuzumuten,
bis die Zollbehörden allen denkbaren Ermittlungsansätzen nachgegangen sind, um den zunächst auf
unzutreffender rechtlicher Grundlage entstandenen Verdacht der Falschdeklarierung eventuell doch noch
belegen zu können. Davon abgesehen ist die Klage jedoch allein schon deswegen zulässig, weil nach dem
Vortrag des Beklagten, mit der im September 2012 abgeschlossenen Missionsreise von OLAF die
Tatsachenermittlung abgeschlossen wurde und im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im hiesigen
Klageverfahren, mehr als 10 Monate später, noch immer kein offizieller Abschlussbericht mit belastbaren
Sachverhaltsfeststellungen vorgelegt worden ist. Kurz vor der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte
lediglich einen auf den 06.12.2012 datierten Bericht eines Teilnehmers der Missionsreise zur Akte gereicht,
der jedenfalls auch dem Beklagten nicht genügte, um eine Einspruchsentscheidung zu erlassen.
II.
Vor diesem Hintergrund hält es das Gericht nicht für angezeigt, das Klageverfahren nach § 46 Abs. 1 Satz 3
FGO auszusetzen, um dem Beklagten noch eine Frist zu setzen, binnen derer - gegebenenfalls nach
Eingang des Abschlussberichts von OLAF - die Einspruchsentscheidung ergehen kann. Darüber hinaus ist
festzustellen, dass die Ermittlungen von Behördenseite nicht hinreichend zielstrebig betrieben worden sind,
wobei sich der Beklagte auch das Vorgehen der anderen involvierten Dienststellen einschließlich OLAF
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zurechnen lassen muss. Die Ermittlungen durch OLAF haben sich zunächst auf die Frage eines etwaigen
Widerrufs von Ursprungszeugnissen von taiwanesischen Stellen konzentriert. Dann wurde eine
kriminaltechnische Untersuchung der von der Klägerin vorgelegten Ursprungszeugnisse vorgenommen, die
allerdings deren Ordnungsmäßigkeit ergab. Nachdem von den taiwanesischen Behörden eine Bestätigung
über die formale und inhaltliche Richtigkeit der Zeugnisse erfragt und erfolgt war, hat OLAF sodann
seinerseits die Richtigkeit dieser Bestätigung angezweifelt mit der Begründung, die Partikelgröße der
streitgegenständlichen Ware spreche gegen eine ursprungsbegründende Bearbeitung in Taiwan. Die
Partikelgröße war jedoch bereits unmittelbar nach Einspruchseinlegung bekannt und hätte gegebenenfalls
sogleich zu entsprechenden Ermittlungen Anlass geben müssen.
Durch die Bestimmung einer Nacherhebungsfrist für die Vorschrift des Art. 220 Abs. 1 ZK, in der die
Voraussetzungen für eine Nacherhebung geregelt sind, wird deutlich, dass nach dem Willen des
Gesetzgebers Nacherhebungen nur in einem zeitlich begrenzten Rahmen vorgenommen werden dürfen. Es
widerspricht dieser Gesetzessystematik, wenn die Zollverwaltung kurz vor Ablauf der Frist
Nacherhebungsbescheide ins Blaue hinein erlässt, um erst anschließend zu ermitteln und zu prüfen, ob die
Voraussetzungen für eine Nacherhebung überhaupt vorliegen oder nicht. Jedenfalls im vorliegenden Fall ist
nach Ablauf von nahezu zwei Jahren nach Erlass des Nacherhebungsbescheids kein Anlass gegeben, der
Beklagtenseite noch weitere Fristen einzuräumen.
III.
Die Klage ist begründet.
Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1
FGO).
Der Beklagte hat zu Unrecht für die streitgegenständlichen Einfuhren von Silizium Antidumpingzoll
nacherhoben. Als Ermächtigungsgrundlage für die Nacherhebung kommt allein Art. 220 ZK in Betracht. Nach
Art. 220 Abs. 1 ZK hat eine buchmäßige Erfassung des nachzuerhebenden Betrages zu erfolgen, wenn der
einer Zollschuld entsprechende Abgabenbetrag nicht nach den Artikeln 218 und 219 ZK buchmäßig erfasst
worden ist. Es kann nicht erkannt werden, dass die Voraussetzungen für die Nacherhebung eines
Antidumpingzolls auf die von der Klägerin eingeführte Ware vorliegen.
Die vom Beklagten vorgenommene Nacherhebung von Antidumpingzoll stützt sich auf die Verordnung (EG)
Nr. 398/2004 des Rates vom 02.03.2004 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhr
von Silicium mit Ursprung in der Volksrepublik China (ABl. L 66/15). Nach Art. 1 Abs. 1 VO (EG) Nr.
