Urteil des FG Hamburg vom 14.12.2012

FG Hamburg: wohl des kindes, aufschiebende wirkung, gefahr, gefährdung, widerruf, wechsel, öffentliche sicherheit, kindeswohl, eltern, zusammenarbeit

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Für die Rücknahme oder den Widerruf einer Erlaubnis zum Betrieb einer Einrichtung, in der Kinder oder
Jugendliche betreut werden oder Unterkunft erhalten (hier: Kindertagesstätte), setzt § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB
VIII eine konkrete Gefahr für das Wohl des Kindes, und zwar für das körperliche, geistige oder seelische
Wohl voraus. Eine Gefährdung des Kindeswohls liegt nicht schon dann vor, wenn nach Erteilung der
Betriebserlaubnis die Voraussetzungen für die Erteilung nach § 45 Abs. 2 SGB VIII nachträglich wegfallen.
Hamburgisches Oberverwaltungsgericht 4. Senat, Beschluss vom 14.12.2012, 4 Bs 248/12
§ 45 Abs 2 SGB 8, § 45 Abs 7 S 1 SGB 8
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 20.
November 2012 geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung vom 2. Oktober 2012 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen einen Widerruf ihrer Erlaubnis zum Betrieb einer
Kindertagesstätte.
Die Antragstellerin betreibt aufgrund einer Erlaubnis vom 27. Mai 2005 seit dem 1. Mai 2005 die
Kindertagesstätte „D…“.
Nachdem es seit Oktober 2007 zu mehreren Überprüfungen der Kindertagesstätte gekommen war, widerrief die
Antragsgegnerin mit Bescheid vom 1. Februar 2010 die Betriebserlaubnis. Zur Begründung bezog sich die
Antragsgegnerin darauf, dass eine Kindeswohlgefährdung durch die hohe Personalfluktuation in der
Kindertagesstätte vorliege. Überdies mischten sich die Antragstellerin und ihre Schwester fortwährend in
pädagogische Belange ein. Auch sei die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern gestört. Das
Verwaltungsgericht ordnete mit Beschluss vom 3. Juni 2010 (13 E 1228/10) die aufschiebende Wirkung der
gegen diesen Widerrufsbescheid erhobenen Untätigkeitsklage an. Zur Begründung führte das Gericht aus: Eine
Kindeswohlgefährdung durch den häufigen Personalwechsel sei möglich gewesen. Allerdings falle die Prognose
für den Betrieb der Antragstellerin positiv aus, da die nunmehr dort beschäftigten Erzieherinnen sich für einen
langfristigen Verbleib entschieden hätten. Mit Schreiben vom 14. Juli 2010 hob die Antragsgegnerin den
Widerruf der Betriebserlaubnis auf.
In der Folgezeit stellte die Antragsgegnerin weiterhin einen häufigen Personalwechsel in der Kindertagesstätte
fest. Mit Schreiben vom 18. Januar 2012 hörte die Antragsgegnerin die Antragstellerin wegen eines
beabsichtigten Widerrufs der Betriebserlaubnis an.
Mit Bescheid vom 2. Oktober 2012 widerrief die Antragsgegnerin die Betriebserlaubnis für die Kindertagesstätte
der Antragstellerin zum 31. Dezember 2012. Zur Begründung führte sie aus: Die positive Prognose des
Verwaltungsgerichts aus dem Beschluss vom 3. Juni 2010, der sie – die Antragsgegnerin – sich zunächst
angeschlossen habe, habe sich nicht erfüllt. Der gravierendste Mangel ergebe sich durch den häufigen
Personalwechsel. Nur wenige Mitarbeiter seien länger als vier Monate beschäftigt gewesen. Mehrmals sei das
ganze Betreuungsteam ausgetauscht worden. Die pädagogische Leitung habe seit 2007 zehnmal gewechselt.
Seit Januar 2009 seien insgesamt 35 pädagogische Kräfte in der Kindertagesstätte tätig gewesen. So sei es
für die Kinder vielfach zu stark belastenden Situationen gekommen, da sie von einem Tag auf den anderen ihre
vertraute Bezugsperson verloren hätten. Ein Kind, das im Januar 2011 aufgenommen worden sei, habe bis
Oktober 2012 19 Betreuungskräfte kennengelernt, von denen 17 die Einrichtung der Antragstellerin wieder
verlassen hätten. Eine sanfte Umgewöhnungsbegleitung sowie Verabschiedungsrituale habe es nicht gegeben.
Die Mitarbeiterinnen, die sich ihr – der Antragsgegnerin - gegenüber geäußert hätten, hätten als Grund für die
Beendigung des Arbeitsverhältnisses durchgehend die unerträglichen Arbeitsbedingungen angeführt. Grund
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hierfür sei der Führungsstil der Antragstellerin, die sich in die pädagogischen Belange eingemischt habe,
obwohl ihr dies durch Auflagen untersagt worden sei. Ein Konzept, wie dies zu unterbinden sei, sei nicht
vorgelegt worden. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern sei gestört worden, da die Fachkräfte
nicht direkt mit den Eltern kommunizieren dürften. Beratungen und Besprechungen hätten zu keiner
Verbesserung der Situation geführt. Die Kindeswohlgefährdung könne nicht anders als durch den Widerruf der
Betriebserlaubnis abgewendet werden.
Mit Schreiben vom 11. Oktober 2012 legte die Antragstellerin Widerspruch ein.
Am 1. November 2012 hat die Antragstellerin um einstweiligen Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht
nachgesucht und zur Begründung geltend gemacht: Eine Personalfluktuation im sozialpädagogischen Bereich
habe aufgrund des massiven Ausbaus von Kindertagestätten in den vergangenen Jahren zugenommen. Der
Arbeitsmarkt für qualifizierte Erzieherinnen könne als schwierig bewertet werden. Es herrsche ein eklatanter
Fachkräftemangel. Die Verantwortung für die Personalfluktuation liege auch sonst nicht durchgehend bei ihr.
Sie habe ihr Büro mittlerweile aus der Einrichtung verlegt. Dadurch solle vermieden werden, dass es weiterhin
zu Beschwerden seitens des pädagogischen Personals über angebliche Eingriffe in die pädagogische Arbeit
komme. Mit Frau I. sei eine sozialpädagogische Assistentin gefunden worden, die bereits seit November 2011
in der Einrichtung arbeite und diese Arbeit auch fortsetzen wolle. Aus deren Aussage ergebe sich auch
eindeutig, dass es jedenfalls ab November 2011 keine Eingriffe mehr in die pädagogische Arbeit gegeben habe.
Dies bekunde auch die seit September 2012 dort beschäftigte Frau M., die auch die pädagogische Leitung
übernehmen wolle. Darüber hinaus habe sie – die Antragstellerin - auch ihr Konzept überarbeitet. Die
Kritikpunkte der Antragsgegnerin seien darin berücksichtigt worden. Zu verweisen sei dabei auf die
Kontaktpflege zu den Eltern und die klare Trennung zwischen der Trägerin und der pädagogischen Arbeit, die
von der Antragsgegnerin gefordert werde. Die aktuellen Stellungnahmen bewiesen die Solidarität der
Elternschaft mit der Kindertagesstätte. Trotz der erhöhten Personalfluktuation könne eine
Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen werden. Dass Kinder durch den Aufenthalt in ihrer Einrichtung
körperliche oder seelische Schäden davongetragen hätten, sei nicht ersichtlich und müsse bei der Prognose
ebenfalls Einfluss haben.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 20. November 2012 abgelehnt. Zur Begründung hat
es ausgeführt: Es liege eine Kindeswohlgefährdung durch den über einen längeren Zeitraum zu beobachtenden
häufigen Wechsel des pädagogischen Personals sowie der pädagogischen Leitungskraft in der Einrichtung der
Antragstellerin vor. Da die Antragstellerin in erster Linie Kinder im Krippenalter, d.h. zwischen einem und drei
Jahren betreue, messe das Gericht einem derart häufigen Wechsel der Bezugspersonen einen besonderen
Stellenwert zu. Die Kinder würden zum ersten Mal außerhalb der Familie betreut und seien deshalb in
besonderem Maße darauf angewiesen, in der Kindertageseinrichtung eine neue verlässliche Bezugsperson zu
erhalten. Dies habe die Antragstellerin den Kindern in der Vergangenheit nicht bieten können. Bei den
dokumentierten Wechseln der eingesetzten pädagogischen Kräfte sei zu befürchten, dass bei den betreuten
Kleinkindern Bindungsängste und Entwicklungsverzögerungen aufträten. Gerade in einer kleinen Einrichtung
wie der der Antragstellerin wirke sich die Fluktuation besonders nachteilig aus, da praktisch alle Kinder von
Weggang einer Erzieherin betroffen seien. Es stehe zu befürchten, dass die aktuell betreuten 14 Kinder
weiterhin mit einem ständigen Wechsel ihrer Betreuungspersonen rechnen müssten. Die im Beschluss von 3.