398/2004 wird auf die Einfuhr von Silicium des KN-Codes 2804 69 00 mit Ursprung in der VR China ein
endgültiger Antidumpingzoll eingeführt; nach Abs. 3 der Vorschrift finden grundsätzlich die geltenden
Zollbestimmungen Anwendung. Diese Verordnung ist Nachfolger der Antidumping-Verordnung (EG) 2496/97;
ursprünglich eingeführt waren entsprechende Maßnahmen bereits mit VO (EG) Nr. 2200/90. Dass die
Voraussetzungen für die Nacherhebung des Antidumpingzolls vorliegen, steht nicht fest. Denn es kann nicht
positiv festgestellt werden, dass das Silizium seinen zollrechtlichen Ursprung in der VR China hat. Mit den
Beteiligten geht der Senat davon aus, dass Silizium mit zollrechtlichem Ursprung in Taiwan nicht von der
Antidumpingzollverordnung für Silizium aus der VR China erfasst wird. Der insoweit beweisbelastete Beklagte
hat den Beweis für den zollrechtlichen Ursprung der streitgegenständlichen Ware in der VR China nicht
erbringen können.
1.Es ist schon nicht bewiesen, dass das Rohmaterial für das von der Klägerin eingeführte Silizium
tatsächlich aus der VR China stammt. Die Klägerin bestreitet das. Aus den vom Beklagten eingereichten
Unterlagen ergibt sich nur, dass allgemein große Mengen von Silizium aus der VR China in Taiwan eingeführt
worden sind, aber auch, dass es noch andere Ursprungsländer für die Einfuhren nach Taiwan gegeben hat
und eine Zuordnung von Einfuhren aus bestimmten Ländern zu bestimmten Ausfuhren auch für OLAF nicht
möglich gewesen ist.
2.Selbst wenn das Silizium zunächst aus der VR China stammen sollte, könnte es gleichwohl in Taiwan
gemäß Art. 24 ZK ursprungsbegründend behandelt worden sein. Nach den Ausführungen des EuGH in
seinem Urteil vom 11.02.2010 in der Rechtssache C-373/08 wird Silizium dann ursprungsbegründend
gereinigt oder zerkleinert, wenn mindestens 80% der bestehenden Unreinheiten beseitigt worden sind bzw.
eine beabsichtigte und kontrollierte Reduktion des Materials in Partikel mit anderen physikalischen oder
chemischen Eigenschaften stattgefunden hat.
Es ist inzwischen unstreitig, dass das von der Klägerin eingeführte Silizium in Taiwan durch B tatsächlich
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bearbeitet worden ist. Dass diese Bearbeitung keinen ursprungsbegründenden Umfang hatte, steht indes
nicht fest. Auch der Beklagte sieht sich offenbar zu diesen Feststellungen nicht in der Lage, wenn er den
offiziellen Schlussbericht von OLAF über das Ergebnis der dort veranlassten Ermittlungen abwartet und ohne
diesen Bericht die Sache also nicht für entscheidungsreif hält. Das Gericht schließt sich dieser Einschätzung
des Beklagten an. Weitere belastbare Feststellungen liegen nicht oder jedenfalls nicht in überprüfbarer Form
vor. Insbesondere hält das Gericht den mit Schriftsatz des Beklagten vom 05.08.2013 übersendeten
Zwischenbericht vom 06.12.2012 nicht für eine taugliche Grundlage, um den zollrechtlichen Ursprung der
Ware hinreichend sicher zu klären.
Soweit OLAF in seinen Mitteilungen, die der Beklagte auch für den Erlass seines Nacherhebungsbescheids
zugrunde gelegt hat, allerdings zunächst meinte, feststellen zu können, dass eine etwaige Bearbeitung in
Taiwan durch Zerkleinerung oder Reinigung des Siliziums per se nicht ursprungsbegründend sei, sind diese
Feststellungen bereits deswegen nicht tragfähig, weil sie nicht auf der Grundlage der EuGH-Rechtsprechung
erfolgt sind. Zu Recht weist die Klägerin überdies darauf hin, dass die Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 über
die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung in ihrem 10. Erwägungsgrund vorgibt,
dass OLAF Schlussfolgerungen nur auf beweiskräftige Tatsachen stützen dürfe. Schon weil OLAF für den
Umfang der Bearbeitung durch B keine konkreten Tatsachen ermittelt hatte, war es OLAF seinerzeit versagt,
die Schlussfolgerung zu ziehen, eine ursprungsbegründende Bearbeitung habe in Taiwan nicht stattgefunden.