Juni 2010 geäußerte positive Prognose habe sich nicht bewahrheitet. Der auffällig gehäufte Wechsel des
Personals könne auch nicht allein durch einen im Betreuungsbereich bestehenden Fachkräftemangel erklärt
werden. Ob der Grund für den häufigen Personalwechsel darin begründet sei, dass die Antragstellerin oder ihre
Schwester sich immer wieder in pädagogische Bereiche einmischten, spiele keine entscheidende Rolle.
Zulasten der Antragstellerin sei zu würdigen, dass auch nach Abschluss des ersten Widerrufverfahrens im
Sommer 2010 sich nichts an der Häufigkeit des Personalwechsels geändert habe und dies auch in Zukunft
nicht zu erwarten sei.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin.
II.
Die zulässige Beschwerde hat Erfolg.
Aus den von der Antragstellerin dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) ist die angefochtene
Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die
Verfügung der Antragsgegnerin, mit der die Betriebserlaubnis für die Kindertagesstätte „D..“ widerrufen worden
ist, ist gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anzuordnen. Das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin
überwiegt das Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerin, weil der Widerspruch, dem nach § 45 Abs. 7 Satz 2
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SGB VIII keine aufschiebende Wirkung zukommt, nach der im Eilverfahren allein möglichen, aber
ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage voraussichtlich Erfolg haben wird. Denn die
angegriffene Verfügung der Antragsgegnerin dürfte rechtswidrig sein.
Rechtsgrundlage für die angegriffene Verfügung ist § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII. Nach dieser Vorschrift ist
eine Betriebserlaubnis für eine Einrichtung, in der Kinder oder Jugendliche ganztätig oder für den Teil eines
Tages betreut werden oder Unterkunft erhalten (vgl. § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), zurückzunehmen oder zu
widerrufen, wenn das Wohl der Kinder oder Jugendlichen in der Einrichtung gefährdet ist und der Träger der
Einrichtung nicht bereit oder in der Lage ist, die Gefährdung abzuwenden. Diese Voraussetzungen sind
vorliegend offenbar nicht erfüllt. Eine Gefährdung des Kindeswohl im Sinne dieser Vorschrift setzt eine
konkrete Gefahr, die sich am Maßstab des § 1666 BGB zu orientieren hat, voraus (1.). Eine solche Gefährdung
kann derzeit nicht festgestellt werden (2.).
1. § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII setzt eine konkrete Gefahr für das Wohl des Kindes, und zwar für das
körperliche, geistige und seelische Wohl voraus. Eine Gefährdung des Kindeswohls liegt nicht schon dann vor,
wenn nach Erteilung der Betriebserlaubnis die Voraussetzungen für die Erteilung nach § 45 Abs. 2 SGB VIII
nachträglich wegfallen.
Der Gesetzgeber hat in § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII den Widerruf der Betriebserlaubnis davon abhängig
gemacht, dass das Kindeswohl gefährdet ist. Damit hat er für ein Eingreifen der Aufsichtsbehörde auf den
allgemeinen polizeirechtlichen Gefahrenbegriff abgestellt und zwar – da insoweit keine nähere Bestimmung
erfolgt ist – auf den einer konkreten Gefahr. Danach setzt eine Gefahr eine Sachlage voraus, bei der im
einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.7.2002, 6 CN 8/01, NVwZ 2003, 95,
juris Rn. 32; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 15. Aufl., § 6, Rn. 3, 17).
Eine Gefährdung des Kindeswohls besteht indes nicht schon dann, wenn (nur) nachträglich die
Voraussetzungen für die Erteilung der Betriebserlaubnis entfallen sind. Gegen eine solche Auslegung spricht
der bereits erwähnte Wortlaut der Vorschrift. § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII nennt als Voraussetzung für die
Rücknahme oder den Widerruf der Betriebserlaubnis ausdrücklich die „Gefährdung“ des Kindeswohls, während
für die Erteilung der Betriebserlaubnis in § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII maßgeblich ist, dass das Wohl der
Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung „gewährleistet“ ist. Danach reicht es für die Nichterteilung einer
Betriebserlaubnis bereits aus, dass unter dem Blickwinkel einer Gefahrenvorsorge Bedenken dahingehend
bestehen, dass in der Einrichtung das Wohl von Kindern und Jugendlichen Schaden nehmen könnte.
Entsprechend nimmt auch § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII nicht Bezug auf die Erteilungsvoraussetzungen des §
45 Abs. 2 SGB VIII und knüpft daher gerade nicht an diese als mögliche Aufhebungsgründe an. Da der Wegfall
der Erlaubnisvoraussetzungen in anderen Rechtsbereichen durchaus eine nachträgliche Aufhebung eines
begünstigenden Verwaltungsakts zulässt (vgl. nur § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG), kann diese fehlende Verknüpfung
nicht als redaktionelles Versehen des Gesetzgebers angesehen werden (in diesem Sinne aber Stähr in Hauck,
SGB VIII, 51. Lief., § 45, Rn. 60; Mörnsberger in Wiesner, SGB VIII, § 45, Rn. 62; Mann in Schellhorn, SGB
VIII, 4. Aufl., Rn. 37). Weiter spricht für eine solche Auslegung, dass es in der Begründung zum Gesetzentwurf
zu § 44 SGB VIII (jetzt § 45 SGB VIII) vom 1. Dezember 1989 (BT-DrS. 11/5948), in dem für Kinder- und
Jugendeinrichtungen erstmals ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt geschaffen wurde, heißt, dass bereits im
Rahmen des Erlaubniserteilungsverfahrens „möglichen“ Gefahren begegnet werden soll (a.a.O., S. 83). Der
Erlaubnisvorbehalt soll bereits der präventiven Abwehr von Gefahren dienen (a.a.O., S. 84). Darüber hinaus
sprechen auch die in § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII vorgesehene gebundene Entscheidung („ist
zurückzunehmen oder zu widerrufen“) und der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und
Anfechtungsklage in Satz 2 der Norm für die vorliegende Interpretation, nach der an die Maßnahmen wegen der
damit für den Betreiber einer Einrichtung verbundenen gravierenden Folgen hohe Anforderungen zu stellen sind.
Mit dem Begriff des Kindeswohls knüpft der Gesetzgeber an § 1666 BGB an, der sich auf das körperliche,
geistige und seelische Wohl des Kindes erstreckt. Diese Anknüpfung bedeutet indes nicht, dass für ein
Eingreifen der Aufsichtsbehörde nach § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII dieselben strengen Maßstäbe zu stellen
sind, wie sie nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für Maßnahmen des Familiengerichts zu
fordern sind. Voraussetzung für ein Eingreifen des Familiengerichts ist eine gegenwärtige, in einem solchen
Maß vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des
geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. BGH, Beschl. v.
26.10.2011, XII ZB 247/11, NJW 2012, 151, juris Rn. 25). Diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur
Zulässigkeit familiengerichtlicher Maßnahmen bei der Gefährdung des Kindeswohls erklärt sich aus der hohen
Bedeutung des durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 geschützten Elternrechts, in das nur soweit eingegriffen werden darf,
als es wegen der konkreten Gefährdung des Kindeswohls unerlässlich ist (BGH, a.aO., juris Rn. 27, 28).