3.Nicht entscheidungserheblich für die Rechtmäßigkeit der Nacherhebung von Antidumpingzoll ist, ob das
Gericht umgekehrt die Feststellung treffen kann, dass tatsächlich eine ursprungsbegründende Bearbeitung in
Taiwan stattgefunden hat. Denn die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen einer Nacherhebung
von Einfuhrabgaben obliegt den Zollbehörden, was bei der Nacherhebung von Antidumpingzoll verlangt, dass
sie den Nachweis erbringen, dass die Ware mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus dem mit
Antidumpingzoll belegten Land stammt und nicht anderswo noch ursprungsbegründend bearbeitet worden ist
(vgl. FG Hamburg, Urteile vom 26.03.2013, 4 K 56/12, und vom 07.10.2008, 4 K 137/05). Die Bedingungen
für die Nachhebung von Antidumpingzoll unterscheiden sich insoweit von denen für die Nacherhebung von
Zoll in Fällen, bei denen der Einführer eine Zollpräferenz in Anspruch nimmt und bei denen er gegebenenfalls
die Beweislast für den Ursprung der Ware im präferenzbegünstigten Ausfuhrland hat.
4.Eine abweichende Beurteilung der Beweislastverteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung der
Vorschrift des Art. 25 ZK.
Art. 25 ZK bestimmt, dass eine Be- oder Verarbeitung, bei der festgestellt worden ist oder bei der die
festgestellten Tatsachen die Vermutung rechtfertigen, dass sie nur die Umgehung von Bestimmungen
bezweckt, die in der Gemeinschaft für Waren bestimmter Länder gelten, den so erzeugten Waren keinesfalls
im Sinne des Artikel 24 ZK die Eigenschaft von Ursprungswaren des Be- oder Verarbeitungslandes verleihen
kann.
Diese Vorschrift entspricht Art. 6 der Verordnung (EWG) Nr. 802/68 des Rates vom 27.06.1968. Zu dieser
Vorschrift hat der EuGH mit Urteil vom 13.12.1989 in der Rechtssache C-26/88 entschieden, dass die
Verlagerung der Montage aus dem Land der Herstellung der Bestandteile in ein anderes Land, in dem bereits
vorhandene Produktionsstätten genutzt werden, für sich gesehen nicht die Vermutung rechtfertige, dass
diese Verlagerung nur die Umgehung von Bestimmungen bezwecke, es sei denn, es bestehe ein zeitlicher
Zusammenhang zwischen dem Inkrafttreten der einschlägigen Regelung und der Verlagerung der Montage. In
diesem Fall obliege dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer der Nachweis, dass die Montagevorgänge aus
einem sachgerechten Grund und nicht zu dem Zweck, den Folgen der betreffenden Bestimmungen zu
entgehen, in dem Land stattgefunden haben, aus dem die Waren ausgeführt wurden. Diese Grundsätze
haben nach Ansicht des erkennenden Senats entsprechend für andere Arten der Bearbeitung - wie etwa der
Reinigung oder Zerkleinerung - zu gelten. Selbst wenn aber zugunsten des Beklagten davon ausgegangen
würde, dass B bzw. A das streitgegenständliche Silizium aus der VR China bezogen haben, kann nicht
erkannt werden, dass die vom EuGH formulierten Voraussetzungen für eine solche Beweislastumkehr (vgl.
zur Beweislastumkehr auch Prieß in Witte, Zollkodex, Art. 25 Rdnr. 5) hier vorliegen. Dies schon allein
deshalb nicht, weil nach den Feststellungen von OLAF erst ab dem Jahr 2007 ein signifikanter Anstieg der
Ein- und Ausfuhren von Silizium durch Taiwan zu beobachten gewesen sein soll, Antidumpingzollvorschriften
für Einfuhren von Silizium aus der VR China aber nicht erst mit der streitgegenständlichen Verordnung aus
dem Jahr 2004 eingeführt, sondern bereits zuvor mit Verordnungen der Jahre 1997 und 1990 erhoben wurden.
IV.
Die Schriftsätze der Klägerseite vom 13. und 14.08.2013 nebst Anlagen erreichten den Beklagten erst kurz
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vor bzw. in der mündlichen Verhandlung. Dieses Urteil stützt sich allerdings nicht auf den Inhalt dieser
Schriftsätze bzw. der Anlagen. Es konnte daher entschieden werden, ohne der Beklagtenseite hierzu
weiteres rechtliches Gehör zu gewähren.
V.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Revision war
nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht gegeben sind. Die Entscheidung
basiert im Wesentlichen auf einer Würdigung des Sachverhalts.