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Dagegen stellt der Widerruf der Betriebserlaubnis für eine Kindertageseinrichtung einen Eingriff in die durch Art.
12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit dar. Auch wenn man – was hier offen bleiben kann – im Widerruf der
Betriebserlaubnis einen Eingriff in die Berufswahlfreiheit sehen wollte, wäre ein solcher Eingriff zum Schutz
wichtiger Gemeinschaftsgüter unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl.
BVerfG, Beschl. v. 4.3.1997, 1 BvR 327/97, Pharma Recht 1997, 298, juris Rn. 10). Für Maßnahmen nach §
45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII ausreichend, aber auch erforderlich ist demnach das Bestehen einer konkreten
Gefahr für das Kindeswohl im oben beschriebenen Sinne. Eine derartige liegt danach vor, wenn aufgrund von
Tatsachen im Einzelfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass das körperliche, geistige oder
seelische Wohl des Kindes Schaden nehmen wird. Dabei ist unerheblich, ob diese Gefahr durch ein
Verschulden des Einrichtungsträgers oder seiner Bediensteten selbst verursacht wird (vgl. VGH München,
Beschl. v. 10.1.2008, 12 CS 07.3433, juris Rn. 43).
2. Eine konkrete Gefahr für das Kindeswohl kann vorliegend nicht festgestellt werden. Sie lässt sich derzeit
weder aufgrund der hohen Personalfluktuation auf Seiten der Antragstellerin (a) noch aufgrund von Eingriffen
der Antragstellerin in die pädagogische Arbeit (b), einer Störung der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den
Eltern (c) oder des Fehlens einer pädagogischen Leitungskraft (d) begründen.
a) Eine konkrete Gefahr für das Kindeswohl im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII durch die hohe
Personalfluktuation in der Einrichtung der Antragstellerin ist derzeit nicht erkennbar.
Zwar können psychische Folgen wie Bindungsängste und Entwicklungsverzögerungen bei Kindern, die die
Antragsgegnerin und das Verwaltungsgericht durch den häufigen Personalwechsel bei der Antragstellerin
befürchten, durchaus Schäden sein, denen durch einen Widerruf der Betriebserlaubnis begegnet werden muss.
Ebenso können grundsätzlich unzuträgliche Personalverhältnisse zu einem Schaden bei Kindern führen (vgl.
hierzu OVG Berlin, Beschl. v. 17.12.1980, 6 S 72/80, FEVS 29, 331).
Es ist jedoch nach dem derzeitigen Kenntnisstand nicht ersichtlich, dass durch den häufigen Wechsel des
Personals die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass das körperliche, geistige oder seelische Wohl der
in der Einrichtung der Antragstellerin betreuten Kinder Schaden nimmt, indem es dadurch zu Bindungsängsten,
Entwicklungsverzögerungen oder vergleichbaren Schädigungen kommt. Insbesondere lässt sich dies entgegen
der Annahme der Antragsgegnerin nicht bereits aus den von ihr angeführten Publikationen der pädagogischen
Wissenschaft entnehmen.
Zwar empfiehlt die „Deutsche Liga für das Kind“ in ihren „Eckpunkten guter Qualität in der Krippe“ die
kontinuierliche Begleitung des Kindes in der Einrichtung durch eine Bezugserzieherin (www.liga-kind.de). Die
„Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie“ berichtet von nachteiligen Auswirkungen bei der Störung der
Bindung zu sekundären Bezugspersonen (www.dgspj.de). Im von der Antragsgegnerin ebenfalls zitierten
Fachbeitrag von Dr. Susanne Viernickel und Jutta Sechtig wird hervorgehoben, dass die emotionale Beziehung
zwischen dem Kleinkind und der Bezugsperson die Grundlage für Kommunikation, Interaktion und sprachliches
Lernen sei (Krippenkinder aufnehmen - Entwicklung von Interaktions- und Kommunikationsfähigkeiten –
Kindergarten heute 16. März 2005, vgl. Bescheid vom 2. Oktober 2012, S. 7)). In Edith Ostermayers „Unter
drei – mit dabei“ heißt es, ein Erzieherinnenwechsel in den ersten drei Jahren solle nach Möglichkeit vermieden
werden (vgl. Bescheid, S. 8). Die „Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit“ betont nach
Angaben der Antragsgegnerin, dass Kleinkinder unter drei Jahren auf die ständige Anwesenheit einer
vertrauten, verlässlichen und verfügbaren Bezugsperson angewiesen seien (vgl. Bescheid, S. 8). Die
Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter benennt in ihrem Positionspapier „Flexible
Angebotsformen der Kindertagesbetreuung“ Verlässlichkeit in den Strukturen und Beziehungspersonen als
Bedürfnisse von Kindern (www.bagjae.de). In der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag
gegebenen Studie „Auf den Anfang kommt es an: Perspektiven für eine Neuorientierung frühkindlicher Bildung“
(www.bmbf.de/pub/bildungsreform_band_16.pdf) wird unter Bezugnahme auf andere Publikationen der
pädagogischen Wissenschaft u.a. auf S. 47 ausgeführt, dass Kinder, die bis zum Alter von vier Jahren eine
kontinuierliche Betreuung erfahren hätten, weniger aggressive Verhaltensweisen zeigten als Gleichaltrige, die
zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat einen Wechsel erlebt hätten. Zu den Faktoren, die sich auf die
Interaktionsqualität zwischen Erzieherin und Kind auswirke, zähle auch ein häufiger Wechsel in der
Mitarbeiterschaft. Die Folge sei geringere Bindungssicherheit, weniger elaboriertes Sprachverhalten und
Zurückbleiben in der sprachlichen Entwicklung.
In diesen von der Antragsgegnerin zitierten Untersuchungen und Publikationen wird jeweils nachvollziehbar
dargelegt, dass es im Sinne einer guten bis optimalen Betreuung von Kleinkindern sinnvoll ist, dass zwischen
diesen und ihren Betreuern eine möglichst langfristige Bindung zustande kommt, während sich der Wechsel
von Bezugspersonen in der Tagespflege nachteilig auf die Entwicklung der Kinder auswirken kann. Die
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Konstanz im Personalbereich stellt mithin ein Qualitätsmerkmal einer solchen Einrichtung dar. Doch darüber
hinaus wird die Qualität der Kindertageseinrichtung jedoch von vielen weiteren Parametern bestimmt. Hierzu
zählen u.a. die fachliche Kompetenz der Betreuungspersonen, die räumliche und sachliche Ausstattung, die
Verpflegung und auch der Standort der Einrichtung. Ebenso wie bei Schulen und auch anderen
Jugendeinrichtungen dürfte es bei Kindertageseinrichtungen vielfältige Abstufungen in der Qualität geben. Je
höher die Qualität einer Einrichtung, desto besser ist die zu erwartende Betreuung, und entsprechend
vorzugswürdig ist die Unterbringung eines Kindes in einer solchen Einrichtung. Allein aus der Tatsache, dass
z. B. in einer Einrichtung oder einer Schule weniger qualifiziertes Personal tätig oder die Raumsituation
verbesserungsbedürftig ist, folgt zunächst nur, dass die Betreuung nicht optimal ist. Das bedeutet jedoch nicht
zwingend, dass den Kindern dort Schäden drohen. Deshalb ist im Einzelfall zu ermitteln, ob die
Qualitätseinbußen so gravierend sind, dass durch den Betrieb einer Kindertageseinrichtung der Eintritt eines
Schadens für das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes tatsächlich wahrscheinlich ist.
Dies ist unter Berücksichtigung der vorliegenden Gesamtumstände und den von der Antragsgegnerin zur
Bejahung der Kindeswohlgefährdung herangezogenen Publikationen für den Fall einer erhöhten
Personalfluktuation bislang jedoch nicht ersichtlich. Aus der Tatsache, dass längerfristige Bindungen zwischen
Kleinkindern und ihren Bezugspersonen in einer Einrichtung wünschenswert sind und deshalb übereinstimmend
von der „Deutschen Liga für das Kind“, Edith Ostermayer, der „Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der
Frühen Kindheit“ und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter durchgehend empfohlen werden,
folgt im Umkehrschluss noch nicht zwingend, dass das mit dem Wechsel der Bezugspersonen in der
Tagespflege einhergehende Fehlen einer langfristigen Bindung eine konkrete Gefahr für das Kindeswohl
darstellt. Dies gilt auch hinsichtlich der Ausführungen in dem Fachbeitrag von Dr. Susanne Viernickel und Jutta
Sechtig. Eine stabile emotionale Beziehung zwischen einem Kleinkind und seiner Bezugsperson in einer
Kindertagesstätte stellt eine bessere Grundlage für die Kommunikation, Interaktion und sprachliches Lernen
dar. Dass eine weniger stabile Beziehung zu Bindungsängsten, Entwicklungsverzögerungen oder ähnlichen
Schädigungen führt, ist dadurch indes nicht belegt. Soweit von der „Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie“
und in der Studie „Auf den Anfang kommt es an“ unter Bezugnahme auf weitere Veröffentlichungen in der
pädagogischen Wissenschaft (Howes & Hamilton 1993, Helburn 1995, Kontos § Fiene 1987, Phillips et al.
1987, Whitebook 1990) nachteilige Folgen für die betreuten Kinder im Falle eines häufigen Personalwechsels
beschrieben werden (aggressivere Verhaltensweisen, geringere Bindungssicherheit, weniger elaboriertes
Sprachverhalten und Zurückbleiben in der sprachlichen Entwicklung), geht es ebenfalls um die Beschreibung
der Folgen einer nicht optimalen Betreuung. Eine geringere Bindungssicherheit bedeutet aber nicht zwingend
Bindungsangst und ein weniger elaboriertes Sprachverhalten ist nicht von vornherein mit einer schädlichen
Entwicklungsverzögerung gleichzusetzen. Auch aus der von der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren in
Bezug genommenen Studie der University of Wisconsin-Madison, nach der Stress in der frühen Kindheit bei
jungen Frauen zu einer erhöhten Anfälligkeit für Angsterkrankungen und Depressionen führt, folgt nicht mit der
zu fordernden Wahrscheinlichkeit, dass eine erhöhte Personalfluktuation zu entsprechenden Schäden führt,
weil nicht belegt wird, dass ein häufiger Personalwechsel den entsprechenden Stress auslöst. Ob sich ein
entsprechender Zusammenhang zwischen der Personalfluktuation in der Einrichtung der Antragstellerin und
einer Gefahr für das Kindeswohl herstellen lässt, wird demnach gegebenenfalls im Widerspruchsverfahren
aufzuklären sein. Dabei wird auch der Frage nachzugehen sein, ob die in der Einrichtung der Antragstellerin
betreuten Kinder nicht jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt mit der seit November 2011 beschäftigten Frau I. und
der seit September 2012 beschäftigten Frau M. , die beide angegeben haben, längerfristig in der
Kindertagesstätte tätig sein zu wollen, vertraute Bezugspersonen haben und künftig voraussichtlich weiterhin
haben werden.
b) Auch die der Antragstellerin von der Antragsgegnerin vorgeworfenen Eingriffe in die pädagogische Arbeit
vermögen eine Gefährdung des Kindeswohls nicht zu begründen.
Die Antragsgegnerin hat in ihrem Bescheid zur Begründung ihres Vorwurfs aus der über 1600 Seiten
umfangreichen, die Einrichtung der Antragstellerin betreffenden Sachakte insgesamt vier Einzelfälle
herausgehoben, die belegen sollen, dass die Antragstellerin durch Eingriffe in die pädagogische Arbeit das
Wohl der bei ihr betreuten Kinder gefährdet hat. Dabei hat sich die Antragsgegnerin auf die Aussagen
ehemaliger Mitarbeiter der Antragstellerin gestützt. Aus diesen Vorwürfen, denen die Antragstellerin - soweit sie
durch die Antragsgegnerin damit konfrontiert wurde - substantiiert entgegengetreten ist, lässt sich eine
Gefährdung des Kindeswohls nicht (mehr) ableiten. Abgesehen davon, dass es sich hierbei um Einzelfälle
handelt, die z. T. schon länger zurückliegen (Bericht von Frau W. aus dem Jahr 2009 und von Frau B. über
Geschehnisse aus dem Jahr 2010) und der Wahrheitsgehalt der Vorwürfe im Widerspruchsverfahren aufgeklärt
werden müsste, könnte der Widerruf hierauf nur gestützt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen,
dass sich derartige Vorkommnisse wiederholen würden. Derartige Anhaltspunkte bestehen derzeit jedoch nicht.
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Zum einen hat die Antragstellerin mittlerweile ihr Büro aus der Einrichtung verlegt und ihre Anwesenheitszeiten
in der Einrichtung daher verringert. Zum anderen ist von der Antragstellerin auch ein neues pädagogisches
Konzept vorgelegt worden, aus dem sich ergibt, dass die pädagogischen Belange sämtlich in die Hände der
beschäftigten Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen gelegt werden (Gerichtsakte S. 178 ff.). Darüber hinaus
hat die seit November 2001 bei der Antragstellerin beschäftigte Fachkraft Frau I. schriftlich bestätigt, dass sich
die Antragstellerin nicht in die pädagogische Belange einmische, sondern dass sie – Frau I. - mit ihrer Kollegin
allein über pädagogische Fragen entscheide (Gerichtsakte S. 166, 167). Auch der schriftlichen Äußerung der
seit September 2012 bei der Antragstellerin beschäftigten Frau M. lässt sich nicht entnehmen, dass von Seiten
der Antragstellerin in pädagogische Belange eingegriffen wird (Gerichtsakte S. 169, 170).
Soweit die Antragsgegnerin meint, das Verhalten der Antragstellerin habe zu der hohen Personalfluktuation
geführt und begründe schon deshalb den Vorwurf der Kindeswohlgefährdung, ist ebenfalls im
Widerspruchsverfahren aufzuklären, ob hierdurch konkrete Gefährdungen für die betreuten Kinder eingetreten
sind und erneut auftreten können. Die Tatsache des häufigen Personalwechsels allein reicht nach den
Ausführungen unter a) für diese Annahme jedenfalls nicht aus.
c) Soweit sich die Antragsgegnerin auf eine mögliche gestörte Zusammenarbeit zwischen der Antragstellerin
und den Eltern der Kinder als Widerrufsgrund bezieht, liegt hierin ebenfalls keine Gefährdung des Kindeswohls
nach § 45 Abs. 7 Satz 1 SGB VIII. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Betreiberin einer
Kindertagesstätte, den dort beschäftigten pädagogischen Mitarbeitern und den Eltern ist sicher sinnvoll für die
betreuten Kinder und den Betrieb der Einrichtung. Dass Störungen in diesem Ablauf konkret dazu führen, dass
die Kinder in ihrem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl gefährdet sein könnten, ist dagegen nicht
ersichtlich.
d) Auch das Fehlen einer pädagogischen Leitungskraft führt nicht zu einem Widerrufsgrund. Selbst wenn für
den Betrieb der Antragstellerin eine pädagogische Leitungskraft erforderlich sein sollte, ist jedenfalls zum
jetzigen Zeitpunkt nicht erkennbar, dass ohne eine solche Kraft das Wohl der Kinder gefährdet sein könnte. Im
Übrigen wäre ein hierauf gestützter Widerruf auch unverhältnismäßig. Bevor der Antragstellerin die
Betriebserlaubnis nachträglich entzogen werden könnte, hätte die Antragsgegnerin als milderes Mittel der
Antragstellerin zunächst nachträglich gem. § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII eine entsprechende Auflage zu
erteilen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.